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Berlin, du bist mein Ruin

 

Clowns und Hipster auf der Demo, Tocotronic im SO 36, Säufer und Liebende, die sich nicht voneinander lösen mögen. Ein Erlebnisbericht vom 1. Mai aus Kreuzberg

I. Der doofe Clown

Auf dem Mariannenplatz steht ein Metaclown namens Gregor Wollny. Er sieht aus wie der junge Helge Schneider ohne Bart, aber mit Turban. Er spielt kein Instrument, sagt kein Wort, und seine Kunststücke funktionieren nicht. Mit einer Handbewegung bittet er zwei Kinder auf die Bühne, lässt das eine einen Kescher halten, das andere einen Plastikreifen, deutet an, dass er eine Barbiepuppe mit einer Konfettikanone durch den Reifen ins Netz schießen werde. Immer wieder rückt er die Kinder in Position, und als er den Startschuss gibt, fällt die Puppe vor dem Reifen auf den Boden, und es regnet Konfetti. Wie um diesen Fauxpas wieder gutzumachen, bläst er schnell ein paar Luftballons auf, tut so, als würde er sie zu Tierfiguren zusammenfalten, lässt es dann aber doch sein und verschenkt die halbgeknickten Röhren ans Publikum. Am Schluss holt er ein Messer heraus, schaut auffordernd grimmig ins Rund, lässt einen Schein in einen Hut fallen – und die Kinder kommen nach vorn und werfen Münzen hinein. Wollny veralbert das Clownsein, er legt die Mechanismen offen, die billigen Tricks, die immer gleichen Rituale von Komik und Erstaunen, und zeigt, dass es auch beim Humor ums Geschäft geht. Als hinterher ein Vater neben mir seine Tochter entgegennimmt und sie fragt, ob es ihr gefallen habe, sagt sie: „Nee. Der Clown war doof.“

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II. Tanzt, ihr Nutten

Ich gehe weiter, dränge mich durch die Menge – 50.000 sollen es sein – an den Fast-Food-Ständen vorbei, vor der Apothekenbar stehen die Toiletten- und Bierschlangen direkt nebeneinander. An einem Balkon hängt ein Transparent mit der Aufschrift: „Kacken 2 Euro“. Vor jedem Haus werden Gerichte und Getränke angeboten. Zwei Typen vorm Hanf-Haus in Neonglitzerklamotten verkaufen Tequila aus einem Bauchladen. Mitten auf der Oranienstraße steht eine Selfie-Leiter – der Aufstieg kostet einen Euro. Alle wollen mit allem an den Menschenmassen auf dem Myfest verdienen, sogar mit Scheiße und Luft.

Am Spreewaldplatz versammeln sich Polizisten und Demonstranten. Einige Hipster mit Vollbärten und Wollmützen halten Schilder mit ironischen Botschaften hoch: Less Putin More Put Out und More Sun und Tanzt, ihr Nutten, der König hat Laune. Vor mir bringen sich ein paar Jugendliche in Position für den Schwarzen Block. Sie ziehen ihre Kampfgarderobe über – schwarze Regenjacken, Mützen, Sonnenbrillen und Quarzhandschuhe – und lesen sich noch einmal die Flyer mit dem Demo 1×1 durch: Telefonnummer des Ermittlungsausschusses auf Arm oder Hand notieren; bei Verhaftung Aussage verweigern, nichts unterschreiben, in kein Gespräch verwickeln lassen. Von einem Wagen ruft ein Mann herunter: „Hier beginnt in wenigen Minuten die Auftaktkundgebung der Revolutionären 1. Mai Demonstration 2015. Kommt her, stellt euch auf, wir wollen heute mit euch entschlossen, kollektiv und solidarisch auf die Straße gehen, für einen Bruch mit den herrschenden Verhältnissen, für eine Gesellschaft, in deren Zentrum die Bedürfnisse der Menschen und nicht die Profite des Kapitals stehen. Es lebe die Revolution.“ Einige Leute jubeln und klatschen, die anderen feiern, von den Bässen der umliegenden Bars in Schwingung versetzt, ungerührt weiter.

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III. Plündernde Omis

„Das profitorientierte Wirtschaftssystem ist unserer Meinung nach ursächlich für die meisten aktuellen Probleme auf der Welt, egal es um die Umstrukturierung in Kreuzberg und Neukölln, die Mietensteigerung geht oder um den Konflikt in der Ukraine, den Massenmord im Mittelmeer, wo mit militärischen Mitteln die Festung Europa ihren zusammengestohlen Reichtum verteidigt. Wir sind der Meinung, dass das wirtschaftliche System des Kapitalismus, das Armut, Krieg, Rassismus, Sexismus und Umweltzerstörung verursacht, nicht reformierbar ist, dass man es nicht durch eine Wahl abschaffen kann, dass es nicht reicht, einige, sozial gerechte Änderungen durchzuführen … Wir stehen für eine andere Gesellschaft …“

Dann erinnert der Sprecher an den Ursprung der Demonstration, an das Jahr 1987, als ein Stadtteilfest außer Kontrolle geriet, die Polizei über Nacht aus Kreuzberg vertrieben wurde und der Bolle-Supermarkt an der Manteuffel- Ecke Skalitzerstraße geplündert wurde. „Nicht nur Hausbesetzer, Autonome haben sich an dieser Auseinandersetzung beteiligt, selbst die Seniorenstifte am Bethaniendamm, die alten Omis sind nachts losgezogen, um sich bei Bolle einzudecken.“ Schließlich ruft er zu einer „konfrontativen, offensiven Antwort“ auf, zu Basiskämpfen, um die herrschende Klasse zu stürzen. Um 19 Uhr setzt sich der auf 18.000 Menschen angewachsene Zug durch die Ohlauer Straße, an der von Flüchtlingen besetzten und von Polizeiwagen abgeschirmten Gerhart-Hauptmann-Schule, in Bewegung.

IV. Spuckesprühendes Rückkopplungsraunen

Ich kehre zur Oranienstraße zurück, ins SO 36, wo Tocotronic ihr elftes Studioalbum vorstellen. Es hat keinen Titel, wird aber, weil es ganz in rot gehalten ist, inoffiziell Das rote Album genannt. Auf ihm, das war im Pre-Listening zu hören, sind überwiegend Liebeslieder versammelt, die mich in ihrer Instrumentierung mal an The Smiths, mal an Sufjan Stevens erinnern, mal sphärisch orchestriert, mal verspielt vorgetragen, Songs mit Versen wie „Ich öffne mich / öffne mich gänzlich / für dich / wir fliehen zu zweit / aus den Kerkern der Zeit“; „Du bist aus Zucker / du bist zart / du schmilzt dahin / du wirst nicht hart“; „Ich falle in den Schlaf / du hast mich ins Bett gebracht / und während ich noch spreche / hat sich mein Kopf davongemacht“ – weshalb in den ersten Kritiken gleich von Kitsch und Kulturverfall die Rede ist. Dabei haben Tocotronic immer schon Liebeslieder geschrieben, von Drüben auf dem Hügel (1995) über Jackpot (1999) Führe mich sanft (2002), Angel (2005), Wehrlos (2007) bis hin zu Ich will für dich nüchtern bleiben (2013).

Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal im SO 36 war, aber es ist eine seltsame Erfahrung, sich in einem engen, vollen, schlauchartigen Raum wohler zu fühlen als in einer vollen Straße. Man muss am Anfang nicht befürchten, in Kotze zu treten, und die Musik, die einem entgegenschallt, stammt von einer einzigen Band und nicht von fünf Gruppen gleichzeitig. Als Einstimmung kommt Prokofjews Romeo und Julia aus den Lautsprechern, dann betreten Arne Zank, Rick McPhail, Jan Müller und Dirk von Lowtzow die rot ausgeleuchtete Bühne und spielen den Prolog ihres Albums, in dem es heißt: „Liebe wird das Ereignis sein.“

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Keine Chöre, Geigen, Keyboardklänge. Tocotronic präsentieren ihre Musik nackt, in einer Art rauen College-Rock-Version mit wilden Gitarrensoli und Schlagzeuggewittern. Nach den ersten beiden Liedern reckt Dirk von Lowtzow die Faust in die Luft – eine Geste, die das Publikum willig wiederholt. „Dankeschön. Hallo, Berlin, hallo SO 36. Wir sind die Gruppe Tocotronic und wünschen euch einen schönen 1. Mai. Wir spielen jetzt ein Lied aus dem Jahre 1995. Es geht auf eine wahre Begebenheit zurück und handelt von Liebe“ – erst grölen die einen – „und Trunksucht“ – dann grölen die anderen. Und als die ersten Takte von Du bist ganz schön bedient anklingen, singen alle mit.

Volle Bierbecher fliegen über die Köpfe hinweg. Vor der Bühne wird gepogt, es sind vor allem Männer, die sich gegenseitig tanzend anrempeln, Männer, die ihre Schultern aneinander stoßen, Männer, die sich auf dem Rücken liegend vom Publikum tragen lassen, bis sie nach hinten durchgereicht werden. Rituale wie auf jedem Punkkonzert, Gesten, die Zitate sind. Tocotronic bieten ein Best-of ihres Œuvres. Es sind nicht nur Hymnen meiner Jugend, sondern auch meines Erwachsenenlebens, Songs, die von Generationserfahrungen und persönlichen Ereignissen erzählen und allesamt eine Haltung besitzen. „Das hier ist Liebe“, sagt Dirk von Lowtzow einmal mit ausgebreiteten Armen und fügt hinzu: „Keine Liebe jedoch für Staat und Nation. Aber hier leben, nein Danke.“ Ein andermal kündigt er einen Song mit den Worten an: „Berlin, Berlin, du bist mein Ruin.“ Und die ersten Zeilen klingen heute, angesichts der fortschreitenden Gentrifizierung, ganz anders als noch vor acht Jahren: „Mein Ruin, das ist zunächst / etwas, das gewachsen ist, / wie eine Welle, die mich trägt / und mich dann unter sich begräbt.“

Tocotronic spielen fast zwei Stunden und geben dreimal Zugaben, die jeweils in einem gewaltigen, flimmernden Rückkopplungsraunen gipfeln. Bei der letzten ist schon das Licht an, und aus den Lautsprechern kommt Musik, da stürmen die, die schon ihre Jacken aus der Garderobe geholt haben, wieder zurück zur Bühne. Die Nacht will kein Ende nehmen. Irgendwann verabschiedet sich die Band dann doch mit einer klaren Ansage: „Fuuuuuuck youuuuuuu, Fronteeeeeeeeex.“

Michael, ein alter Freund, dem ich ewig nicht begegnet bin, steht plötzlich neben mir und sagt: „Die habe ich in diesem Jahrhundert noch nicht gesehen.“ Christian, den ich auch schon seit zwanzig Jahren kenne, wendet sich mir zu: „Toll, dass sie so viele alte Sachen spielen. Und dann ohne diesen ganzen Popanz.“ Malte, der seine abgewetzte Trainingsjacke nicht mehr zukriegt, schreit mir spuckesprühend ins Ohr: „Das ist so geil! Wie im Luxor in Köln damals! Weißt du noch – 1996?“

Bei mir will sich jedoch kein Retrogefühl einstellen. Ich denke eher, Tocotronic sind ein Beispiel dafür, wie es auch sein kann, wenn man über vierzig ist und einen Beruf und eine Familie hat: dass man sich nicht notwendigerweise verbiegen muss und spießig wird und seinen dicken Bauch dreimal im Jahr in eine Konzerthalle trägt, um sich an der Nostalgie zu wärmen und sich zu beweisen, wie cool man geblieben ist, weil man immer noch Rockmusik hört. Dirk von Lowtzow und Co. wirken jünger als die meisten Gleichaltrigen im Publikum, und wer ihnen vorwirft, keine Punk-Songs mehr zu schreiben, deren Titel Parolen sein könnten, hat das Altern nicht verstanden. Es geht doch nicht darum, jung zu bleiben, sondern immer wieder neu jung zu sein, den jeweiligen Verhältnissen entsprechend, an der Gegenwart gemessen. Wer sich nur an früher erinnert und alles, was heute ist, daran misst, wird es in Zukunft schwer haben, weil die Vergangenheit nicht wiederkommt.

V. Menschliche Skulpturen

Als ich um Mitternacht wieder auf die Straße trete, sind die Bühnen draußen leer. Die Straßen haben sich gelichtet. Am Görlitzer Bahnhof fließen die Pissrinnsale bis auf den Mittelstreifen hinaus. Ein Mann rempelt einen anderen an, der rennt ihm nach, ruft, „Du Hund, du Opfer, hast du Angst?“, während ein Mannschaftswagen neben ihnen herfährt. Hinter mir, am Kottbusser Tor gibt es einen Knall, Polizeiwagen mit Blaulicht rasen an mir vorbei. Vor mir, auf dem Fußgängerstreifen unter der Hochbahn an der Skalitzer Straße, gibt es eine Schlägerei, ineinander verkeilte Männer wie bei einem Rugbyspiel. Aus ihrer Mitte, so kommt es mir vor, tritt die Wickelfrau. Wie immer hat sie bunte Tücher um ihren Leib geschlungen, aber anders als sonst trägt sie diesmal einen weißen Turban auf dem Kopf. Ungerührt geht sie über den Unrat – Flaschen und Scherben und Plastikbecher – hinweg. Und als wir auf gleicher Höhe sind, holt sie eine Schachtel Zigaretten heraus und zündet sich eine an. Rauchend spaziert sie, die ewig Rastlose, durch die Nacht. Am Lausitzer Platz stehen betrunkene Paare küssend und schwankend, ohne sich zu umarmen, voreinander. Lösten sich ihre Lippen, fielen sie um.

VI. Berlin Blues

Der Tag danach ist immer der schlimmste des ganzen Jahres. Der Stadtteilteil, der ehemalige Postzustellbezirk SO 36, ist wieder aufgeräumt: sauber, ruhig und fast menschenleer. Als hätte es diesen kulinarischen, alkoholischen, olfaktorischen, sexuellen und politischen Exzess nie gegeben. Ist dieser Tag nur mehr ein gesellschaftlich folgenloses Event, eine Art alternative Love Parade? Der Berliner Innensenator von der CDU spricht vom „friedlichsten 1. Mai seit 1987“. Auch wenn ich Gewalt ablehne und die Krawalle der Vergangenheit verurteile, klingt das wie ein Sieg für die falsche Seite, wie eine Bestätigung für die Politik, so weitermachen zu dürfen wie bisher. Flüchtlinge abschieben. Arme verdrängen. Kiffer kriminalisieren. Banken retten. Investoren hofieren. Das wäre tatsächlich der Ruin für Berlin.