An der Bosporuspromenade sitzen Familien. Man angelt und grillt. Über Politik wird nicht gesprochen. Ich bin fremd in Istanbul und finde hier doch, was in Europa fehlt.
Ich bin in Istanbul, nun schon den achten Monat. Ich kenne verschiedene Jahreszeiten, kenne die Mimosen, Hortensien, den blühenden Judasbaum, reife Feigen auf dem Glasdach der Bushaltestelle, unreife Haselnüsse von der Schwarzmeerküste. Ich kenne sogar das Unkraut und ich weiß, wie der Staub riecht. Ich kenne den Winterwind und die feuchtheißen Stürme des Sommers. Vor kaltem Regen fliehe ich manchmal in ein Teehaus und die Männer fragen sich, was sie mit dieser Ausländerin anstellen sollten – ihr einen heißen Tee bringen, eine weiche Katze, einen Stuhl? Aus einem Tee werden drei und dann kommt manchmal ein Stück Sonne und die neuen Gesichter übernehmen das Bild einer ganzen Welt. Der eine hat vier Söhne, der andere baut in Smyrna, wieder ein anderer bewacht in der Nacht das holländische Konsulat.
Jetzt sitzen wieder vielköpfige Familien an der Bosporuspromenade auf mitgebrachten bunten Teppichen. Man angelt und grillt. Jungs springen ins Wasser, Väter und Großväter schauen zu. Vielleicht können sie gar nicht schwimmen. Die Mädchen sitzen bei ihren Müttern und Großmüttern. Einige fahren Rollschuh oder sehen sich YouTube-Videos auf ihrem Smartphone an. Andere verdienen sich ein paar Lira dazu und verkaufen Tee und Nescafé aus Thermoskannen.
Hinab in die Unterwelt
Es gibt Liebespaare, die sich bei der Hand halten. Es gibt Frauen, deren Schleier nur einen Augenblick erlaubt. Die Augen sind schön, denke ich, manchmal funkeln sie, manchmal sehen sie traurig aus. Aber was weiß ich schon, denke ich, wenn ich unter meinen großen Kopfhörern die Promenade entlang gehe. Eine halbe Stunde in die eine Richtung, eine halbe Stunde in die andere Richtung. Dann sitze ich auf einer Bank und sehe den Schiffen hinterher, der Delta, der Odessa, der Kiel und der riesigen Hongkong Express. Delfine folgen den Schiffen, sie retten Arion vor den Piraten. Wo ist die Kamera? Schick mir keine Delfinbilder mehr, bekomme ich als Nachricht. Im September werden die Delfine wie ich verschwunden sein.
Über Istanbul lässt sich viel schreiben, es gibt an jeder Ecke einen Anfang. Ich war in einem Hinterhof, man muss dort eine rostige Bodenklappe öffnen, man steigt vorbei an Müll und verwesenden Ratten viele Stufen in die Unterwelt hinab und steht unversehens in einer byzantinischen Zisterne. Ein paar Männer, die rund um die unscheinbare Klappe eben noch mit nichts als Tee und Zigaretten beschäftigt waren, haben sich uns angeschlossen. Sie staunen. Die Wasserversorgung sei hier immer schon ein Thema gewesen, sagt mein Freund Kenan, die Herren Forchheimer und Strzygowski hätten bereits um 1900 in Konstantinopel nach byzantinischen Wasserbehältern gesucht und darüber ein Buch geschrieben. Heute jedoch sei das Problem der Wasserversorgung durch den Präsidenten gelöst worden, das sei sein Verdienst, wenn auch es wohl sein einziger bleiben werde. Dann schweigt er über Politik. Das Schweigen ist ein lauter Ruf. Man spricht vom verhungerten Verstand. Man zuckt die Schultern. Alle wollen wieder an die Luft. Man schlägt sich die Köpfe blutig an den Resten der byzantinischen Säulentrommeln.
Im Osmanischen Reich hätten hier alle Söhne und Töchter der Wüsten und Berge vereint gelebt – friedlich, sagt Kenan. Zu diesem Frieden kann man unterschiedlicher Auffassung sein, sage ich. Kenan überhört das. Mit Atatürk kam das Türkentum, sagt er. Mustafa Kemals Porträt begegnet mir überall. Wo ich auch hinkomme, Atatürk ist schon da. Das wird sich ändern, sagt Kenan. Es ändert sich schon.
Ich nenne ihn Pasolini
Wir gehen tanzen. Auf Dächern, in der Hitze. Manchmal geht der Strom aus. Es ist dunkel und die Musik geht weiter. Man singt laut und falsch. Man schwitzt. Und plötzlich klebt der Schweiß des anderen an dir. Das ist gut. Und du denkst, auch der Mensch ist ein Wirbeltier.
Am frühen Morgen begegnen mir kleine Kinder in den Straßen, sie sprechen Arabisch und sie streunen herum. Was tun diese Kinder hier ganz allein und zu dieser Uhrzeit? Es sind syrische Kinder, bekomme ich zur Antwort, es gibt sie. Es gibt sie, wiederhole ich immer wieder im Kopf. Es gibt sie.
Ich gehe über die eine Brücke, über die zweite, über die dritte. Straßenhunde mit riesigen Köpfen, gut organisiert, gut informiert, begleiten mich. Besonders einer hat es mir angetan. Ich nenne ihn Pasolini. Sein Blick sagt, wir kennen uns schon lange. Auch hier wird geangelt. Ein innerer Auftrag, immer wieder tagein, tagaus diese Fische aus dem Wasser zu ziehen. Ich muss aufpassen, dass ich nicht auf eine Sardine trete, die zuckend, um ihr kleines Leben kämpfend auf dem Boden liegt.
Das fremde Kind ist mir ganz nah
Auf der Istiklal spielen drei Männer ein Lied. Es ist zu früh. Niemand hört ihnen zu. Sie spielen für sich. Sie weinen für sich. Es ist ein Lied aus Kurdistan. Es ist ein Lied aus Anatolien. Es ist ein Lied vom Balkan. Mein Geld wollen sie nicht. Sie spielen für sich. Sie singen vom Kranich. Kraniche bauen ihre Nester in den Bäumen, und brennt der Baum, verlassen die Kraniche den brennenden Baum nicht. Sie bleiben sitzen und verbrennen.
Ich bin spät dran. Das Durcheinander von Bussen und Bahnen macht mir Kopfschmerzen. Der Bus ist voll. Alle stehen. Ich sitze und eine junge Mutter setzt mir ihr Kind auf den Schoß. Sie tut es schweigend und selbstverständlich. Das fremde Kind ist mir ganz nah. Ich rieche den Morgen im Kindergarten im Haar des Kindes. Nein, das passiert mir in Deutschland nicht, denke ich. Niemand würde jemandem, weil der Bus voll ist, sein Kind anvertrauen. Vielleicht ist das das Problem Europas, denke ich. Die Mutter nimmt das Kind wieder von meinem Schoß. Sie müssen aussteigen. Schade, sage ich leise. Die Mutter lächelt. Ich glaube, die Farbe des Kopftuchs nennt man Mauve.
Meine Zeit ist fast um. Einige Tage habe ich noch. Das Licht ist hell. Die Luft ist salzig. Ich bin eine Fremde. Nichts kann ich sagen über die Stadt. Nur weg will ich nicht.
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