Er kann nichts mehr sehen, nichts mehr riechen. Schmeckt nur noch Asche. Die Mutter unseres Kolumnisten liegt im Koma. Wie hält man diese Angst aus? Das Fax der Woche
Mutter fällt ins Zuckerkoma, Zuckerwert 600mg/dl, sie liegt auf der Intensivstation, Lebensgefahr, düstere Prognose. Mein Vater erlöscht, meine Schwester erlöscht, ich erlösche. Drohender Tod, tausend Stacheln im Fleisch. Vater lauert im Flur, die Schwestern scheuchen ihn, der Arzt ist Meister der Keimfreiheit, er bittet ihn, zu weichen. Vater bleibt. Die Frau im Koma stand ihm über ein halbes Jahrhundert zur Seite. Er sitzt in der harten Plastikschale. Die Schwestern und der Arzt beraten: Dieser Mann soll bleiben.
Ich bin weit weg, ich bin unterwegs, ich rufe Vater an, er sagt: Hoch lebe die Medizin, Gebete helfen, bete für ihre Gesundung. Meine Schwester wird zur Löwin in Berlin. Sie ermittelt Nummer und Durchwahl der Station, sie ruft mich an, sie ruft im Krankenhaus an und stellt auf Lautsprecher. Nach vielen Versuchen dringt sie endlich zum Arzt durch. Er spricht im breiten Dialekt der Bauern, guter Mann.
Er erzählt: In der ersten Stunde Lebenserhaltungskampf, der Wert ließ sich erst nicht senken. Wir tun das Menschenmögliche… Vater in der Plastikschale wacht die erste Nacht. Schwester bringt ihm Mutters Schmuck, er missversteht sie, er sackt zusammen, wird wieder belebt. Ich spreche mit dem Bankangestellten, erkläre: Morgen wird es für mich Manna regnen, doch heute brauche ich einen Kredit, alles unwichtig außer Mutters Rettung. Er willigt sofort ein, ein guter Mensch.
Ich spreche mit dem Taxifahrer an der Küste, er will eigentlich zum Begräbnis des treuen Freundes gehen, er wird es nicht tun, Komamutter geht vor. Meine Schwester fliegt mit Hündin zur Küste, wird vom Taxifahrer abgeholt, und nach stundenlanger Fahrt steigt sie am Krankenhaus aus, eilt zum Vater. Gott sei gelobt, ein Wunder, nach anderthalb Tagen ist sie aus dem Koma erwacht. Schwester schießt mit dem Mobiltelefon ein erstes Gruppenbild am Bett: bleiche magere Mutter, achtundfünfzig Kilo. Ich darf mit ihr sprechen, lallende Laute. Ich verstehe: Sohn, der Herr sei gepriesen. Ich springe in der Kieler Kammer auf, stürme durch die Räume, stürme durch die Straßen, Schlamm verspritzt auf meine Hosenbeine, Regenwasser verdampft auf meinem glühenden Leib, ich sehe nicht, ich rieche nichts, ich schmecke Asche.
Anruf im Regen, meine Schwester erzählt: Zwei kleine Hunde im Haus, der Hund meiner Mutter, kleiner schwarzer Teufel, hat überall Panik- und Protesthäufchen gemacht, sie wischt und feudelt, sie lockt die Hunde mit Hartkäsebrocken, die sie auf der Luft schnappen. An Schlaf ist nicht zu denken. Das Ultraschallergebnis: keine bleibenden Komaschäden, Leber und Niere sind heil. Vater harrt weiter aus, hält Nachtwache neben Mutters Bett, die mich am Telefon beruhigt: Sohn, die Ärzte und die Gebete haben geholfen, ich kämpfe, Diabetes ist Höllenseuche. Sorge dich nicht… Zerteilt, zerschmettert, zerfallen, das bin ich. Zergangen, zerfasert, zerkörnt, das bin ich.
Mutters Rettung ist die Hauptsache, ich lache im kalten Wind, ein falsches Lachen. Laufe zurück, setze mich an die Druckfahnen meines Romans, streiche Fehler an. Was tu ich hier? Ich tilge die kleinen Makel, es ärgern sich die Leser über zu viele Fehler. Anruf im Elternhaus, Mutter ist entlassen, ein Tag der Freude, wie weit bist du, Sohn, sagt Mutter.
Auf Seite sechshundertzweiundsiebzig, ich werde nicht nachlässig, Mutter. Zuckerwert fällt in der Nacht auf sechsundfünfzig, Vater wacht an ihrem Bett. Vater holt Brot und Hartkäse für die Hunde. Vater ist fast fünfundachtzig und rennt wie ein junger Mann. Er sagt: Sie ist meine beiden Arme, ihr Verlust bedeutet Herztod, aufgeben ist mir unmöglich. Bankangestellter winkt zweiten Kredit durch. Gute Menschen, überall. Kämpfende Frauen, überall. Ich bete, ich arbeite, dass mein Kopf fast zerbirst. Nachts schmilzt und tropft die Zimmerdecke auf mich herab. Am Tag verschwärzen die Schatten. Aber: Sie ist gerettet. Mutter lebt.
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