In größter Hitze drei Tage Musik auf den Ohren: Ist man nach dem Berliner Pop-Kultur-Festival noch derselbe Mensch? Notizen aus der Endlosschleife
Ich wache auf, ein Blick auf den Wecker: Es ist morgens um drei, und ich habe ein Fiepen im rechten Ohr, als hätte sich ein Schwarm Moskitos in meinem Gehörgang eingenistet; oder ist die amerikanische Techno-Produzentin Karen Gwyer eingezogen und legt gerade die extrem hochgepitchte Version eines ihrer Minimal-Tracks auf? Es ist nur mein Tinnitus, Andenken an das Pop-Kultur-Festival in Berlin. Wer sich drei Tage in Folge jeden Abend sieben Stunden lang mit Musik berauschen lässt, darf sich aber auch echt nicht wundern.
Auftritt Mark Ernestus‘ Ndagga Rhythm Force. Der große Techno-Impresario Ernestus steht selbst gar nicht auf der Bühne, aber das von ihm produzierte achtköpfige Mbalax-Ensemble aus Senegal spielt wunderbar ohne ihn. Fluide Polyrhythmik, die den mit Viervierteltakt und Humtata sozialisierten europäischen Durchschnittshörer ziemlich ratlos zurücklässt: Der Beat zerrt mächtig auf die Tanzfläche, aber wo zum Teufel ist die Eins? Ein Narr, wer darauf zu tanzen versuchte! Die meisten Besucher versuchen es denn auch erst gar nicht, ein paar junge Männer in der ersten Reihe stecken der gymnastisch-grazilen Vortänzerin Fatou Wore Mboup stattdessen ein paar Geldscheine zu – gerade so, als wären wir hier nicht bei einer von der Senatsverwaltung finanzierten Kulturveranstaltung, sondern … Die Sängerin Mbene Diatta Seck geht als Anstandsdame couragiert dazwischen und kassiert die Scheine. Ich habe das Gefühl, einer ziemlich vertrackten Familienaufstellung beizuwohnen, bei der die Sängerin den Part der Mutter einnimmt, während ihre vortanzende Tochter dem Publikum den Kopf verdreht und der Talking-Drum-Virtuose Modou Mbaye als ältester Sohn mit seiner sprechenden Trommel ständig dazwischenquatscht. Vorne links sitzt Papa und schlägt stoisch grinsend den Grundtakt, als ginge ihn das alles nichts an.
Für alle, die nicht dabei waren: Pop-Kultur ist so etwas wie eine Leistungsschau der avancierten Gegenwartsmusik, die in diesem Jahr zum zweiten Mal auf dem industrieromantisch verklinkerten Gelände der ehemaligen Schultheiss-Brauerei in Berlin-Prenzlauer Berg stattfindet. Wie Rock am Ring, nur ohne Rock (im Sinne von ’n‘ Roll) und ohne Ring (im Sinne von Nürburg), sondern mit etwa 100 Konzerten, Panels und Performances. Um sich eine Vorstellung vom Stilbewusstsein der Veranstaltung zu machen, muss man nur die Plakate anschauen, mit der sie beworben wird: Im vergangenen Jahr waren sie von flauschigem cat content bevölkert, dieses Jahr beherrschen Bergmotive die Szene, wobei das verwendete Bildmaterial entweder tatsächlich von verblichenen Fünfzigerjahre-Postkarten stammt oder aber erfolgreich durch den Vintage-Filter gejagt wurde. Da liegt dann ein sehr malerischer, frisch gewaschener Hütehund vor einer sehr malerischen Alpenkulisse und daneben steht: „Neneh Cherry“. Ob Madame Cherry das Plakat im Vorfeld gesehen und abgesegnet hat?
Noch mehr vertrackte Familiendynamik: Beim Auftritt von Neneh Cherry steht ihr Ehemann und Kreativpartner Cameron McVey als graue Eminenz hinten am Laptop, fährt die Tracks ab, oktaviert und harmonisiert Cherrys Gesang. Dagegen wäre prinzipiell nichts auszusetzen – wenn, ja, wenn Cherry sich nicht dauernd NACH IHM UMDREHEN WÜRDE, UM SYNCHRON MIT IHM ZU SINGEN. For fuck’s sake, sie ist Neneh Cherry! Sie muss sich nach keinem Mann umdrehen! Auch wenn Cherry keinerlei Ähnlichkeit mit der verflossenen amerikanischen Präsidentschaftsanwärterin hat, muss ich doch ständig an die zweite presidential debate von 2016 denken, als Hillary Clinton, ebenfalls einen alten weißen Mann im Rücken stehen hatte, der ihr lauwarm in den Nacken atmete. Vielleicht fällt mir die Szene auch deswegen so auf, weil die gesamte Geschlechterkonstellation auf der Bühne einem so merkwürdig antiquierten Klischee entspricht: Die drei Herren im Hintergrund stehen an Laptop und Synthesizer – die drei Damen auf der Vorderbühne spielen Vibrafon, Perkussion, Bass und ein altes Honky-Tonk-Klavier. Anders gesagt: Die Männer bedienen die Technik, die Frauen sind für die Natur zuständig. Als missing link steht immerhin eine elektrische Harfe auf dem Podium, die manuell bedient wird, aber hinlänglich artifiziell klingt, um eine klangliche Brücke zwischen den synthetisch-männlichen Sounds und der analogen Sphäre des Weiblichen zu schlagen. Dennoch: „This is a woman’s world“? Von wegen.
Man könnte die Plakatserie mit Bergimpressionen als hyperironische, post-post-postmoderne Brechung abtun oder als Verweigerung des Starkults, der solche Festivals sonst begleitet – aber der Blick auf die Alpen, auf diesen Inbegriff des Erhabenen, Weiten, Ungreifbaren, hat etwas Programmatisches: Hier sollen Horizonte eröffnet werden, Blicke in die Ferne, den Himmel der Möglichkeiten, aber auch in musikalische Nischen und Seitentäler, an denen man sonst auf der großen Datenautobahn unbesehen vorbeirauschen würde. „Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit“, unkten Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung, und wahrscheinlich hatten sie recht: Die Verwaltungssoftware meines Computers ordnet die schwer überschaubare Terabyte-Menge an Musik, die dort gespeichert ist, zu genrekonformen Genius-Mixes an. Wenn ich die Website eines allmächtigen Onlineversandhändlers aufrufe, empfiehlt sie mir ungefragt, die ersten drei Alben von Kendrick Lamar zu kaufen, weil ich das vierte dort bestellt habe und die ersten drei deshalb bestimmt ebenfalls mag. Und wenn ich das Portal eines beliebten Streamingdienstes öffne, will der mir einen gut gelaunten Sommermix unterjubeln, weil, nun ja, wer hätte es geahnt, gerade halt Sommer ist. Slave to the algorithm. Das Festival Pop-Kultur funktioniert demgegenüber dezidiert antialgorithmisch. Da fiedelt das niederländische Alma Quartett Versatzstücke von Franz Schubert, Ludwig van Beethoven und Samuel Barber. Eine Tür weiter lassen die Proto-Rapper The Last Poets den afroamerikanischen Agit-Pop der Sechziger wieder aufleben. Zwei Türen weiter paart die Sängerin Andrra kosovarisches Volksliedgut mit hypnotischen House-Beats, während zehn Meter unter der Erde, dort, wo früher das Bier gelagert wurde, die Techno-Produzentin Karen Gwyer ihre Beats hinstellt und behutsam auspackt, Raum für Raum, bis der Gewölbekeller zittert und das Sternum dazu. Das ist real existierender Aleatorismus. Ein Klangkaleidoskop, das sich zu keinem Mix rühren lässt.
Zurück zur Genderfrage: Von Ausnahmen abgesehen, ist dies ein Festival weiblicher Stimmgewalt und Musikalität. Die schwedische Organistin Anna von Hausswolff etwa ist überraschend zierlich, hat ihre aus hünenhaften schwedischen Waldschraten bestehende Doom-Rock-Combo aber unerbittlich im Griff. Von Hausswolffs Gesang erinnert an die mittlere Siouxsie Sioux auf Hustensaft, hat aber eine Treffsicherheit in höheren Lagen, für die Siouxsie ihre Kajalsammlung hergegeben hätte. Die in Hamburg lebende Avant-Popperin Sophia Kennedy bringt für ihre Sky-Blue-Cowgirl-Performance zwar einen mit Bandana maskierten Hip-Hopper namens Pokey auf die Bühne. Dessen Beitrag beschränkt sich aber darauf, den ganzen Abend nach Gangsta-Rap-Manier auf und ab zu tigern und kein einziges Wort zu sagen. Das Tollste am Auftritt des viel gelobten Deutschpop-Wiedergängers Drangsal und seiner gitarrenbewehrten Band schließlich ist die Gebärdendolmetscherin Laura Schwengber, die nicht nur die eher mittelmatten Texte („Magst du mich, oder magst du bloß noch dein altes Bild von mir?“) in Gesten übersetzt, sondern darüber hinaus jedes noch so cockrockige Gitarrensolo für die Gehörlosen mittanzt, inklusive Rückkopplung und weißem Rauschen. Ich verstehe keine Gebärdensprache, habe aber das Gefühl, dass Frau Schwengber ihre Übersetzung mit einer subtilen Prise Ironie würzt; nach zwei Songs stopfe ich mir Ohropax in den Gehörgang und schaue nur noch zu.
Dennoch: Am Ende des dritten Tages kann ich keine Musik mehr hören, weder physisch noch psychisch. Ich weiß nicht, ob es an meiner Erschöpfung liegt oder an der Hitze oder an der Programmierung, aber ich denke plötzlich: Das ist der Sommer der Psychedelik. Die großen Epiphanien, die ich im Vorjahr beim Festival hatte, erwartete ich diesmal vergeblich, ebenso die großen Narrative – an ihrer Stelle stand die Tendenz zur Wiederkehr, zur Endlosschleife, zur Perpetuierung der immer gleichen Akkordfolgen ad libitum, so weit die Saiten tragen. Vielleicht, so denke ich, verdankt sich diese Flucht ins Zyklische einer so weit verbreiteten wie verständlichen Zukunftsangst: der Einsicht, dass es von diesem historischen Wimpernschlag aus eigentlich nur noch bergab gehen kann. Die große Retromania ist passé, Utopien sind nicht in Sicht; im deutschen Bundestag sitzt eine Fraktion von Arschgeigen, und der never ending summer von 2018 dürfte noch dem Letzten außer Alexander Gauland klargemacht haben, dass der Klimawandel nicht mehr aufzuhalten ist. „Wenn die gegenwärtige Zeit immer gegenwärtig wäre und nicht in die Vergangenheit überginge“, meditierte einst der Heilige Augustinus, „wäre sie keine Zeit mehr, sondern Ewigkeit“. Spin the black circle: Wer sich musikalisch im Kreis dreht, der entzieht sich, zumindest vorübergehend, der Linearität der Zeit; der steckt die Zehen ins Wasser der ewigen Wiederkehr.
Am Ende des dritten Abends stehe ich lange in der All-Genders-Toilette der Kulturbrauerei und betrachte die automatischen Händetrockner, die gegenüber den Waschbecken an die Wand montiert sind. Der linke Trockner, so stelle ich fest, bläst seine Heißluft einen Halbton tiefer als der rechte. Ich halte die Hände abwechselnd unter den einen Luftstrahl, dann unter den anderen. Links, rechts. As, A. Und noch mal von vorn. Meine Hände sind längst trocken, rissig und heiß, aber ich könnte ewig so weitermachen.
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