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Endstation Reiswaffelmutter

 

Wenn Kinder nicht mehr Sandy und Kevin, sondern Luise und Konrad heißen, muss die Welt noch lange nicht besser sein. Ein Tag auf dem Spielplatz.

Ein Tag auf dem Spielplatz
Adam Berry/Getty Images

Auf dem kleinen Spielplatz in der Hasenheide, einem Berliner Park zwischen Kreuzberg, Neukölln und dem Tempelhofer Feld, steht plötzlich, nachdem ich der Tochter Schwung gab, ein Junge vor mir und sagt: „Kannst du mich schaukeln?“ Ich nicke, hebe ihn auf die andere und gebe ihm Schwung. Er trägt ein türkisfarbenes T-Shirt mit dem Schriftzug „Meine Mutter ist schöner als deine“. Als er vorschaukelt, sehe ich auf der Rückseite das Wort „Wirklich“.

Vor Jahren, als ich mit meinem ersten Kind oft auf diesem Spielplatz war, gab es hier herumlümmelnde, biertrinkende, ketterauchende Mütter, die jederzeit bereit waren, bei der auch nur kleinsten Auseinandersetzung um eine Schippe, ein Sandförmchen, einen Fußabdruck Größe 23 auf einer frisch angelegten Sandstraße zwischen Eiche und Schaukel, das eigene Kind bis aufs Blut zu verteidigen. Sie hätten sich mit verbalem Müll, mit Bäumen beworfen, die Fäuste fliegen lassen. Sie haben sich lauthals über das Fernsehprogramm des Vorabends unterhalten, sie haben sich ausgetauscht über ihre bescheuerten Männer und haben darüber gelacht und sie hatten ein Lachen, mit dem man Nägel einschlagen konnte.

Die Kinder hießen Kevin, Jacqueline und Sandy, als würde es niemals aufhören, dass erwachsene Menschen ihre Sehnsüchte in die Vornamen ihrer Kinder verpacken. Ich war gern dort, ich mochte es. Ich hatte Begegnungen mit Müttern, die mich nicht fragten, wie alt mein Kind sei, auf welche Schule es gehe, und ob ich mir nicht Sorgen über den hohen Migrationsanteil mache. Ob das Bio-Eis bei Dings besser und gesünder sei als das Bio-Eis bei Dingsda. Und wie ich dazu stehe, wenn der Schülerladen plötzlich und ohne Vorankündigung von vegan auf vegetarisch umstelle.

Ich war froh, diese Gespräche, die ich auf den meisten anderen Spielplätzen hatte, nicht mehr zu führen. Ich hatte diesen kleinen Spielplatz entdeckt, auf dem das proletarische Berlin seinen Platz hatte und ihn lauthals verteidigte. Irgendwann kannte man sich, nickte sich zu, half sich mit Windeln aus, schimpfte über das miese Wetter, die viel zu heiße Sonne und dass das Wochenende noch fünf lange Tage entfernt sei. Hin und wieder kamen neue Eltern hinzu, deren Kinderwagen den Wert eines verlängerten Wochenendes in Madrid hatten. Sie fühlten sich wohl, schließlich war der Spielplatz auch nicht so überfüllt wie andere in der Umgebung, erstarrten jedoch, wenn eine der Mütter eine Anweisung quer über den Spielplatz polterte, und kamen nicht wieder. Der Spielplatz blieb, wie er war. Als ich einmal F. mitnahm, und wir eine Weile schweigend nebeneinander saßen und das Geschehen beobachteten, sagte er: „Ich hab ja Klassenbewusstsein, aber manchmal bin ich froh, dass ich kein Proll bin!“

Die Mütter, die ich so mochte, wo sind sie nur hin? Auch hier ist der Spielplatz nun von denen bevölkert, vor denen ich damals geflohen war. Menschen, die Sätze sagen könnten wie: Guten Tag, ich bin Koordinatorin, mein Mann Kommunikator und unser Kind bekommt seine Freiheit. Dauertelefonierende Erwachsene, die sich kleiden, als steckten sie in der finstersten Pubertät, die den Mist der achtziger Jahre wieder auftragen und ihren Kindern doch leicht antiquierte Namen wie Konrad, Anton, Luise und Charlotte gegeben haben oder einen, den man beim ersten Aussprechen nicht versteht. Man fragt nach, und diese lieben, veganen, zuckerfreien Kinder sind daran gewöhnt, ihren Namen mindestens zwei Mal sagen zu müssen, eh er verstanden wird, und sie tun es mit einem lieben, unterzuckerten Lächeln. Es ist niemand mehr da, der ein Bollwerk dagegen errichten, den Kampf aufnehmen könnte. Es fehlt die Frau, die quer über den Spielplatz brüllte: „MELISSA, MELISSAAAA, MUTTI MUSS PISSEN WIE’N ELCH UND JETZE ABMARSCH!“

Ich stand neulich unweit der Hasenheide in der Bergmannstraße und starrte auf den Spielplatz, der sich dort befindet. Bis vor Kurzem waren dort Spielgeräte, die aussahen, als hätte man die komplette Gemeinheit unserer Sterblichkeit in deren Entwicklung gesteckt. Ich betrachtete eines der neuen Geräte und verstand es nicht. Ich brauchte eine ganze Weile, um zu begreifen, dass dieses aus zahlreichen gebogenen Stahlrohren gefertigte Etwas ein Piratenschiff sein sollte.

Der Junge und die Tochter schaukeln noch immer. Die Tochter findet ihn ziemlich interessant. Zwei Frauen in meinem Alter kommen hinzu. Die mit dem weiten Ausschnitt sagt: „Komm bitte, Paul, Papa kommt heute nach Hause, bitte!“

Der Junge reagiert nicht, er schaukelt weiter. Die Tochter lächelt. Die Mutter, die eine Sonnenbrille im Haar zu stecken hat, wendet sich wieder ihrer schwangeren Freundin zu: „Pass auf, ich mache jetzt ganz schnell!“

Sie springt vor, an der Tochter vorbei, rupft Paul, der sofort in ein markerschütterndes Schreien ausbricht, von der Schaukel und wuchtet ihn, nachdem sie mit ihm auf dem Arm und Veronika im Gefolge, von der Schaukel zum Ausgang rannte, auf den Fahrradsitz. Paul bekommt eine Reisewaffel und ist still. Die beiden Frauen verabschieden sich mit Küsschen links, Küsschen rechts, und als die Schwangere schon fast um die Ecke ist, ruft Pauls Mutter: „Weißt du, Veronika, die Gucci, die hole ich mir jetzt doch!“