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Wer Foul sagt, kriegt ’nen Spruch

 

Hört auf mit Fußball! Das wahre Glück im Leben heißt: Basketball. Keiner fiebert der EM so entgegen wie unser Autor. Wenn bloß die Sache mit seinem Fernseher nicht wäre.

Basketball: Wer Foul sagt, kriegt 'nen Spruch
© cinematic/Photocase ()

Gestern unseren Fernseher aus dem Fenster geschmissen wie Keith Richards. Das alte Röhrenteil, einen halben Meter tief, tonnenschweres Glas, trauriger Elektroschrott. Krach. Die letzten Jahre hatten wir nur ab und zu mal eine DVD auf der alten Kiste angesehen, aber empfangen hat das Teil schon lange nichts mehr, seit einem halben Jahr konnte man ihn nicht einmal mehr anschalten.

Also weg damit, dachten wir, und zwar in aller Würde. Nicht auf die Straße stellen und „Zu verschenken“-Zettel draufkleben, aber niemand will das Teil geschenkt haben und man läuft tagelang jeden Morgen daran vorbei, als kenne man den eigenen Fernseher nicht mehr, und bei jedem Vorbeigehen wird einem klarer, dass die Zeit vergeht, dass man älter wird und irgendwann im Regen steht. Irgendwann pinkelt einem ein Köter an die Scheibe, der alte Dackel Vergänglichkeit.

Ich hatte den Fernseher im Sommer 2006 gekauft, in einem Elektroladen in Leipzig, die Fußballweltmeisterschaft stand unmittelbar bevor. Wenn mich heute jemand fragen würde, was Glück ist, hätte ich diese wenigen Wochen im Kopf. Dieser Sommer war perfekt. Nach ein paar arbeitsamen und fernsehlosen Jahren studierte ich wieder, und zwar am Literaturinstitut Leipzig. Das hieß: Ich saß in Cafés, las den ganzen Tag Gedichte, palaverte darüber, schrieb meine Geschichten. Nachmittags rannte ich dann den Fluss entlang, Weiße Elster hieß der, und sah mir anschließend die Vorberichterstattung in meinem nagelneuen Fernseher an. Irgendwann haben wird die Kiste rausgetragen und unter der Kastanie im Hinterhof weitergeguckt. Das Ganze war ein kitschiges Gedicht, Fußball in der Abendsonne, nach dem Spiel das nächste Spiel und dann noch eins. Das Gerede dazu, das Gelächter. Das Bier war günstig, der Sport war groß, die Freiheit war umsonst.

Diesem Fernseher also einen würdigen Abgang verschaffen: mit Wumms. Wir haben das natürlich in aller Vorsicht gemacht, Rock ’n‘ Roll mit Sicherheitsvorkehrungen, Fenster auf, den Hinterhof gesperrt, die Fahrräder im Hinterhof zur Seite geräumt, Besen und Kehrblech bereitgestellt. Mit Kreide einen Kreis auf den Asphalt gemalt. Einen Ring. Drei, zwei, eins, los!

Später dann den Fenstersturz mehrmals hintereinander in Superzeitlupe angesehen, und eigentümlich ergriffen gewesen. Schließlich hat dieser Fernseher jahrelang große Sportmomente gesehen. Das 4:2 gegen Argentinien nach Elfmeterschießen. Aaaaah! Das Halbfinale gegen Italien. Schlimm!

Das klingt alles, als sei es ironisch gemeint, ist es aber nicht: Sport zu gucken, ist ein großes Glück. Etwas zu sehen, das im Kern ein Spiel ist und der Ernsthaftigkeit des Lebens enthoben. Was gleichzeitig mit vollem Ernst zu lieben ist oder zu hassen, zu bewundern und zu beschimpfen. Etwas so Ästhetisches und Hässliches, Kluges und Dämliches, etwas immens Wichtiges und gleichzeitig Bedeutungsfreies. Etwas in Zeitlupe ansehen. Etwas, das als große Metapher taugt. Eine Gleichnis des Lebens, Liebens, Sterbens. Ein Stellvertreterkrieg. Ein Ort für Fachwissen und Interesse. Für Naivität. Für Unbedarftheit. Für Jubel und Gebrüll. Ein paar Stunden Freiheit vom eigenen Lebenshickhack, von Schlagzeilen und Bitterkeiten, mit eigenen Schlagzeilen und Bitterkeiten. All das hat dieser Fernseher gesehen, ertragen, verschenkt. Und jetzt ist er tot.

Die Zeit vergeht, die Technik rast. Der Fernseher ist weg, und ich gucke Sport jetzt auf dem Tablet. 2006 war es auch nur Fußball. Ich sage „nur“, denn es geht noch viel besser. Fußball ist groß, keine Frage, und Fußball in Deutschland ist riesig. Wahrscheinlich handeln 90 Prozent aller in Deutschland geschriebenen Texte über Sport von Fußball, und 95 Prozent aller Sport-Sendezeit geht für Fußball drauf. Wer sich für etwas anderes interessiert, braucht keinen Fernseher, sondern Internet. Was auch ein Grund ist, weshalb ich meinen aus dem Fenster geworfen habe. Denn ich bin Basketballer.

Jetzt komme ich zum Punkt: Basketball ist das beste Spiel von allen. Basketball ist schnell, komplex, tief, roh, raffiniert, schön, athletisch, hart. Es hat etliche Ebenen und Bedeutungsschichten. Man kann Fan sein, emotional und laut. Man kann ein Basketballspiel technisch-analytisch betrachten, kulturwissenschaftlich, man kann es ästhetisieren, man kann es lesen wie ein Buch. Man kann es auseinanderpflücken, nacherzählen, wieder zusammensetzen. Basketball wird in Nord- und Südamerika gespielt, in Asien, Afrika, Australien, dem Nahen Osten. Es ist ein wahrhaft weltweites Spiel, schwarz-weiß-alles, die kulturellen Hallräume, finanziellen und politischen Bedeutungszusammenhänge sind enorm.

Jeder sieht Basketball anders: der Ex-Nationalspieler, die Spielermutter, der Ultra, der Fernsehkommentator, der Sponsor, der Theaterintendant, der Spielervermittler, der Popcornverkäufer, die Frau auf dem Balkon gegenüber. Basketball wird in dreckigen Hinterhöfen gespielt und in riesigen Arenen. Es ist ein offenes Spiel, Basketballer können sich immer auf eine Sache einigen: das Spiel selbst. Basketball ist ein knallhartes Spiel, Basketballer regeln ihre Dinge auf dem Platz. Angreifer sagt Foul, aber wer Foul sagt, kriegt ’nen Spruch. Oder: Verteidiger sagt Foul, also sagt niemand etwas, also spiel weiter, Alter! Oder: Foul ist, wenn der Schiri pfeift. Oder: Foul wäre, wenn der Schiri nicht korrupt wäre. Basketball ist ein heißblütiges und eiskaltes Spiel. Manchmal geht es um Geld, es geht um die Ehre, Respekt und Liebe, es geht um den perfekten Wurf.

Ich kann mir das stundenlang ansehen. Tagelang sogar, wenn ich nicht arbeiten müsste, die Kinder zur Kita bringen, einkaufen, ein Leben führen. Ich bin in Turnhallen aufgewachsen und habe über viele Jahre jeden Tag Basketball gespielt und über wenig anderes geredet. Wäre ich ein ausreichend guter Spieler gewesen, würde ich vielleicht heute noch in der Halle stehen.

Stattdessen bin ich Schriftsteller geworden, was ja erst mal okay ist. Basketball gucken und Basketball denken nimmt allerdings bis heute einen Großteil meiner Zeit ein. Abends sehe ich Bundesligaspiele, im Morgengrauen die Spiele der amerikanischen Profiliga NBA. Ich kenne Dirk Nowitzkis Statistiken auswendig und meine Tochter ist in der Saison 2010/2011 geboren. Wer zu viel Sport guckt, kommt nicht zum Arbeiten, also gucke ich Sport und schreibe darüber. Du spinnst, sagt meine Frau. Kompromiss, sage ich. Manchmal guckt sie mittlerweile sogar mit.

Ich erinnere mich viel zu gut an die Europameisterschaften von 1993, als die deutsche Nationalmannschaft mit Henning Harnisch, Mike Jackel, Stefan Baeck und Coach Svetislav Pešić in München den Titel gewann. Ich erinnere mich an Gunter Behnke! Wie die ganze Familie vor dem Fernseher sitzt, Lakritz und Malzbier, samt Onkel, Tante und Vetter Andreas. Wie wir aufspringen, als Kai Nürnberger zwei Verteidiger auf sich zieht und auf Christian Welp passt und der über die Russen stopft und dann den Freiwurf versenkt. 71:70. Wir saßen vor dem Fernseher, ach, ein Fernseher, lange ist das her.

Nun wird Basketball nur noch in Ausnahmefällen im Fernsehen gezeigt, und heute tritt ein Ausnahmefall ein: Heute beginnt die Vorrunde der Europameisterschaft in Berlin, nach 23 Jahren wieder ein wichtiges internationales Turnier in Deutschland. Mit dem großen Dirk Nowitzki, mit Dennis Schröder, Tibor Pleiß und Heiko Schaffartzik, mit Hoffnungen und Dringlichkeit und Druck. Ein paar Spielergenerationen haben von diesem Tag geträumt, ein paar Fangenerationen ebenfalls, und niemand hat mehr damit gerechnet. Und jedes Spiel mit deutscher Beteiligung wird in den Öffentlich-Rechtlichen übertragen, allerdings haben wir gestern den Fernseher aus dem Fenster geworfen. Also müssen Vetter Andreas und ich wohl oder übel in die Halle gehen. Großen Sport gucken.

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