Wie schön sie singen, die Türken! Liebesballaden im Abenddämmer. Ziemlich blöd, wenn einem ausgerechnet dabei eine Gräte im Hals steckenbleibt. Das Fax der Woche
Die Türken sind schön, schön in der Arbeit, beim Überqueren der Straßen, beim Hupen, beim Schwitzen, bei der beiläufigen Verrichtung einer Arbeit, beim Beten und Fasten, beim Abschiedskuss, beim Abendgruß, beim Fastenbrechen, bei der Stille, die sich ausbreitet, wenn sie angefeindet werden. Beim Fluchen.
Die Türken sind schön, wenn sie von Bestimmungsorten sprechen. Wenn sie die heiße Suppe auslöffeln, wenn sie Brot in die Fleischbrühe tunken. Bin ich in Istanbul unter meinesgleichen? Es wäre eine Lüge, zu glauben, dass es so sei. Ich bin in der Fremde, unter schönen Türken, und ich lächle sie an. Es ist gut, unter jenen zu sein, die man für Bestien hält. Nur noch wenige Tage bis zum Abschied, bis zur Rückkehr.
Auf halbem Wege zum Mund bricht mir der Henkel der halbvollen Kaffeetasse. Kleine Aufregung im Frühstückssaal. Der Aufsichtsangestellte eilt herbei, beruhigt die dänischen, spanischen und russischen Damen an den Tischen. Er lobt meinen Überschwang, empfiehlt mir dämpfende Tabletten, von einem Missgeschick will er nichts wissen. Er sagt: Sie tragen Trauer, weshalb? Oder wollen Sie mit ihrem modischen Schwarz von ihrem Übermut ablenken? Sie sind schlecht verankert? Möchten Sie etabliert wirken? …
Seine Worte hallen nach, später beim ziellosen Bummeln durch die Gänge des Großen Basars. Ich kaufe einen gebogenen, mattschwarz lackierten Zimmermannsnagel fürs Handgelenk. Ich streife ihn bald ab: Nickelallergie, Hautausschlag, das Pickelband sieht aus wie ein Brandmahl. Soll ich den Händler würgen? Nein, ich dämpfe meinen Überschwang, ich frage den Wachschützer vor dem Hotel nach einem guten Lokal. Er telefoniert, er droht mit maximaler Unfreundlichkeit, falls man mich, den sonderbaren Hotelgast mit dem Sklavenschellenabdruck am rechten Handgelenk, rupfen sollte wie einen saudi-arabischen Touristen.
Ich gehe hangabwärts, Arbeiter mit schwer beladenen Sackkarren kommen mir entgegen. Vor dem Polizeirevier halten schwer bewaffnete Männer in Zivil Wache. Oben im zweiten Stock drücken im fahlen Neonlicht Männer das Gesicht gegen das Fenstergitter. Sie schauen den Touristen beim Essen zu. Kleine Ganoven, die auf ihre Vernehmung warten. Ein Mann ruft nach unten: Die Bäckchen, das leckerste Stück Fleisch am Fisch. Werft mir einen Fischkopf hoch, ich schnappe ihn mit zwei Fingern, ich lutsche die Bäckchen durch das Gitter! …
Zweistöckige Fischrestaurants am Springbrunnen. Kurdische Kellner, die fangfrische Dorados preisen. Zigeunermusiker, die sich an die Tische setzen und aufspielen. Schöne singende Türken im Viertel Kumkapi. Der Chefkellner geleitet mich zum Tisch an der Promenadengasse, er ist enttäuscht: Ich bin ohne Begleitung, ich entscheide mich für den billigsten Fisch, ich bin kein saudi-arabischer Prinz. Deutsche am Nebentisch, sie sind ruhig, höflich und entspannt. Meine Landsmänner und Landsfrauen, ich freue mich. Sie betrachten lächelnd die schönen Türken, die gut angezogen sind. Sie betrachten den alten Geiger, er hat die Violine auf den Schoß gelegt und ist im Sitzen eingeschlafen.
Es weht der leichte Wind die Klänge eines alten Liebeslieds, ich drehe mich um: Zwei Frauen, sie stoßen auf die Zigeuner an, auf den Zigeuner im blütenweißen Hemd, der die Ballade vom Liebenden im Abenddämmer singt. Ich ruiniere die Stimmung, weil mir eine Gräte im Hals stecken bleibt. Ich röchle die Gräte hoch, zwei Kinder erschrecken und fliehen zu ihren Müttern. Ich sage dem Chefkellner: Nein, das war kein übler Scherz, ich bin fast erstickt, richten Sie den beiden Müttern bitte meine besten Empfehlungen aus…
Er sagt, er werde das aus Gründen der Schicklichkeit unterlassen. Ich sauge die Bäckchen aus, die grimmigen Väter sind kurz davor, mich vom Stuhl zu prügeln. Ich bezahle die Rechnung, steige hechelnd den Hang hoch. Der Wachschützer möchte wissen, weshalb ich kleine Kinder erschrecke, der Chefkellner habe sich persönlich bei ihm beschwert. Ich beteure meine Unschuld. Mitten in der Nacht wecken mich fauchende Katzen.
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