Die Sowjetunion gibt es nicht mehr, aber die Menschen in Putins Russland halten am traurigen Erbe fest: Sie ordnen sich lieber unter und passen sich an, anstatt zu protestieren.
Wenn ich in den Westen reise, sagen meine Verwandten jedes Mal: „Sei vorsichtig. Da kann alles Mögliche passieren.“
Vor einigen Jahren hätte ich ihrer Meinung nach Aktionen der Globalisierungsgegner fürchten müssen, später Terroranschläge, heute die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten. Außerdem könnte ich von westlichen Geheimdiensten angeworben werden.
„Sei wachsam“, bitten sie mich. „Achte darauf, wer dich kennenlernen will und warum.“
25 Jahre sind seit dem Zerfall der UdSSR vergangen, aber mein Vater empfindet Westeuropa immer noch nicht als Teil seiner Welt. Der Eiserne Vorhang ist gefallen, aber sein Schatten trübt bis heute das Bewusstsein einer Vielzahl von Bewohnern des postsowjetischen Raums.
Nach Angaben des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum haben ungefähr 80 Prozent der russischen Staatsbürger noch nie ans Auswandern gedacht. Bemerkenswerterweise ist diese Kennziffer über alle Jahre der neueren Geschichte Russlands ungefähr konstant geblieben, von Anfang der neunziger Jahre bis zum heutigen Tag.
Man könnte meinen: Auch wenn man nicht auswandern kann, verbietet einem ja niemand, daran zu denken? Zumindest von einem anderen Leben zu träumen?
Mir scheint, die Menschen gestatten es sich nicht, an Auswanderung zu denken. Denn das täte nur ein freier Mensch. Ein Mensch, der sein Schicksal selbst bestimmt, der nicht bereit ist, sich mit dem Leben in einem Staat abzufinden, in dem seine Rechte zusehends relativiert werden.
Doch leider sind mit dem Zerfall der UdSSR die alten Gewohnheiten, Einstellungen und die vom sowjetischen System geprägten Charaktere nicht verschwunden. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr, aber die Menschen halten innerlich an ihrem traurigen Erbe fest: an der Fähigkeit, sich unterzuordnen, ohne das Subjekt ihres Lebens zu sein, sich anzupassen, anstatt zu protestieren.
Im Grunde genommen bildet dieses mentale Erbe als Gesamtheit aller Lebensstrategien auch die Basis für Putins Regime, das kein Machwerk der Propaganda, sondern durchaus real ist.
Putin führt das Land in eine Sackgasse – wirtschaftlich, politisch, sozial. Diesen Gedanken sprechen Oppositionelle aus und hoffen, dass diese Zukunftsperspektive die Menschen zum Handeln, zum Protest bewegt. Doch dabei bleibt ein Umstand unberücksichtigt: Viele Menschen fühlen sich in dieser Sackgasse ohne Entwicklungsmöglichkeiten, ohne persönliche Herausforderungen oder historische Dramaturgien behaglich. Deswegen wandern nur aktive Vertreter der städtischen Mittelschicht, Unternehmer, gefragte Experten und Empörte aus.
Man könnte darauf hoffen, dass diese Auswanderer noch von sich reden machen. Schließlich waren es Emigranten, die in der russischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts die entscheidende Rolle spielten. Das gesamte unabhängige politische Leben des Imperiums fand praktisch außerhalb seiner Grenzen statt oder erhielt von dort Unterstützung.
Von dort, aus dem Ausland, kamen Ideen und Geld, dort wurde Zeitungen und Zeitschriften gedruckt; man erinnere sich nur daran, dass Lenin die Februarrevolution 1917 nicht in Russland, sondern in der Schweiz erlebte.
Dann gab es die weißen Emigranten als Opponenten der Bolschewiki, die die Idee eines Weißen Russlands bewahrten, die Auswanderungsbewegung der Nachkriegsjahre, Solschenizyn in Vermont … .
Häufig – in Momenten der Liberalisierung des Regimes – war die Emigrationsbewegung sogar politisch vorteilhaft, weil die Nichteinverstandenen ihr Problem selbst lösten und auswanderten.
Alle diese Emigrationsbewegungen hatten bei ihren grundlegenden Unterschieden etwas gemeinsam: Sie bewahrten und beförderten die Idee eines anderen Russlands, das möglich scheint, aber nicht Wirklichkeit werden kann und Hilfe braucht. Heute – das ist natürlich nicht das Ergebnis einer Analyse, sondern nur eine Beobachtung – hat sich das Pathos des anderen Russlands, das Pathos der Hilfestellung wenn nicht erschöpft, so doch zumindest aufgerieben. Sehr viele verlassen Russland, um einfach nur wegzugehen, wie mir scheint: Damit sie sich nie mehr um dessen Geschicke kümmern und für ihr ehemaliges Vaterland verantwortlich fühlen müssen.
Warum ist das so? In den neunziger Jahren wurde Russland sozusagen ein Vertrauensvorschuss zugebilligt: Es gab keine irrsinnigen Bolschewiki, die gewaltsam nach der Macht griffen, die Menschen gingen auf die Straße, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, auf ein freies Leben …
Und im Endeffekt kehrte zwanzig Jahre später alles an seine Ursprünge zurück: Russland geht einen Sonderweg, der Westen ist wieder der Feind, Demokrat und Liberaler sind Schimpfwörter. Das hätte sich 1991 niemand in seinen schlimmsten Träumen vorgestellt.
Außerdem scheint mir, dass die Menschen, die an Auswanderung denken, nun meist von Russland selbst enttäuscht sind. Daher kommt die abwertende Bezeichnung „Raschka“ (von engl. „Russia“, Anm. d. Ü.), das man sich weder aus dem Mund eines Sozialrevolutionärs noch aus dem eines Offiziers der Weißen Armee vorstellen kann.
Wahrscheinlich ist diese Enttäuschung vergleichbar mit der Enttäuschung über eine missglückte Arbeit oder eine zerbrochene Beziehung. Es wurden so viele Anstrengungen unternommen, über anderthalb Jahrhunderte sind mehrere Generationen verschiedenen Ideen gefolgt und haben ihr Leben gegeben – und herausgekommen sind weder Glück noch Freiheit noch eine würdige Zukunft. Wieder ein Führer, wieder Mobilisierungsrhetorik, wieder die Suche nach Feinden im Inneren.
Da kann man wirklich alles hinwerfen und weggehen, nur um diese einförmige Wiederholung nicht erleben zu müssen. Deswegen fällt die Wahl zwischen kämpfen und gehen meist zugunsten des Letzteren. Vielleicht bevorzugen viele aktive Menschen auch deswegen das Auswandern, weil wir eigentlich eine Frage nicht klar beantworten können: Wofür soll man kämpfen? Hat Russland überhaupt eine Zukunft? Oder wird es jegliche Reformen verschlingen und dann einen neuen Putin hervorbringen?
Zur Russischen Föderation zählen derzeit 20 Republiken, das koloniale Erbe des Imperiums. Hier tickt eine Zeitbombe. Einmal ist sie bereits explodiert: Tschetschenien wollte die Unabhängigkeit, Präsident Jelzin ließ Truppen einmarschieren. Eigentlich haben die Regionen Russlands seitdem nur an Selbständigkeit verloren, indem sie aus Subjekten der Föderation zu deren Objekten wurden.
Die Unterdrückung der Rechte und Freiheiten des Menschen, eine vom Staat abhängige Rechtsprechung, kontrollierte politische Parteien, die Allmacht der Geheimdienste – das alles sind keine spezifischen Putin-Phänomene. Sie werden solange existieren, bis in Russland eine Transformation des kolonialistischen Bewusstseins stattfindet, und bis dahin ist es noch weit. Dieses Bewusstsein ist in den Zeilen der Hymne kodiert, sowohl der sowjetischen – „Die unverbrüchliche Union der freien Republiken vereinigte auf ewig die große Rus“–, wie auch der russischen – „der brüderlichen Völker jahrhundertealter Bund“.
Eine solche Transformation ist derzeit kaum vorstellbar. Die Sicht der russischen Bürger auf den Maidan, auf die Ereignisse in der Ukraine zeigt, dass der Komplex des „älteren Bruders“ immer noch stark ausgeprägt ist. Deswegen ist die Frage nach Gehen oder Bleiben meiner Meinung nach nur noch eine Tatsache der eigenen Biografie, die für die großen Waagschalen der Geschichte keine Bedeutung hat.
Mein Urgroßvater, ein Militärarzt, hatte 1918 die Möglichkeit, nach Westeuropa auszuwandern. Aber er blieb in Russland, denn er schaffte es nicht rechtzeitig, seine Kinder zu holen, die für die Zeit des Krieges bei Verwandten in verschiedenen Städten lebten: So konnte man sie leichter durchbringen. Natürlich begeisterte er sich auch für die sozialistischen Ideen und hoffte, sich beim Aufbau der neuen Gesellschaft nützlich zu machen. Er blieb – und gab damit einen Großteil unserer Familie, der bei Repressionen und in Kriegen umkam, dem Tod preis.
Diese Lektion ist für mich persönlich von Bedeutung.
Aus dem Russischen von Franziska Zwerg