Ein junger Mann lernt im Internet eine Frau kennen. Blind vor Liebe fährt er nach Beirut, um sie zu treffen. Die Begegnung eskaliert. Eine poetische Spurensuche
Als der junge Mann die deutsche Botschaft in Beirut schließlich erreichte, hatte er schon keine Sehnsucht mehr. Er empfand gar nichts mehr. Die Sehnsucht hatte sich in etwas verwandelt und noch immer rätseln wir darüber, was es sein könnte. Einfach nur Sehnsucht nach Beirut? Die glühende magische Anziehungskraft des Nahen Ostens?
Im Port View Hotel, in Gemmayze, dem angesagtesten Stadtteil Beiruts, da hatten sie keinen Namen für ihn. Außer dass der Hotelier wusste, er sei ein „Deutscher“. „Und ja“, erzählte der Hotelier, „ich hab ihm gesagt. Verlass das Hotel. Gib auf!“ Aber das ist das Tragische der deutschen Seele. Sie will nicht verstehen, nicht aufgeben. Lieber zerbricht sie den Traum, um ihn dann in den kleinen Bruchstücken weiter zu träumen, dabei ganz außer sich, geradezu entfesselt, auf die größtmögliche, wahnsinnigste Weise, die man sich nur vorstellen kann.
Der Hotelbesitzer hatte eine Schwäche für den jungen Mann. Er kümmerte sich um ihn, auch als er sich später in seinem eigenen Zimmer verbarrikadierte. Wir sprechen immer noch über ihn, wir machen uns Gedanken. L., der bei einer Modefirma in München arbeitet, aber früher auch in Beirut gelebt hat, glaubt, dass er auf „einer wundervollen Mission“ unterwegs gewesen ist. L. hat eine metaphysische Theorie über die heterosexuelle Liebe, obwohl er selbst schwul ist. Wir dagegen denken, es muss etwas anders gewesen sein, etwas Destruktives, Düsteres. Aber vielleicht war er insgeheim auch Idealist. Auf eine ähnliche Art Idealist, wie der junge Mann in William T. Vollmanns Afghanistan Picture Show oder wie ich versuchte, die Welt zu retten. Aber natürlich hat der junge Mann das Buch nie gelesen. Er war nicht in Beirut, um die Menschheit zu retten, sondern er hatte wahrscheinlich andere Ziele.
„Ich hab an seine Zimmertür geklopft, aber er wollte partout nicht aufmachen“, sagte der Hotelbesitzer des Port View Hotels, dem billigsten Hotel von Gemmayze. Die Zimmer haben Meerblick, den man sich allerdings mit dem Blick auf die „Electricite du Liban“, die libanesische Stromgesellschaft teilen muss. Und es ist als könnte man von hier förmlich sehen, warum immer der Strom ausfällt, als könnte man den Rätseln der Dunkelheit endlich auf die Spur kommen. Die Büroräume sind verlassen und so gut wie niemand traut sich in das Gebäude hinein. In dieser Dunkelheit lebte auch der junge Mann in den drei Tagen, die er im Port View Hotel eingecheckt war. Im Internet hatte er eine Frau kennengelernt, mutmaßlich eine junge Schiitin, vielleicht aber auch eine Christin. Gesehen hatten sie sich noch nie, trotzdem war der junge Mann entflammt. Er quartierte sich im Port View Hotel ein, verbrachte mehrere Tage mit seiner Geliebten in einem Zimmer mit Blick auf das Mysterium der libanesischen Stromversorgung und war vielleicht für Augenblicke sogar glücklich. „Sie war ja fast ständig bei ihm“, erzählte der Hotelbesitzer, „aber ich habe mir gedacht, das kann nur eine Katastrophe geben.“
Der junge Mann bei William T. Vollmann will unbedingt nach Afghanistan, um zu helfen, aber er scheitert schon bei den Bemühungen, sich der Bettler an der pakistanischen Grenze zu erwehren. Einer der Höhepunkte des Buches ist der Versuch, die komplizierten Bedürfnisse der Bettler systematisch zu erfassen und somit zu erkennen, dass der vierte Bettler, dem man etwas gibt, den fünften Bettler, der von einem etwas will, zu einem potenziellen Feind werden lässt, den man, obwohl man doch nur helfen will, eiskalt und geradezu brutal abweisen muss. Das ist mit unserem jungen Mann vielleicht auch passiert. Man kann die Einzelheiten des Elends, die der Hotelier am nächsten Morgen vor uns ausbreitete, gar nicht erfassen: Die Flucht des Mädchens auf den Balkon, die mysteriöse Unterhose, die Männer, die auf der gegenüberliegende Straßenseite aufgetaucht sind, und seine Geliebte, die ihn nach draußen gelockt hatte, damit er bestraft werden konnte.
Was hatte der junge Mann falsch gemacht? Hätte er mit ihr erst telefonieren sollen? Hätten sie sich besser an einem neutralen Ort treffen sollen? Aber was ist rauschhafter und schöner, als auf gut Glück in den Libanon zu fliegen? „Es ist wirklich besser, wenn du dich jetzt aus dem Staub machst“, sagte der wohlmeinende Hotelbesitzer zu ihm. Aber es gibt keinen richtigen Moment, um der Liebe zu entsagen, behauptet L., der sich selbst aber von diesem Ideal immer mehr zu entfernen scheint. Wenn er wenigstens in seinem Hotelzimmer geblieben wäre. Aber nein, er ließ sich auf offener Straße von den Brüdern, den Freunden und aufgebrachten Passanten zusammenschlagen. Sie nahmen ihm alles ab. Geld, Pass und vor allem den Glauben an die große Unschuld, die er hier gesucht haben mag.
Die Gewalt in diesem Land ist immer Teil einer gesellschaftlichen Erregung, sie hat immer einen Ursprung. Es ist unvorstellbar, dass in Beirut Männer auf den Kopf eines Mannes eintreten, nur weil er sie schief angeschaut hatte. Es gibt im Libanon keine sinnlose Gewalt. Eine solche rohe Gewalt kann es nur in Europa geben, wo der Staat unsere Angelegenheiten so verlässlich regelt, dass wir unsererseits in solchen Momenten zu Teufeln werden, damit wir unsere Freiheit für einen kurzen Moment spüren können.
Wir haben ihn schließlich am nächsten Morgen gesehen, als er in ein Taxi stieg, um zur deutschen Botschaft zu fahren und sich seine Identität zurückzuholen. Er war ein ausgesprochen hübscher Mann. Bleich, mager, beinahe etwas ätherisch, aber mit viel Energie. (Am Ende hatte er womöglich die Gefühle des Mädchens verletzt, war zu weit gegangen oder hatte die Familie gegen sich aufgebracht.) Für einen kurzen Moment sahen wir sein Gesicht. Es war das Gesicht, in dem die Hoffnung noch lebte, wenn auch in einem zaghaften Flüsterton. Aufgequollen, zerschmettert, er konnte kaum die Tür des Taxis öffnen, so stand er da. Sein Blick war eine einzige Anklage.
„Er hat den richtigen Moment verpasst“, sagte der Hotelbesitzer. Man kann hier nicht einfach so in die Welt hineinlieben und versuchen, jemanden glücklich zu machen, den man sich im Internet ausgesucht hat. Man darf nicht glauben, dass das hier der Wilde Westen für das Gefühlsleben ist. Hier ist die vermeintliche Freiheit und Abwesenheit des Staats die eigentliche Bedrohung, und deswegen achten die Menschen auch viel mehr aufeinander, sind aufmerksamer, nehmen mehr Anteil aneinander. So wie wir jetzt auch bei L. fürchten, dass er uns in Deutschland ganz verloren geht und nichts mehr von seinem heiteren unschuldigen Wesen übrig bleibt, dass ihn in Beirut noch so strahlend erschienen ließ. (Wir fürchten, er könnte ein ähnliches Schicksal erleidet wie der junge Mann. Aber das würden wir ihm natürlich nie sagen.)
Wie er da stand, das Gesicht hell und entzündet, mit einem düsteren, entschlossenen Blick. Wie ein Adler, der aus großer Höhe über seiner verloren gegangenen Seele kreist. „Zur deutschen Botschaft“, hörten wir jemanden auf Englisch zum Taxifahrer sagen. Er konnte noch nicht mal mehr sprechen. Jetzt ist er in unserer Erinnerung auf einem endlosen bis heute anhaltenden Heimweg, sozusagen in einer Fluchtbewegung rückwärts. Er kommt jeden Moment an, steht jeden Moment vor uns, am Bahnhof in München, am Flughafen in Schönefeld.
Achtung, könnte man rufen, dieser Mann ist mit Vorsicht zu genießen. Er hat eine schmerzvolle Erfahrung gemacht, und wer weiß, in welche Richtung er sich jetzt entwickeln wird. Das Überbrückungsgeld der deutschen Botschaft dürfte kaum für einen Koffer oder eine Tasche gereicht haben. Er wird nur das bei sich führen, was er am Leib trägt. Das graublaue T-Shirt und die weite wüstenfarbene Hose mit den ausgebeulten Seitentaschen. Und diese graublauen Augen, als hätte er zu viel T.S. Eliot gelesen. („Ich werde dir Angst in einer Handvoll Staub zeigen.“)
Diese Angst hat den jungen Mann auf den Weg gebracht, und sie ist es auch, die ihn jetzt wieder zurückkehren und heim kommen lässt. (So ein Unsinn, haben wir zu L. gesagt, zu glauben, dass es sich dabei um „die Liebe“ handelt.) Er hätte besser dableiben und einfach weitermachen sollen. Ohne Pass, ohne Identität, ohne die kalte Schönheit seines zarten Gesichts. „Aber da war jeder Rat vergebens“, sagte der Hotelbesitzer noch.
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