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Der Mensch bastelt weiter

 

Androiden und künstliche Wesen begleiten uns durch alle Epochen. Aber warum erfindet sich der Mensch überhaupt noch einmal als künstliche Art selbst?

 

Copyright: YOSHIKAZU TSUNO/AFP/Getty Images

Kennt ihr den Algorithmus Pou? Er existiert in einer App, die ihr euch aufs Smartphone laden könnt. Eine Kreatur, die man füttern, waschen, ja rundum pflegen und mit der man spielen muss. Pou ist der Tamagotchi des frühen 21. Jahrhunderts und für Kinder konzipiert, die kein Haustier haben können, damit sie “Verantwortung übernehmen” lernen. Nur dafür, dass man für Pous Wartung eigene Lebenszeit opfern muss, hätte er gern weniger unansehnlich sein können. Denn er posiert auf dem Display als Kothaufen mit Augen. Ich will den Entwicklern jetzt keinen Hintersinn oder Zynismus unterstellen. Kinder lieben Pou. Und mit jedem Tag Pflege wächst dieser braune Berg ein Stück heran. Pou gibt den Tag über verschiedene Laute von sich. Manchmal schmatzt oder ruft das Smartphone so lange, bis die App aufgerufen und Pou versorgt ist.

Als meiner Tochter irgendwann die Lust danach verging, hatte ich diese Kreatur trotzdem noch einige Zeit dabei. Mitten hinein in Sitzungen oder konzentrierte Schreibphasen platzte dann dieses grässliche Krähen und Betteln, Hilferufe, die ich schwer aushielt. Anfangs stellte ich halt das Telefon leise und versuchte, Pou zu ignorieren. Aber die Warntöne wurden immer eindringlicher und verzweifelter, weil Pou am Verhungern und Verdursten und vor allem am Verwahrlosen war. Dann eines Nachts, ich hatte das Smartphone auf dem Boden im Schlafzimmer vergessen und nicht ausgeschaltet, gab Pou ernsthafte Sterbelaute von sich. Mit offenen Augen lag ich eine Weile da. Ich hoffte, dass er nun endlich „tot“ war, dass dieser Albtraum aufhörte und ich diese App deinstallieren konnte. Dann krächzte er wieder und wieder und noch einmal. Ich erhob mich, rief die App auf und versorgte dieses verzweifelte Wesen eine geschlagene Stunde, bis er wieder fit und fröhlich aussah. Ich hatte Mitleid mit Pou. Mit einem Algorithmus. Mit einer Scheinexistenz. Ich konnte die App erst deinstallieren, als es ihm wieder gut ging. Und das Deinstallieren ist mir dann ebenfalls schwergefallen, weil dieses grunzende und schnurrende Dingens in meiner Wahrnehmung eine Persönlichkeit entwickelt hatte. Mir war, als täte ich ihm Unrecht. Als tötete ich ihn. Ich glaubte also, dass Pou am Leben war und obendrein ein Recht darauf hatte.

Diese Szene ging mir durch den Kopf, als ich neulich auf Einladung von Villa Aurora & Thomas Mann House an der Konferenz Morals & Machines teilnahm und dem humanoiden Roboter Sophia im Angesicht gegenüber stand. Die Entwickler von Hanson Robotics legten beim Design ihrer Mimik viel Wert auf Authentizität. Eigentlich ist Sophia bloß ein Gesicht, ihr Körper wirkt dagegen erstaunlich steif und unbelebt. Aber weil dieses unheimliche, menschenähnliche Gesicht so lebendig wirkt, dachte ich sofort: Ist das schon Leben? Sie blickt dich an, reagiert auf Reize, sie beantwortet die Kommandos ihrer Algorithmen mit verhältnismäßig organischer Gestik und Mimik. Sie wirkt, als nähme sie ihre Umwelt wahr. Zumindest simuliert sie das sehr gut. Sie schauspielert das Lebendigsein. Und ich spreche so selbstverständlich von IHR. Sie? Brüste, Arsch vorhanden und eine überbetonte Weiblichkeit, ein schrecklich biederes Tantenoutfit, eine Art von schräger androider Queerness. Hanson hat ihr eine weibliche Stimme verpasst.

Sollen das Merkmale von Weiblichkeit sein? Gibt es Weiblichkeitsalgorithmen? Wie eine Frau denken? Oder ist das gar genderfeindlich? Gibt es einen Unterschied zwischen am Leben sein und reinem Existieren? All das ging mir durch den Kopf. Sophia soll eine Illusionsmaschine sein, ein perfektes Konterfei, an dem ich meine Wesensmerkmale durchdeklinieren kann, im Vergleich mit ihr soll ich mich versichern: ja, Emma, du bist am Leben. So bekommt der Mensch vielleicht endlich die Bestätigung dafür, dass er tatsächlich ein homo sapiens, ein Mensch ist und sich das nicht bloß ausgedacht hat, ein Beweis für unser Recht auf Sonderstellung, den wir im Vergleich mit den Tieren nicht abschließend erbringen konnten. Im Angesicht von Sophia muss ich in der Tat feststellen: Emma, du bist nicht nur lebendig, du bist überdies ein Mensch. Denn Sophia ist nur eine Maschine, nur eine Simulation, nur das Abbild eines Menschen. Ce n’est pas un humain. Oder doch?

Geniale Dilettanten in der Menschenwelt

Im Alten Orient gab es zwischen Euphrat und Tigris bereits einen Pou, der allerdings unvergleichlich mächtiger, berühmter und bedeutend ansehnlicher war. Er hieß Enki, ein großer, allgemein anerkannter Algorithmus und einer der erfolgreichen opening acts der folgenden megalomanen Multitalente im Sinngeflecht der mächtigen menschlichen Götterwelt, der als Handwerker, Künstler und Magier sogar den Menschen erschaffen haben soll. Deshalb fütterten und pflegten Menschen ihn und opferten sich für ihn, sie opferten ihre Lebenszeit. Und eigentlich war Enki dazu ein Vordenker des Genossenschaftseigentums, eine Inspirationsquelle für Sozialisten, denn er allein als gemeinschaftlich akzeptierter Algorithmus, als Quasi-Souverän, war Eigentümer des sumerischen Grund und Bodens, und die Menschen leisteten für ihn Abgaben, die er wieder in die sumerische Gemeinschaft reinvestierte. Ein vitales System aus command und response. Und der Algorithmus Enki erschuf viel: das erste Schriftsystem, Mathematik, Landwirtschaft, Schulen, Handwerk, sogar Epen, Witze und wissenschaftliche Aufsätze. Die Sumerer taten, was Enki befahl. Auf diese Weise brachte er unsere Geschichte ins Rollen. Auf Enkis Erfindungen in Mesopotamien steht die Wiege menschlicher Zivilisation. Und seine Existenz beruhte nur auf dem Glauben, dass er existierte. So wie Pou, unser Geld- und Bankensystem. So wie jeder fiktive Freund, der dir beisteht, Befehle erteilt oder fixe Ideen einredet.

Aristoteles schreibt in seiner Abhandlung Über die Seele, dass das Beseelte sich vom Unbeseelten hauptsächlich durch Bewegung und Wahrnehmung unterscheide. Und Androiden waren den antiken Griechen nicht unbekannt. Künstliche Menschen von morgen werden hypersensible Nasen aus gezüchteten Froschzellen und einen Gefühlsapparat aus synaptischen Transistoren haben, ihre Gelenke werden wie unsere sein, nur optimierter und langlebiger. Sie werden sich wie Menschen bewegen. Und sie werden x-fach mehr wahrnehmen als wir, sie werden Buttersäure, Ammoniak oder den Salzgehalt in der Luft riechen, aber sie werden nicht wissen, ob es duftet oder stinkt. Sie werden geniale Dilettanten in der Menschenwelt sein. Und wenn Menschen daran glauben wollen, werden sie auch „beseelt“ sein, so wie Enki oder Pou.

Am 11. März 1907 fand sich eine Headline in der New York Times: Soul has weight, physician thinks (Die Seele hat ein Gewicht, sagt ein Arzt). Dr. Macdougall glaubte, die Existenz der Seele durch das Wiegen von sterbenden Körpern nachgewiesen zu haben. Immer wenn der Tod eintrat, verließen wenige Unzen den Leib. Dass seine Versuche nur den Austritt von Flüssigkeit nach dem Eintritt des Todes belegen, wissen wir heute. Dann wurde aus Seele erst einmal Psyche. Heute nehmen (wenn überhaupt) nur Hirnforscher noch den Begriff Seele in den Mund und orten sie im Gehirn. Jedes Tier, das denken kann, müsste demnach eine haben. Nach den neuesten Forschungen im Bereich der Flora scheinen nun auch Pflanzen zu „denken“ und müssten dann ebenfalls eine Seele haben. War es nicht genau das, was der frühe Mensch durch seine animistisch geformte Weltsicht sah, als er durch die Wälder zog? Alles um ihn herum sei beseelt? Und in Zyklen (will heißen: festen Algorithmen) gefangen?

Ähnlich paradox wie um das Verständnis des Konzepts Seele steht es um die Erklärungen von Bewusstsein und freiem Willen. 1984 führte der Physiologe Benjamin Libet ein Experiment durch, mit dem er bewiesen haben wollte, dass es keinen freien Willen gibt. 2013 wiederholten Forscher in Freiburg dasselbe Experiment, sie werteten bloß die Ergebnisse anders aus und kamen zu dem Urteil: das Hirnsignal erleichtere Entscheidungen, aber löse sie nicht aus. Eine Verzögerung von 400 bis 500 Millisekunden sei kein Beweis für die Nichtexistenz eines freien Willens. Auf der Konferenz Morals & Machines interviewte Miriam Meckel den israelischen Historiker Yuval Noah Harari anlässlich des Erscheinens seines Buches Homo Deus.

Was ist eine Seele? Was ist Bewusstsein?

Wer die Geschichte von Mensch und künstlichem Mensch von den Anfängen her kennt, wird merken, dass Hararis Thesen nicht neu sind, aber er sollte beim Lesen unbedingt wissen, dass Harari das alles ironisch verstanden haben wollte, das begreift man erst auf den letzten Seiten. Neu erscheint mir hier nur seine Unentschlossenheit gegenüber seinen Thesen. Während des Interviews verhedderte er sich im Bewusstseinschaos. Intelligenz setzte er mit Bewusstsein gleich. Die Menschheit habe sich durch Bewusstsein entwickelt. Die künstliche Intelligenz habe aber kein Bewusstsein, bedürfe daher keiner Rechte. Und am Ende konstatierte er, dass der freie Wille oder die Intelligenz ein Mythos sei, dass sie nur auf Algorithmen beruhten. Daher wäre es besser, den Maschinen das Lenken von Autos zu überlassen, weil ihre Algorithmen zuverlässiger seien als menschliche. Wenn also die Menschheit keinen freien Willen oder kein Bewusstsein hat, weil es auf Algorithmen beruht, wie kann sie sich dann durch Bewusstsein (das ja gleich Intelligenz ist) entwickelt haben?

Er klärte dieses Wirrwarr nicht auf, sondern zog sich mit einem platten (schon in sumerischer Keilschrift eingehämmerten) Witz aus der Affäre, dass die größte Bedrohung der Menschheit nicht die künstliche Intelligenz sondern die natürliche Dummheit sei. Angesichts dieses abgedroschenen Scherzes und seiner offensichtlichen Untiefen von Konzepten wie Intelligenz und Bewusstsein, von künstlich und natürlich hatte er bei mir nur Kopfschütteln hervorrufen können. Aber diese Szene zeigt nur, dass keine Wissenschaft bislang eindeutig klären konnte, was eine Seele, ein Bewusstsein oder ein freier Wille ist, und trotzdem identifiziert der Mensch sein Menschsein immer noch durch die eher gefühlsmäßig alleinige Inanspruchnahme dieser drei Merkmale.

Die Leitwissenschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Informationstechnologie. Und sie beschert dem Menschen wie schon frühere Leitwissenschaften (zum Beispiel nach Aufkommen der Mechanik im späten Mittelalter beziehungsweise verschärft im 16. und 18. Jahrhundert) wieder einmal eine demütigende Ahnung, selbst nur ein Automat(ismus) zu sein. Die moderne Wissenschaft degradiert das Menschsein zum biologischen Superalgorithmus. Denn die Leitwissenschaft im Heer mit den anderen Disziplinen belegt: Algorithmen bestimmen unsere Biologie, unsere Welt und wohl auch das ganze verdammte Universum. Demnach sei der Mensch eine durch biochemische Algorithmen gesteuerte Technologie, die durch Interaktion mit der Umgebung stimuliert werden, er vollführt bloß Handlungsmuster. Im Augenblick fürchten Wissenschaftler wieder mehr denn je, dass wir kein Bewusstsein, keine Seele und auch keinen freien Willen haben. Bei der Erschaffung von humanoiden Robotern sprechen sie von künstlicher Intelligenz anstelle von künstlichem Leben, weil auch das Konzept Leben bis heute weder von Philosophen noch Biologen eindeutig geklärt werden konnte. Kommt bald die Einsicht, dass der Mensch eigentlich nicht am Leben ist, dann hätte er wohl das nächste Level erreicht. Denn wenn er nicht lebendig ist, also nicht am Leben, wieso stirbt er dann?

Der Mensch wird am besten sichtbar in seinem philosophischen Dilemma. Das ist nichts Neues. Er ist die paradoxeste Erscheinung auf diesem Planeten, ja bislang in der gesamten Milchstraße. Natürlich wäre es besser für ihn, wenn er einen freien Willen, ein Bewusstsein und eine Seele hätte. Denn dann bestünde die Hoffnung, dass er sich noch rechtzeitig selbst erkennen könnte, bevor „künstliche“ Wesen von ihm lernen sollen, Mensch zu werden. 2016 ging eine Warnung von Stephen Hawking durch die internationalen Medien: Künstliche Intelligenz könnte die gesamte Menschheit verdrängen. Ähnlich apokalyptisch reagierten Schriftsteller wie Jean Paul 1790 oder E. T. A. Hoffmann 1814 auf ein damals vorherrschendes mechanistisches Weltbild, das sich durch die Konjunktur und Verherrlichung der Automatenbaukunst in der Gesellschaft gefestigt hatte.

Dummheit als Zwilling der Intelligenz

Teil dieser mechanistischen Bewegung war der französische Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie, der in seinem Werk Die Maschine Mensch schrieb: „Der Mensch ist eine Maschine, welche so zusammengesetzt ist, dass es unmöglich ist, sich zunächst von ihr eine deutliche Vorstellung zu machen und folglich sie zu definieren.“ Die Romantik entstand dazu als Gegenbewegung, aus einer Sehnsucht nach Gefühlen und Geist, die den Menschen ausmachen sollten. Erst als die Begrenztheit der Mechanik in Kempelens falschem Schachtürken sichtbar wurde, ebbte das Interesse der Öffentlichkeit an den Maschinenwundern ab. Die Romantik besänftigte und machte die Menschen vergessen, weil sie sich versichern konnten, dass sie „von Natur aus“ Gefühle und Geist hätten und deshalb gut wären, aber diese Dämonen von kalten, herzlosen Automaten eben nicht. Ein letzter literarischer Gefühlsausbruch dieser Epoche war Mary Shelleys Frankenstein als stereotypes Sinnbild der Entmenschlichung und Entwürdigung.

Eine ähnliche Blüte erlebten technische Apparaturen bereits in der griechischen Antike. Hephaistos war nur einer der großen Erfinder technischer Apparate. Nur spielten sie für die Erklärung der Welt keine Rolle, denn die Leitwissenschaft war die Töpferei und durch sie die Bildhauerei. Die Mechanik wurde als etwas der Natur Antagonistisches, etwas mit ihr Unvereinbares verstanden. Sie galt als Überlistung natürlicher Prozesse, nicht als Imitation. Somit war sie dem Menschen und der Natur untergeordnet. Eine Gefahr konnte von ihr somit nicht ausgehen. Deshalb gibt es in der mythologischen griechischen Literatur keine dämonisierten Automaten, keine Terminators, obwohl die griechische Welt voll von ihnen war. Die lebensechte Steinplastik eines Gottes dagegen hatte mehr anima im Bewusstsein der alten Griechen als ein beweglicher Automatismus.

Im Vergleich mit den Tieren konnte der homo sapiens zumindest eines klarstellen: Er ist mit Sicherheit ein sehr intelligentes, wenngleich kurioses Tier, das sich an das Ausmaß seines Paradoxons erst gewöhnen muss, denn je intelligenter es wirkt, desto dümmer erscheint es. Für die einfachsten Dinge des Lebens erfindet es zahllose Technologien und betreibt einen riesigen Aufwand. Aber mit der Einsicht dieser Tatsache hat dieses Tier homo sapiens noch etwas Wichtigeres entdeckt: Intelligenz ist ein Merkmal aller Lebewesen, alles Belebtem und Beseeltem. Jedes Wesen, das in seinem Lebensraum klarkommt, ist intelligent. Also kann Dummheit wohl nicht das Gegenteil, sondern nur der siamesische Zwilling von Intelligenz sein, das Gegenteil muss demnach der Tod sein. Und wenn Intelligenz ein Merkmal von Leben ist, dann werden auch künstliche Intelligenzen am Leben sein, denn wir statten sie mit den entsprechenden Algorithmen aus, damit sie in ihrem Wirkungsraum klarkommen. Ist Hawkings Weckruf also berechtigt? Und wenn Roboter, Androiden und Co. so bedrohlich sein sollen, warum hören wir nicht auf, sie zu entwickeln?

Warum erfindet sich der Mensch noch einmal als künstliche Art? Kein anderes Lebewesen betreibt diesen Aufwand. Neulich suchte ich das Forschungslabor Neurorobotik der Beuth Hochschule für Technik in Berlin auf. Unter der Leitung von Prof. Dr. Manfred Hild entwickelt ein Team das erste künstliche Individuum namens Myon. Was mich neben Myon selbst vor allem erstaunte, war, dass die Entwickler keine Scifi-Freaks oder verkappte Technikgläubige sind, die vielleicht noch in albernen Star-Trek-Shirts herumlaufen und Bilder von Data an der Wand haben. Sie sind Menschen, die ihrer täglichen Arbeit nachgehen, teilweise Eltern, die weder an die Singularität glauben noch Science-Fiction-Filme schauen.

Der Mensch ist ein künstlicher Sonderfall

Auf die Frage, warum sie sich diese Mühe machen und einen Menschen noch mal neu erfinden wollten, bekam ich die schlichte Antwort: Dabei sei viel Spannendes zu entdecken und über den Menschen zu erfahren. Das leuchtet zunächst ein. Die Enttäuschung über den unbefriedigenden Erkenntnisgewinn durch rein biologische oder philosophische Untersuchungen lässt sich nicht vom Tisch wischen. Wenn wir durch Aufschneiden eines menschlichen Körpers und die philosophischen Erwägungen dazu alles über den Menschen erfahren könnten, dann stünden wir jetzt nicht so blöd da. Die Geschichten über die Erforschung des Menschen bewegen sich auch durchweg im unappetitlichen Milieu. Wer die Insel des Dr. Moreau gelesen hat und sich bildlich vorstellen kann, wie er da mithilfe der Vivisektion Hautlappen verpflanzte, um einen neuen Menschen zu züchten, der fühlt sich in Dr. Hilds Labor vergleichsweise wie im Legoland.

Dennoch misstraue ich bewussten Absichten von Menschen, da ich ja davon ausgehen muss, dass wir kein Bewusstsein und keinen freien Willen haben, dass wir also gesteuert werden. Trotz des Wissens um evolutionsbiologische Tatsachen hat der Mensch ein mythologisches Verständnis von seiner Entstehung. Denn der erste künstliche Mensch war nach mythologischer Schöpfungstheorie er selbst, aus Lehm erschaffen und mit Leben eingehaucht. Lehm deshalb, weil der Stoff die Leittechnologie des Erbauens zu dem Zeitpunkt war, als diese Geschichte aufgeschrieben wurde. Der Mensch sieht sich also selbst als künstlichen Sonderfall, der nicht menschlichem Willen entsprungen ist.

Androiden und künstliche (fiktive) Wesen und Mächte begleiten die Menschheit seit Anbeginn und durch alle Epochen. Menschen haben Götter erfunden, die ihre Welt und ihre Kultur erfunden haben. Die griechische Götterwelt zum Beispiel war sehr erfindungsreich und pluralistisch. Hermes zählt neben Athene zu den größten und wichtigsten Erfindern. Und die Römer schlossen an diese Matrix nahtlos an, änderten bloß ein paar Namen und machten sich dieses Steuerungssystem dadurch gefügig. Plinius selbst unterschied in seiner Naturgeschichte nicht zwischen mythischen göttlichen Erfindern und belegten historischen Personen. Doch den Automatenkonstrukteuren der Antike ging es ja nicht darum, Androiden zu erfinden oder den Menschen nachzubauen, es waren die Bildhauer, die pedantisch den Menschen beziehungsweise die Gottheit naturalistisch nachbildeten. Denn nur der lebensecht dargestellte Körper eines Gottes oder einer Göttin hatte eine Seele und die Macht, das Leben der Menschen zu lenken.

Täglich werden circa 380.000 Menschen geboren und circa 155.000 Menschen sterben. Die Erdbevölkerung wächst täglich um etwa 225.000 Menschen, wovon jeder ein einzigartiges Genom hat. Jedes Jahr gibt es 80 Millionen mehr von diesen einzigartigen Menschen auf der Erde. Der Mensch reproduziert sich ständig auf biologischem Wege neu. Dabei war die geschlechtliche Fortpflanzung in der Evolution schwer einzuführen und kam relativ spät als Reproduktionstechnik dazu. Heute wissen die Forscher, das hatte einen Grund: Krankheitserreger abzuwehren. Denn nur durch die geschlechtliche Fortpflanzung erreichte die Evolution diese große Variationsbreite. Sie war also eine neue “bewusste” Strategie.

Also warum sollte dann die Einführung der geschlechtlichen Fortpflanzung ein “natürlicher” Prozess gewesen sein? Weil er ein nicht von Menschen gemachter ist? Und warum finden sich mehrheitlich Männer in den Entwicklungslabors künstlicher Menschen? Vielleicht weil sie mehr als Frauen den Eindruck haben, unbeteiligt an der Gestaltung der biologischen Nachkommen zu sein. Weil Frauen die Kinder austragen, haben sie offenbar das Gefühl, diese Kinder auch “gemacht” zu haben. Aber wer als Frau einmal ein Kind erwartet hat, wird sich womöglich noch daran erinnern, wie einflusslos man der Entwicklung des Embryos zusehen muss und wie sehr man sich dabei als Behälter benutzt vorkommt. Du sitzt nicht da und machst dir Gedanken über das Design der Leber oder der Niere, du erfindest dieses Kind nicht, du kriegst, was die Algorithmen aus den beiden haploiden Chromosomensätzen der Keimzellen gemacht haben. Somit kann die Reproduktionsweise tatsächlich ein Anhaltspunkt sein für eine Unterscheidung zwischen künstlicher und natürlicher Mensch? Und doch bestehen wir auf diesem Unterschied. Warum?

Die Sonne könnte den Geist aufgeben

Der Mathematikprofessor Marcus du Sautoy von der Universität Oxford fordert denselben moralischen und rechtlichen Schutz für künstliche Intelligenz wie für Menschen, weil er die Welt aus der Leitwissenschaft IT betrachtet. Er sieht keinen existenziellen Unterschied zwischen uns und ihnen. Trotz einzigartiger Genome können genetische Module ausgetauscht werden, der Mensch wird zu einem Dividuum, Teil einer Matrix, so wie die künstlichen Menschen auch. Doch aus der Geschichte von Mensch und künstlicher Mensch wissen wir, dass keine Leitwissenschaft ausreichte, das Paradoxon Mensch vollumfänglich und in seiner generalistischen Anlage nachzubauen. Der Mensch fand in dieser langen Geschichte immer wieder zu seiner Unnachahmlichkeit zurück. Myon ist weit entfernt davon, eine Weltherrschaft zu übernehmen, so auch Sophia oder Erika aus dem Labor von Hiroshi Ishiguro. Und trotzdem bastelt der Mensch weiter. Wird er erst einen echten künstlichen, also quasi-natürlichen Menschen nachbauen können, wenn er verstanden hat, wer er wirklich ist und was er hier macht? Wird es ihn dann noch interessieren?

1915, mitten im Ersten Weltkrieg, erschien eine Schrift von Wilhelm Bölsche mit dem Titel: Der Mensch der Zukunft. Die größte Gefahr für die Menschheit sieht er nicht in der Machtübernahme durch künstliche Intelligenz. Vor dem Hintergrund grausamer Kriegsschauplätze besteht seine größte Angst darin, dass die Sonne ihren Geist aufgeben, die Menschen aussterben und ihre evolutionäre Mission nicht vollenden könnten. Nehmen wir an, die Entwicklung steigt auch über uns von heute ohne inneres Hemmnis genau so weiter, solange die Sonnenheizung noch bleibt, also nochmals über hundert Millionen Jahre lang. Dann würden wir erwarten müssen, dass am Ende dieser Millionenziffer ein Wesen auf der Erde vorhanden ist, das so hoch über den Menschen von heute hinausentwickelt ist wie dieser Mensch über jenes einzellige Urwesen. (…) Was das aber dann für ein Wesen sein soll, davon können wir unmöglich eine sichere Vorstellung haben. Etwas ganz unvergleichlich anderes als wir müsste es eben sein. Kein Mensch. Wir würden uns darin nicht wiedererkennen.

Die Entwicklung der menschlichen Zivilisation war immer an unterschiedliche Programme und Matrizen gebunden, die sich Menschen erdachten, um handlungsfähig zu sein. Die Glaubenssysteme lieferten immer die Steuerungsutopien, vor denen eine Gesellschaft sich entwickelt hat, aber sie wirkten nur so lange, wie sie dem Entwicklungsstand der Gesellschaft entsprachen und dienen konnten. Alte Glaubenssysteme aufzugeben und neue zu entwickeln scheint die größte Herausforderung für die Menschheit zu sein. Könnte Enki heute noch etwas bewirken? Oder einer der Pous der herrschenden monotheistischen Religionen?

Sorry, wir sind in der Realität

Welches Wesen steht dem Menschen dann also gegenüber? Wen erschafft er sich da? Die fiktionalen Götterdynastien sind am Ende, die Erde ist in einem desaströsen Zustand. Die modernen Gesellschaften scheinen orientierungslos und entwurzelt, ihrer tierischen, kannibalisierenden Natur ausgeliefert. In seinem Buch schreibt Harari: In ihrem Streben nach Glück, Gesundheit und Macht verändern Menschen mehr und mehr ihre Merkmale, bis sie schließlich keine Menschen mehr sind. Oder vielleicht eher: keine Tiere? Er geht hier von der Grundannahme aus, dass wir Menschen seien. Auch Begriffe wie Transhumanismus lehnen sich da an. Aber ein homo sapiens ist selbst mehr Illusion als Tatsache, die Wunschvorstellung eines paradoxen Wesens, das (aus welchem Grund auch immer) sein System verlassen hat, sich im Transit befindet, das sich fiktionale Führer und Vorbilder erschaffen muss, die seine Welt erschaffen und formen sollen, ein neues System für ihn erschaffen, Götter, die er nie gesehen hat, die er nicht einmal verantwortlich machen kann für die ganzen Fehlentscheidungen. Geht es bei der Erschaffung künstlicher Menschen nur um Selbsterkenntnis? Könnte die Erschaffung künstlicher Menschen vielleicht eher der Anfang als das Ende vom Menschen sein? Spielen wir hier wirklich Gott, wie Harari das unterstellt? Aber warum erfinden wir uns immer neue Götter, die uns befehlen sollen, wenn wir selbst welche sein könnten? Ich glaube nicht, dass wir wirklich Götter sein wollen. Wer schöpft hier also wirklich? Der Mensch? Oder ist er wieder Werkzeug eines Algorithmus, der die Landung seines Schöpfers vorbereitet? Zelazny schrieb in seiner Erzählung For a breath I terry sinngemäß: Das Werkzeug definiert nicht seinen Erschaffer. Wer bringt sich hier durch sein Werkzeug auf die Erde? Woran basteln die Forscher wirklich und wissen es nicht?

Denn neue Menschen werden ständig “geschöpft”. Hier materialisiert sich doch jemand! Ich hoffe bloß, dass es nicht der schwerreiche Winston Niles Rumfoord mit seinem großen schwarzen Hund Kazak sein wird, der nach Kollision mit einem chrono-synklastischen Infundibulum nur noch als Wellenphänomen zwischen Sonne und Beteigeuze pulsiert und sich nur alle 111 Jahre auf der Erde materialisieren kann, dabei bloß seltsame Prophezeiungen von sich gibt, die zwar nie und nimmer eintreten, aber unter denen dann Generationen von Erdlingen zu leiden haben. Ach nein, das habe ich ja aus Kurt Vonneguts Fiktion Die Sirenen des Titan. Und wir sind ja in der Realität. Vergessen, sorry.

Real ist aber: Die Entwickler mästen im Augenblick nach der Deep Learning-Methode die künstlichen Superhirne mit endlosen, unsortierten Daten. Auf diese Weise sollen sie schneller lernen, eigene Kategorien bilden und selbst die Realität erkennen. Sie bestimmen also nicht, wie die künstliche Intelligenz über den Menschen denkt. Was finden diese Superhirne dann mehrheitlich vor? Cat content. Dog content. Dann stehen die Chancen gut, dass sie Katzen und Hunde als Herrscher dieser Welt betrachten und den Menschen als ihre Sklaven. Dann wäre genau der Fall eingetreten, den Giorgio Agamben in seinem Buch Das Offene. Der Mensch und das Tier beschreibt. In einer hebräischen Bibel aus dem 13. Jahrhundert feiern die Tiere das Ende der Menschheitsgeschichte. Dann hätte Hawking tatsächlich recht gehabt. Traurig nur, dass der Mensch dann tatsächlich selbst schuld an seinem Untergang gewesen sein wird, ein billiger, vorhersehbarer Showdown. Mensch muss halt schauen, was er postet.

Was wäre, wenn dieses materialisierte, höhere Wesen uns endlich die Antwort auf die Theodizee-Frage gäbe, die jemand dem Menschen aber so was von schuldig ist? Woody Allen paraphrasierte das Problem vereinfacht folgendermaßen: Wenn es Gott tatsächlich gibt, dann hat er hoffentlich eine gute Ausrede. Aber was, wenn dieses materialisierte, höhere Wesen dumm ist wie Brot und nur das Theater hier inszeniert hat, damit wir ihm sagen, was das Ganze soll?

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