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Mehr als eine Legende

 

Madonna rebelliert gegen die Verhaltensauflagen für alternde Musiker. Auf keinem Album spürt man ihre Widersprüche so stark wie auf „Rebel Heart“.

© Jim Dyson/WireImage
© Jim Dyson/WireImage

Es gibt einen Grund, warum Madonna Miley Cyrus verehrt und Lady Gaga bei jeder sich bietenden Gelegenheit zum Abklatsch ihrer selbst degradiert – es geht dabei nicht um Konkurrenzangst, sondern um die Demarkationslinie zwischen der Unsterblichkeit popkultureller, teils geschmackloser Rebellion und gut verkäuflichem Schrott. Wenn Miley Cyrus auf einem Hot Dog durch ihr Publikum fliegt, hat das einen größeren künstlerischen Mehrwert als das Rilke-Tattoo auf Lady Gagas Innenarm – der Hot Dog ist eine Geste, die durch die Unwahrscheinlichkeit ihres Zustandekommens überzeugt, das Rilke-Tattoo nur dekoratives Imponiergehabe, das niemandem wehtut und in ein paar Jahren vergessen sein wird.

Gewagte These, zurück zu Madonna. Seit Samstag wird jetzt auch in Deutschland wieder ausgiebig feuilletonistisch durchleuchtet, unter was für Umständen sie zwei Jahre älter geworden ist – nach der MDNA-Tour 2013 ist am Freitag ihr neues Album erschienen. Es heißt Rebel Heart und die journalistischen Analysen der musikalischen Qualität sind auf mehrere gemeinsame Nenner zu bringen. Nimmt man ein Madonna-Album auseinander, tut man das seit zehn Jahren nach ein und demselben Muster:

Zuerst wird ein Wohlwollen gegenüber der Legende geheuchelt, dann folgt die Aufgliederung der neuen Songs, von denen ein Drittel als angemessen eingestuft wird, weil sie auf ihren Stil des tadellos produzierten Pops zugeschnitten sind und sich deswegen perfekt in ihre Historie einordnen – der Rest wird zum charakterlosen Berserkerpop herabgewürdigt, der nichts anderes ist als ein Beweis dafür, dass Madonna „gut daran täte, die Jagd nach ewiger Jugend endlich aufzugeben“. Es folgen Synonyme für „würdeloses Altern“, der Text endet mit der Schlussfolgerung, dass selbst der bestbezahlte Popstar der Welt aus Angst vor dem Tod zu einem Schatten seiner selbst werden kann. Was soll sie denn machen, fragt man sich da. Im Stil ausrangierter englischer Politiker auftreten, mehr Wert auf Stimmmaterial legen als auf die Performance? Statt Musikvideos nur schwarz-weiße one-takes drehen, in denen sie im Rollkragenpulli über eine Landstraße fährt?

Sie macht das Gegenteil, und das ist aus zwei Gründen interessant: Weil sie gegen die Verhaltensauflagen für erwachsen gewordene Musiker rebelliert und gleichzeitig Bilder in die Welt setzt, die es vorher nicht gab. Mit 56 die Mannigfaltigkeit des Begriffes bitch aufzuarbeiten oder sich von einer Horde jugendlicher Tänzer mit Stierhörnern umringen zu lassen, aus Gründen der Sexyness und gleichzeitig als religiöses Statement – das hat es in dieser Größenordnung noch nie gegeben. Eine Hybris, die alles in Grund und Boden stampft, das kann man gleichzeitig albern und fantastisch finden.

Beim Veröffentlichungsprozess von Rebel Heart verhält es sich ähnlich: Im Dezember wurden von einem Hacker fünf Songs geleakt, Madonna sprach in einem richtig eisigen Befehlston von künstlerischer Vergewaltigung und dem Tod der Kreativität durch Schnelllebigkeit. Danach gabs einen shitstormhaften Beschuss dafür, dass sie von Fans gebaute Collagen bekannter Zivilrechtskämpfer auf Instagram geteilt hat. Ungefähr zur selben Zeit erfuhren wir, dass sie auf der neuen Platte nicht nur mit Nicky Minaj, Nas, Diplo und Avicii kollaboriert, sondern auch mit Chance the Rapper und Mike Tyson. Tyson diskutiert daraufhin mit dem Rolling Stone über seine Vorbereitung auf den Cameoauftritt im Song Illuminati. „Wenn Madonna anruft und dich treffen will, dann gehst du da natürlich hin“ – keine weltbewegende Neuigkeit, es folgt eine Abhandlung darüber, wie er Inspiration aus Mussolinis „enigmatic stage presence“ zieht.

„Kein Wunder, dass Hitler von ihm begeistert war – der Typ ist eine hypnotische Figur, da steckt so viel Stolz hinter dem, was er sagt. Ich bin nicht mal Italiener, aber ich kann seinen Stolz fühlen. Er hatte den street swag – er machte diese ganzen Sachen mit seinen Händen und seinem Kopf, dabei gab es damals noch nicht mal Hip-Hop .“

Bei den Brit Awards soll ein Tänzer Madonna dann auf der Bühne einen Umhang vom Leib reißen, der ist aber zu fest zugeschnürt und sie fällt fünf Stufen rückwärts die Showtreppe runter auf den Hinterkopf, Schleudertrauma, Gehirnerschütterung, das Pro7-Magazin Red unterstellt ihr einen PR-Stunt, sie selbst sagt der New York Times, dass sie den Sturz nicht überlebt hätte, hätte sie nicht beim Reiten gelernt, wie man richtig vom Pferd fällt.

Es gibt ein Gedicht von Madonna, das sie in der Doku I’m going to tell you a secret in die Kamera liest –

I feel like god, I feel like shit, the contradiction of a reverse split„.

Bei der letzten Zeile bin ich nicht sicher, ob sie tatsächlich von ihr stammt, doch letztlich steckt in diesem Vers die Quintessenz von allem, was sie tut. Das Zelebrieren des Widerspruchs – in ihren täglichen Verrichtungen, in ihren Auftritten, in jedem ihrer Songs. Das spürt man bei keiner Platte so sehr wie bei Rebel Heart. Ihre Stimme kann gleichzeitig Spaß machen und nerven, da ist plötzlich ein Ton drin, der einen so verwirrt, dass man das Gefühl kriegt, sie singe irgendwie gegen den Rhythmus an.

Ghosttown ist ein wirklich rührender, total phlegmatischer Drogensong. Whiskey und LSD und Halleluja, in Heartbreakcity geht’s um Liebeskummer, Illuminati und Iconic muss man brachial laut im Auto hören, am besten, wenn man gerade auf den gefährlichsten Straßen der Welt unterwegs ist oder zumindest durch irgendein Gebirge fährt, immer wieder Stil-Hopping zwischen Strophe und Refrain, Reggae in Unapologetic Bitch und eine Sitar in Body Shop.

Am tollsten ist Veni Vidi Vici, da rappt sie mit NAS zusammen ein thematisches Medley aus Stationen ihrer Vergangenheit und das klingt gleichzeitig nach Holiday, human nature und total entspanntem Hip-Hop.

Man darf Madonna nicht danach bewerten, ob sie irgendetwas gerecht wird – man muss sie als das sehen, was sie ist: mehr als eine Legende. Denn dann macht es plötzlich Riesenspaß, ihre Musik anzuhören. Sie sagt: „I worked with so many great artists, from Basquiat to Michael Jackson to Tupac Shakur. I survived and they didn’t. How did I make it and they didn’t?“ Und darauf gibt dann wiederum Mike Tyson eine Spitzenantwort: „Because Madonna is trying to do something that since the beginning of time has been the most difficult thing to do: Save the world.“