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Der Syrer isst ja noch nicht mal Gurkensalat

 

Die Ängste des besorgten Bürgers soll man auch mal ernst nehmen. Man muss ja nicht gleich eine Mauer errichten. Aber man wird doch wohl mal drüber sprechen dürfen.

Heute, lieber Bürger, nehmen wir Sie wirklich ernst. Ehrlich. Wir nehmen Sie ernst. Mit all Ihren Nöten, Ihren Bedenken, Ihren Panikattacken, Ihrem Hass und Ihrem Abscheu gegenüber Aliens. Wir hören Ihnen zu. Nehmen Sie Platz, bitte. Sitzen Sie bequem? Möchten Sie ein Glas Wasser? Einen deutschen Wodka? Kaffee? Ein Glas Rotkäppchensekt?

Wie Sie wünschen. Sie sind unser Gast. Selbstverständlich sind Sie unser Gast. Wir befinden uns in unserem eigenen Land, es ist Ihr Land, Sie sind das Volk, Sie sind hier zu Hause, verzeihen Sie, wir wollten nicht herablassend klingen. Sie sind kein Gast im herkömmlichen Sinn, Sie sind der Eigentümer, Ihnen gehört dieser Raum, diese Gegend, das gesamte Gebiet bis rauf nach Flensburg und runter nach Rosenheim. Alles in Ordnung? Strecken Sie die Beine von sich. Erzählen Sie. Wir hören zu.

Sie haben Angst, wir spüren das. Diese Angst ist grauenhaft, wir respektieren, dass Sie Angst empfinden. Mit Angst scherzt man nicht. Das weiß jede Mutter, jeder Vater, ein Kind darf man nicht willkürlich in Angst und Schrecken versetzen, das rächt sich womöglich später. Wenn das Kind erwachsen ist und seine atavistische Kindheitsangst noch immer in sich trägt, unbewältigt. Nicht gut. Kann zu schweren Krankheiten führen, auch im Kopf. Deswegen sitzen wir hier: Damit etwas passiert mit Ihrer Angst, etwas Positives, etwas für Sie Befreiendes. Nicht wahr?

Was macht Ihnen Angst? Der Fremde. Wie gut wir das verstehen. Warum wir das so gut verstehen? Weil wir, als wir herkamen, selber Fremde waren, absolut fremd fühlten wir uns, ein starkes, ein unheimliches, ein bedrohliches Gefühl. Wir kamen aus dem Süden, nachdem alle Mauern, die uns Sicherheit und ein klares Weltbild vermittelt hatten, in sich zusammengebrochen waren. Wahnsinn war das. Damit hatten wir nicht gerechnet. Wer wüsste das besser als Sie? Erinnern Sie sich? Plötzlich Fremdheit, wohin man schaute. Im ersten Moment prügelten wir auf alles ein, was uns nicht vertraut war. Was hätten wir tun sollen? Tief im Innern spürten wir eine Bedrohung, der wir nicht gewachsen waren. War’s nicht so?

© JENS SCHLUETER/AFP/Getty Images
© JENS SCHLUETER/AFP/Getty Images

Genau so war es. Sprechen Sie weiter, wir hören Ihnen zu, wir wissen genau, was Sie meinen. Heute ist der Tag, an dem die Lügen zerbröckeln wie damals die Mauern. Lassen Sie uns einen Augenblick innehalten. In Erinnerung an jene Tage und Wochen. An die Zeit jener monströsen Irrungen und Wirrungen. Schlimme Zeit. Schier unerträglich. Wie anders hätten wir reagieren sollen außer mit entschiedener Notwehr? Hätten wir nicht als Erste zugeschlagen, wer weiß, was passiert wäre? Wissen Sie’s? Niemand weiß das. Wir wären das Opfer gewesen. Etwa nicht?

Und heute? Ihre Angst ist mit Händen zu greifen, und niemand steht Ihnen zur Seite. Die Zeitungen schreiben, Ihre Angst sei nur Einbildung. Lüge! Angst ist niemals Einbildung, das spürt schon jedes Baby, Angst ist immer wirklich, immer echt, immer Teil unserer Persönlichkeit, und zwar ein dunkler, beklemmender, schmerzhafter Teil.

Weiter, wir hören Ihnen zu, wir nehmen Sie ernst. Sie leiden. Syrer auf den Straßen, junge Männer, männliche Jugendliche, verschleierte Frauen in goldbestickten Kleidern, laut schreiende Kinder mit nagelneuen Smartphones. Früher waren es die Vietnamesen, heute sind es die Syrer und Iraker und Afghanen und Leute, von denen wir nicht wissen wollen, wo sie herkommen, weil sie nicht hierher gehören. Wer geriete vor solchen geradezu Außerirdischen nicht in Panik? Sie werden unsere Frauen überfallen, sie werden Schulbusse fahren und unsere lieben Kleinen belästigen und zu einem bösen Glauben umerziehen, zum Unglauben, zum Terror. Erwarten Sie etwas Anderes?

Was Sie nicht schlafen lässt, ist das Grauen, aus dem eigenen Zimmer vertrieben zu werden, aus dem eigenen Haus, aus der eigenen Gegend, aus dem eigenen Land. Sie fragen sich, wie das möglich sein kann, und die Antwort lautet: weil der Gutmensch unter uns ist. Aber der Gutmensch ist in Wahrheit nicht gut, er ist schlecht. Weil er schlecht zu uns ist, zu seinem eigenen Blut. Darf das wahr sein? Er lacht Sie aus, er drängt Sie von der Straße, er hält Sie für Nationalsozialisten. Ist das nicht eine unglaubliche Unverfrorenheit? National! Sozialisten! Wir verstehen Sie so sehr, wenn Sie sagen: Man kann national und sozialistisch sein und trotzdem kein Nationalsozialist! Das versteht der Gutmensch nicht, und darunter leidet Ihre Seele.

Wir sind hier, um Ihnen Trost zu spenden und Hoffnung zu geben. Im Süden, wo wir herkamen, um Ihnen zuzuhören, folgt eine Regierungspartei dem umgekehrten Prinzip, und es funktioniert! Viele Menschen halten die Mitglieder dieser Partei allen Ernstes für Christsoziale. Christ! Sozial! Nein! Man kann Christ heißen und sich sozial nennen und nichts davon sein! Verstehen Sie? Können wir Ihnen mit diesem Beispiel etwas von Ihrer niederdrückenden, verzweifelten Angst nehmen? Trauen Sie sich! Seien Sie Sie selbst, durch und durch! Seien Sie national und sozialistisch und KEIN Nationalsozialist – so wie die christsoziale Regierungspartei NICHT christlich und sozial ist, und zwar aus tiefer Überzeugung, im reinen Glauben an sich selbst. Von dieser Einstellung zum Leben und zur Wirklichkeit hin müssen Sie lernen!

Was noch könnte Ihnen Erleichterung verschaffen? Wie machen wir den nächsten Schritt? Sprechen Sie. Haben Sie Mut. Wir hören Ihnen zu. Übrigens ist zu lesen, dass die Menschen in Nordkorea sich weltweit am wenigsten vor dem Fremden fürchten. Sie starten morgens in den Tag und erfreuen sich einer erstaunlichen Angstlosigkeit. Das erinnert an die gute alte Zeit. Nicht, dass Sie uns missverstehen: Niemand hat die Absicht, wieder eine Mauer zu errichten. Aber darüber sprechen muss doch wohl erlaubt sein. Sehen Sie? Jetzt lächeln Sie! Weiter, Sie machen Fortschritte. Wussten Sie, dass Kim Jong Un keine Milch trinkt? Er saugt die Kuh aus. Und wussten Sie, dass in Nordkorea niemand mehr stirbt? Das kommt daher, dass Kim Jong Un bereits vor zwei Jahren gestorben ist, aber der Tod nicht den Mumm hatte, es ihm zu sagen und deswegen fluchtartig das Land verlassen hat.
Wir stellen erleichtert fest, dass die Farbe in ihr Gesicht zurückkehrt. Bis zur Demonstration in zwei Stunden sind Sie gewiss wieder so weit hergestellt, dass Sie sowohl Ihre Stimme als auch einen Ihrer Arme weithin erkennbar erheben können.

Weil wir gerade davon sprachen: Dieser Kim Jong Un war früher Kamikazepilot, drei Mal! Stellen Sie sich das vor. Und er kann mit einem Stäbchen essen! Und seine Landsleute haben keine Angst. Warum? Weil sie sich vom richtigen Mann beschützt fühlen! Von der richtigen Partei. Vom richtigen System. Und genau das ist es, was Sie so schändlich vermissen. Das richtige System. Ist es nicht so? So ist es, und wir sind glücklich, dass Sie sich uns endlich anvertrauen.

Sie sind das Volk! Denken Sie an die schon erwähnte süddeutsche Regierungspartei. Man darf etwas heißen und muss es beileibe nicht sein. Und Sie dürfen etwas denken und müssen es beileibe nicht sein. Genießen Sie die Freiheit, Angst nur zu simulieren, und kosten Sie den Kuscheleffekt, den Sie in Ihrer Gruppe gleich ein weiteres Mal wahrnehmen werden, in vollen Zügen aus. Kuscheln ist so entscheidend für eine ausgeglichene Psyche. Dann schlafen Sie auch wieder gut, werden nicht länger von Alpträumen heimgesucht, von Monstern, die aus Wäldern oder Zügen oder Bussen stürzen und hinter Ihnen her rennen und Sie verfolgen und auffressen wollen. Nein! Sie werden ausgeruht und erfrischt am Morgen erwachen, wie der Führer des richtigen Systems, der sich um alles kümmert und die Wege seiner Untertanen 24 Stunden am Tag lenkt und begleitet und der ihnen jede Sorge und Unsicherheit von den Augen abliest und in Windeseile aus der Welt schafft.

Wissen Sie, warum Kim Jong Un sein Leben lang im Hellen schläft? Weil die Dunkelheit sich vor ihm fürchtet! So muss es sein. Und wir sind überzeugt, im Mausoleum seines Herzens wird immer eine Kammer für Sie frei sein, und wenn Sie möchten, brechen Sie unmittelbar nach der Demonstration noch heute dorthin auf. Keine Sorge wegen Ihrer Visa, wir kümmern uns darum.

Es war uns ein Vergnügen und ein Bedürfnis, Ihnen ernsthaft zuzuhören. Und, bitte, bitte, bitte, geben Sie beim Anstarrwettbewerb im Spiegel, für den Sie schon so lange und gewissenhaft trainieren, nicht vorzeitig auf, Sie werden gewinnen! Sie schaffen das!
Und zum Schluss ein Gedicht:

In Syrien gibt es keinen Gurkensalat

Montagsmenschen,
Dienstags-, Sonntagsmenschen,
auf der drübern Seite Menschen
auch. Hunger, Elend,
Kriegskrawall fällt im
Osten, Westen überall
durch den Gedächtnisgulli
in die zeitlos glänzende
Kanalisation, täglich,
montags längst nach
gutem Brauch. Mit munter
aufgefülltem Bauch
spaziert der Mensch die
Straße lang und haut
dem aus dem Feuer
Auferstandnen seine
ausgerauchte Asche um
die Ohren. Selig sind
die Auserkorenen. Und
bis heute, in vollkommener
Manier, trinkt der Selige
sein Bier nach alter
Brauart aus den
Kupferkesseln weltberühmter
Opernhäuser.

Und die Zwerge des
Herzens kreisen, dermaßen
geborgen, um der Gipfel
reine Verweigerung. Da
oben muss die Freiheit wohl
grenzenvoll sein. Gurkensalat.
In Syrien gibt es keinen
Gurkensalat. Und solche
wollen, ungewaschen,
ungebeten, gottlos, an
unsern, mit Schwielenhänden
lebenslang gedeckten
Tischen mitmischen?
Menschenklein ging zu zwein
in die kleine Welt hinein.
Bald warns drein, bald warns vier
tausend stehen schon Spalier.
Doch die Mutti
weinet sehr: kriegt jetzt
kein‘ Nobelpreis mehr.
Wünsch euch kein Glück,
sagt ihr Blick, wünsch mir
die Mauer und H. Kohl zurück.

 

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