Wisst Ihr noch, damals? Als WM war und wir vor dem Fernseher unseren Schlafanzug mit der Würde eines Einwechselspielers trugen? Als der Fußball noch magisch war?
Angefangen hat alles auf dem Dach eines kleinen mexikanischen Hotels in der Retortenstadt Playa del Carmen an der Karibik. Ein halbstündiges Gespräch mit einer amerikanischen Fußballbegeisterten, die eigentlich in Mexiko geboren war. Sie hieß Jolanda und sah so aus wie Hope Solo, die amerikanische Torhüterin und hatte einen Freund mit Schnäuzer und Intellektuellensonnenbrille, der aber nie etwas sagte. Der Anfang vom Ende, die große Fußballdepression. Und dass es so jetzt nicht mehr weitergehen konnte.
„Und du bist für Deutschland?“, fragte ich Jolanda erstaunt. Eigentlich wollte ich mit ihr über Octavio Paz sprechen, über Literatur und Mexiko, aber dann waren wir irgendwie bei der Fußball-WM gelandet. „Und was ist mit dem Land, in dem du geboren ist? Interessiert dich das überhaupt nicht?“ Tatsächlich kannte sie noch nicht einmal einen einzigen mexikanischen Spieler. Dort, auf dem Dach eines kleinen Hotels am Stadtrand von Playa del Carmen, wo der Mega-Supermarkt war und es die besten Street Tacos zu kaufen gab, zeichnete sich das Ende (und der Untergang des 1. FC Köln) schon ab. Aber ich war noch nicht so weit, aufzugeben und der Schönheit des Spiels für immer zu entsagen.
„Aber hat Mexiko nicht auch ein religiöses Verhältnis zum Fußball?“, fragte ich. (Bei Octavio Paz stand nichts über Fußball, aber Das Labyrinth der Einsamkeit, in der es um die Verlorenheit der mexikanischen Seele ging, war zumindest ein guter Ausgangspunkt, um über Chicharito zu sprechen, der eine Weile mit immer größerer werdender Apathie beim Werksclub von Bayer Leverkusen gespielt hatte, als hätte ihn die bevorstehende Fusion von Monsanto und Bayer tieftraurig gestimmt.)
Die Schönheit ist müde geworden
„Die Deutschen“, sagte Jolanda, die in meinen Augen eigentlich Mexikanerin war, „spielen am schönsten. Ja, das kann man sagen.“ Sie schnalzte mit der Zunge und hob eine aufgeschnittene Melone hoch. Zu diesem Zeitpunkt stand ich noch im lauwarmen Wasser des Pools, der das einzig Spektakuläre am Hotel und so klein war, dass kaum mehr als zwei Leute in ihm schwimmen konnten. Jolanda saß am Beckenrand, ihr mexikanischer Freund döste auf der anderen Seite unter einem wüstenfarbenen Sonnschirm herum und hatte die Sonnenbrille auf die Stirn geschoben. Ich stand in Hockstellung, damit mich das Wasser vollständig bedeckte und meine Nacktheit nicht zu obszön wirkte.
„Der Fußball könnte dich mit Mexiko versöhnen“, erklärte ich. (Sie wusste noch nicht mal, dass Mexiko und Deutschland bei der WM gegeneinander spielen würden, kannte aber einen nicht unerheblichen Teil der deutschen Spieler mit Namen.)
„Ja, ok“, sagte ich. „Die Deutschen spielen mittlerweile ganz schön. Aber diese Schönheit … sie ist etwas müde geworden. Fast lustlos, könnte man sagen. Außerdem finde ich die meisten deutschen Spieler viel zu glatt und selbstgefällig.“ (Mit Ausnahme des mönchshaften und engelsgleichen Jonas Hector, der auch in fußballerischer Hinsicht bescheiden auftrat, bis auf ein wunderbar herausgedribbeltes Bundesliga-Tor damals in der Saison nach dem Aufstieg.)
Die Niederlage im überlebensnotwendigen Heimspiel
„Geht es nicht um Schönheit?“, fragte Jolanda und hob die aufgeschnittene Melone hoch, um neben sich in ihren Habseligkeiten nach einem Löffel zu suchen. Ich erklärte derweil, was ich an diesem Tag in Das Labyrinth der Einsamkeit gelesen hatte. Und dass Mexiko nicht einfach nur traurig, sondern auf komplizierte Weise traurig war. Ich erzählte ihr, dass ich einer wahnsinnigen Theorie auf der Spur sei und mich fragte, ob die jahrelange Fußballrezeption bei mir nicht zu einer gefährlichen Konditionierung geführt hatte und ob ich nicht wieder zu den guten alten Zeiten des „ironischen Nationalismus“ zurückkehren sollte, so wie ich es in Jean-Philippe Toussaints Fußball-Abschieds-Buch gelesen hatte. (In diesem Zusammenhang war Mario Götzes lethargische „Weißer-Brasilianer“-Attitüde der Ausdruck einer gewissen Selbstgenügsamkeit und Selbstgerechtigkeit. Überhaupt vielleicht sogar Ausdruck der Erstarrung angesichts des Niedergangs unserer Zivilisation.)
„Sorry, ich bin nicht so belesen … Ich spiele aber ab und zu auch mal selbst“, sagte Jolanda und löffelte ein großes Stück Melone aus dem grünen Halbrund. Sie hätte auch sagen können: Gesellschaftspolitische Interpretation des Fußballs, das ist ja wirklich zum Kotzen.
„Toll“, sagte ich und tänzelte vorsichtig unter Wasser. Es war etwas kalt. Ich stütze mich, obwohl ich Höhenangst hatte, mit dem rechten Arm am Poolrand ab, der Abbruchkante, dort, wo es vier Stockwerke tief nach unten ging. (Ich stand noch immer unter Schock, denn der FC hatte am Tag zuvor ein überlebensnotwendiges Heimspiel mit 2:3 verloren und ich überlegte, ob ich den nächsten Bundesligaspieltag nicht einfach ausfallen lassen sollte.)
„Ich würde auch gerne wieder selbst spielen“, sagte ich und betrachte eine rosige Abendwolke, die sich langsam vor die Sonne schob.
„Ich liebe Fußball“, sagte Jolanda. „Ja, sorry, es ist peinlich, dass ich so wenig Spielernamen kenne, aber ich schau einfach so zu. Ich kann mich wunderbar entspannen.“
„Kannst du das?“, fragte ich schwach und tätschelte höflich mit meiner freien rechten Hand übers Wasser, als sei sie eine Tischdecke, die man glattstreichen konnte. Ich wollte ihr das erklären. Meine Theorie, warum das mit dem Fußball nicht mehr so einfach ist. Warum die Schönheit getrübt und warum mir Mats Hummels wie der Pressesprecher eines börsennotierten Tech-Unternehmens vorkam und Jogi Löw wie der Erfinder einer schwäbischen Rhabarbersaftschorle, die er gerade gewinnbringend an einen Investor verscherbelt hat.
Die Enttäuschung überwinden
Schon als Kind hatte ich imaginäre Interviews geführt und versucht, meine Leistung bei meinen ausgedachten Spielen gegenüber den Journalisten zu rechtfertigen. „Schon klar, daran muss ich noch arbeiten. Das ist echt eine Schwäche von mir.“ Und als 12-Jähriger hatte ich mir selbst eine Verwarnung dafür ausgestellt, dass ich auf dem grünen Filzrasen meines Subbuteo-Tischfußballspiels als Spieler mit der Nummer 10 an der Strafraumkante ein Foulspiel simuliert hatte und zu Boden gegangen war. Und es war dieses Foulspiel, wegen dem ich mich am selben Abend schmerzverzerrt auf meiner im orange-grünen Würfelmuster gehaltenen Siebzigerjahre-Matratze vor den Augen Tausender Fußballfans in meinem Dachzimmerbett hin- und her gewälzt und auf die Ankunft der Sanitäter gewartet hatte. Bitte tragt mich weg, um Gottes Willen, ich halte es nicht mehr aus.
Jolanda stellte die aufgeschnittene Melone neben sich ab und lächelte mir zu.
„Ist dir kalt?“, fragte sie. Aber es war schon zu spät. Ihr Freund war aufgewacht und unter dem wüstenfarbenen Sonnenschirm hervorgekrochen. Er cremte langsam seinen enthaarten Oberkörper ein.
„Nein“, sagte ich. „Alles ok.“ Ich erklärte ihr jetzt noch einmal, dass Mexiko in meinen Augen ein Geheimfavorit sei und versuchte ihr in Erinnerung zu rufen, dass kaum ein Land auf eine so umständliche und so verschwenderisch schöne Weise Fußball spielen konnte wie Mexiko. Ich versuchte Konversation zu machen und meine Enttäuschung zu überwinden, dass sie, wie sie zugegeben hatte, vom 1. FC Köln noch nie etwas gehört hatte.
„Und was ist dein Verein?“, fragte ich.
„Ich hab‘ keinen … Als Land finde ich Deutschland wirklich ganz gut. Ansonsten bin ich natürlich für die USA. Sorry… Ich weiß, dass das blöd ist. Meine Familie kommt ja von hier.“ Sie erhob sich, griff nach der Melone und für einen Moment schien es, als wollte sie diese über mich und den Pool hinweg ins Landesinnere schießen. Wie Hope Solo, die mit einem weiten Abstoß in den gegnerischen Strafraum vorzudringen versucht. Ihr Freund sammelte mit spitzen Fingern die Handtücher zusammen. „Warte“, rief ich. „Warte doch noch einen Moment.“ Aber da liefen sie schon die Treppe herunter zu ihrem Zimmer. 2:3. Null Punkte. Hector und Horn zum Saisonende weg. Wahrscheinlich nach Dortmund verkauft. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, einen Spieltag auszusetzen und dann weiterzuschauen und durchzuhalten, und dann würde schon alles gut werden.
Das durchkommerzialisierte Fußballgeschäft
Jean-Philippe Toussaint erzählt in seinem Abschiedsbuch, wie er am Schluss sein eigenes Äquilibrium als Autor in Gefahr brachte, indem er an seinem geheiligten Schreibort in Korsika ein Abo bei beIN Sports Connect einkaufte, um die WM 2014 auf dem Computer zu sehen. Dann ging das Internet nicht mehr, der Strom fiel aus und er musste das Elfmeterschießen im Halbfinale zwischen Holland und Argentinien mit einem batteriebetriebenen Transistorradio hören.
„Aufsteigen Wir. Zweitausend-Vier“, sangen die FC Fans 1998 nach dem ersten Abstieg. Aber eine Vermischung der Ebenen, Vereinsmannschaft und Nationalmannschaft, das geht natürlich nicht. Aber an diesem Tag, nachdem ich aus dem Pool wieder herausgeklettert und auf einem Liegestuhl im Angesicht der untergehenden Sonne weiter in Octavio Paz Das Labyrinth der Einsamkeit gelesen hatte, erkannte ich, dass es mit diesem lustvollen rheinischen Masochismus nicht mehr weitergehen konnte. Dass es vorbei war.
Ich versuchte es Jolanda ein paar Tage später zu erklären. Ich hatte den ersten Bundesliga-Spieltag meines Lebens geschwänzt, ich wusste noch nicht mal, wie Fortuna Köln in der dritten Liga gespielt hatte. (Und dabei war das doch die unschuldige Liga, wo der Fußball noch irgendwie echt war, und Fortuna Köln war ein ganz und gar unschuldiger Verein.) Wir standen mit unseren Leihfahrrädern vor dem Hoteleingang, während Jolanda und ihr Freund in ihren Leihwagen stiegen.
„Weißt du, das ist es, was ich mich so ankotzt“, sagte ich ihr. Ich versuchte ihr zu erklären, warum man nicht Fußballweltmeisterschaft schauen und so tun kann, als sei das durchkommerzialisierte Fußballgeschäft gar nicht existent, als gäbe es Paris St. Germain, Manchester City und RB Leipzig nicht. Jolanda hörte einen Moment geduldig zu. Sie fand es vielleicht etwas bizarr. Ihr Freund, der sowieso nie etwas sagte, pulte zwischen den Zehen seines linken Fußes herum, den er auf den Hinterreifen des Leihwagens abgestellt hatte. Als sei er ein gelangweilter Sportler, der den ganzen Tag auf wunderbar apathische Weise mit der Funktionalität seines Körpers befasst war. Ich versuchte Jolanda zu erklären, dass Fußball zu schauen gar nicht, wie ich immer dachte, entspannend ist. Dass es gar nicht so magisch und erhaben ist, wie die Wasserschlacht in der Vorrunde 1978, als Deutschland im Spiel gegen Mexiko in grünen Auswärtstrikots gespielt hatte und ich vor dem grün leuchtenden Grundig-Fernseher bei der heimlich geschauten Liveübertragung fast erblindet war.
Konditionierung statt Entspannung
„Fußball ist eine Betäubungsmaschinerie“, erklärte ich. „Es wirkt sedierend. Und während wir Jahr für Jahr eine immer höhere Dosierung brauchen, merken wir gar nicht, wie im Hintergrund das System auf Hochtouren läuft. Das checken wir gar nicht.“
„Was für ein System denn?“, fragte Jolanda, während ihr Freund seine Flipflops abstreifte und seine Fußsohlen in Augenschein nahm.
„Unser System“, sagte ich. „Fußball ist doch das größte sozialdarwinistisches Open-Air-Training, das es jemals gegeben hat. Ich brauch dir ja nicht zu sagen, dass das alles Gladiatoren sind. Stellvertreterfiguren.“ Ich schob ärgerlich mein Rad einen halben Meter vor. Jolanda nickte höflich und schien nachzudenken, es spielte jetzt keine Rolle mehr, dass ich sie bei unserem halbstündigen Kennenlerngespräch auf dem Dach des Hotels in einer fast neoliberalen Forschheit dazu aufgefordert hatte, doch in ihr Geburtsland zu investieren, die allgemeine Goldgräberstimmung zu nutzen und auch ein Hotel mit Pool auf dem Dach zu bauen. Aber sie traue sich nicht. Sie sei nicht mutig genug, und ich redete dann abwechselnd wie ein Manager, Spielerberater und Therapeut auf sie ein.
„Widerlich“, sagte ich. „Man versucht, sich zu entspannen, sich an der Schönheit des Spiels zu berauschen, aber in Wirklichkeit laufen da Zurichtungen ab, Konditionierungen.“ Ich wollte noch weitere Ausführungen machen, wie der bizarre und atemlose Konkurrenzkampf des modernen Kapitalismus auf dem Fußballfeld auf pseudoreligiöse Weise im Spiel reinszeniert und in dem martialischen Wettkampf der Spieler und Vereine auf die Spitze getrieben wird, sodass der Fußballjunkie, der seinem eigenen Druck- und Stresskontexten zu entfliehen versucht, in den Augenblick der scheinbar maximalen Rehabilitation umso brutaler wieder aufgeladen und im neoliberalen Sinne reenergetisiert und remotiviert wird. Und schließlich gar nicht mehr genug davon bekommen kann, dabei zuzuschauen, wie andere im gnadenlosen Kampf entweder ruiniert oder auf wundersame Weise erhöht werden.
„Morgen macht Klopp den Ronaldo platt“
„Sorry, wir müssen mal an den Strand“, sagte Jolanda, während mich ihr Freund, der seine Flipflops rhythmisch aneinanderschlug, um sie vom Straßenstaub Playa del Carmens zu befreien, etwas dümmlich anlächelte.
„Ja, wir auch“, sagte ich und versuchte, mein unaufhaltsam vorrollendes Fahrrad zu stoppen, aber die meisten mexikanischen Fahrräder haben keine Handbremse.
Der FC würde absteigen. Und im darauffolgenden Jahr womöglich sogar aus der Zweiten Liga in die Dritte, wo er dann gegen den Lokalrivalen Fortuna spielen würde, es sei denn Fortuna würde noch aufsteigen, was ich aber dann in den nachfolgenden Wochen, weil ich mir jegliche Fußballberichterstattung untersagte, überhaupt gar nicht mehr überprüfen konnte. Ich bekam nur noch Bruchstücke mit, Dinge, die ich nicht übersehen konnte, weil sie irgendwo geradezu gewaltsam eingeblendet wurden: Tuchel geht zu Paris St. Germain. Köln weint. Nürnberg steigt auf. Favre geht nach Dortmund. Schmelzer tritt zurück. Es war unmöglich, sich komplett auszuklingen. In der S-Bahn sagte ein Bahnmitarbeiter mit einer Bierdose in der Hand, als ich nicht schnell genug weghören konnte, zu seinem Kumpel: „Morgen macht der Klopp den Ronaldo platt“, und da war klar, wer im Champions League Finale stand, obwohl ich es gar nicht wissen wollte.
„Wir schauen Fußball, um einen brutalen Konkurrenzkampf zu genießen“, sagte ich noch zu Jolanda. „Betrügereien, Täuschungen gut zu finden, herbeizusehnen.“ Allein, wie ich mich selbst im Bett 1978 auf so lächerliche Weise hin und her gewälzt hatte, als wäre ich verletzt, dabei wollte ich doch nur ausgewechselt und für mein (genialisches, aber auch) pomadiges Spiel bestraft werden. Gemaßregelt, zugerichtet und härter trainiert werden. Jolanda nickte. Ich winkte ihr kurz zu.
Dem Käfer die Beine ausreißen
Wir sahen uns nie mehr wieder, was schade war. Ich hatte das Gefühl, ich hatte mich noch gar nicht richtig verständlich gemacht. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich niemals gedacht, dass der Tag auf dem Dach des Pools im erkaltenden, abendlichen Chlorwasser, in das man mit sonnenöleingeschmierten Körper nicht hineinsteigen durfte, mein Leben so verändern würde. Statt 2:3, 0:10, 0:100. Null zu Nichts. „Fußball das ist doch totale Entsolidarisierung im Gewand eines verlogenen und nur vorgeschobenen Teamgeistes.“ Aber Jolanda hörte schon gar nicht mehr zu. Über Per Mertesacker las ich später noch, wie er vor jedem Spiel beinahe gekotzt hatte und wie wenig Spaß das alles gemacht hatte. Und auf einmal konnte ich auch Thomas Müller nicht mehr ertragen. Während ich beim Türken an der Ecke im Spätkauf, an einem Champions-League-Tag, eine halbe in Folie gepackte Melone kaufte, um zu Hause weiter in Do Androids Dream of Electric Sheep von Philipp K. Dick zu lesen und so zu tun, als gäbe es Fußball gar nicht mehr, beantwortete Thomas Müller im Radio irgendeine Frage. Thomas Müller, der der einzige war, bei dem man sich nie langweilte, sagte irgendetwas ziemlich Banales, und ich empfand auf einmal einen so großen Ekel, als sei er ein amerikanischer Supercoach, der mir von seiner neuen Work-Life-Balance vorschwärmte und mich zu weiteren Deep-Work-Sessions aufforderte, während seine Profifußballerakne in allen Farben des Frühlings aufblühte.
„Wir sehen uns in der Vorrunde wieder“, rief ich Jolanda zum Abschied zu. Vielleicht war es jetzt wirklich vorbei und ich würde auch die WM verpassen. Es war eben einfach zu Ende. Wie bei Philip K. Dick, wo ein Androide einem der letzten Käfer der Welt auf S. 228 die Käferbeine ausreißt, sodass die Wahrscheinlichkeit relativ gering ist, dass der Käfer jemals noch mal Fußball spielt und schon mal gar nicht so gewitzt und hinterfotzig wie Thomas Müller.
„Und geht diese ganze Fußballbegeisterung unter Intellektuellen nicht einher mit ihrer gleichzeitigen Entpolitisierung? Hast du daran schon mal gedacht?“, wollte ich Jolanda noch fragen. Philippe Toussaint wollte damit in seinem Buch nichts tun haben und tat so, als könnte er statt vom Fußball vom Schreiben erzählen. Als wäre das Fußballgeschäft für ihn ein richtiges „Glücksgeschäft“ und „die abstrakte und heilende Zeit des Fußballs“ für die Dauer der Fußballweltmeisterschaft „eine lange und schützende Liebkosung … wohltuend, beschützend, apotropäisch.“
Apotropäisch? Dabei waren wir doch schon im Sumpf der Regression versunken. Wir hatten uns in Kleinkinder verwandelt, die noch nicht mal mehr einen harmlosen Rückpass zu ihrem Torhüter hinbekamen. Mexiko gegen Deutschland. Damals hielt ich das Gesicht so nah an den Fernseher, dass die elektrischen Schwingungen zu zucken begannen und ich das Geschehen auf dem Rasen nur in Ausschnitten wahrnehmen konnte. Das „absolute Grün“ wie es Toussaint beschreibt, leuchtete und strahlte so stark, als könnte es mich bei lebendigem Leib verbrennen. (Ich trug meinen Kinderschlafanzug mit der Würde eines Einwechselspielers, der sich bis zur letzten Spielminute geduldig aufwärmte und hoffte, doch noch hereinzukommen. Wenigstens noch kurz in der Nachspielzeit, bevor alles zu Ende war und man noch nicht mal mehr eine Auflaufprämie kassierte.)
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