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Echt ne super Personality, Gandhi

 

Castingshows: schrecklich. Sollen dort Vorbilder für die Jugend entstehen? Und was wäre passiert, wenn historische Figuren dabei schon mitgemacht hätten?

Castingshows: Echt ne super Personality, Gandhi
© Andreas Rentz/Getty Images

Ich versteh das mit den Castingshows nicht. Versteh ich nicht. Muss ich auch nicht. Bin zu alt zum Verstehen, ich gehe jetzt zum „damals“ und „früher“ sagen über und nenne das Kulturkritik. Ich drehe die Heizung ganz auf und lache, wenn sie pfeift und der langjährige Partner wie jedes Jahr sagt: „Schatz, die Heizung spielt unser Lied!“

Ich muss nicht mehr alles verstehen. Schön. Bald fange ich an, nur noch über die Zeiten zu schreiben, in denen Windeln noch hart wie Bretter waren, das Brot noch voller Ballaststoffe, ohne dass der Verbraucher es wusste, als „selten so eine Scheiße gehört“ noch kein Kommentar war, sondern einfach Gepöbel.

Ich verstehe die Castingshow an und für sich. Dass man zuguckt, wie sich völlig fremde Menschen bis aufs Knochenmark blamieren und deshalb in ihr illusionsloses altes Leben zurück geschickt werden. Husch, an die Schulbank, Soraya-Katharina. Träume zerbrechen in Tausende Splitterbrötchen. Es werden Liter geheult und daraus salziger Beruhigungstee gekocht. Die Kameras kriechen in Kleinstadtschönheitennasenlöcher. Vibrierende Rotzefäden. Verzweiflung, der schlimmste Tag im ganzen 14-jährigen Leben. Achachach. Das ist Gefühle-Muschibubu – das versteh ich.

Ich verstehe einfach nicht, dass die Kinder dieses Landes sich solche Hopsehasis und Singesusis und Lauflolitas als Vorbilder aussuchen. Die haben doch im Fernsehen gesehen, dass denen das Tanzen und Singen erst beigebracht wurde. Sogar das Laufen. Ein Wunder, dass die überhaupt schon mit Messer und Gabel essen konnten. Aus einem Niemand wird ein Jemand geformt. Ich will doch keine pure Knete bewundern. Diese Castingstars sind wie Möbel von Ikea – du weißt, was am Ende rauskommen soll, kaufst dir aber einen Haufen Holz.

Ich verstehe unter einem Vorbild was anderes, aber was ganz anderes. Unter einem Vorbild verstehe ich ein Vorbild.
Ein Vorbild verstehe ich darunter.
Zum Beispiel Roger Willemsen, der nun leider tot ist, aber wir könnten alle mehr wie er sein.
Oder Gandhi. Was wäre das für ein Vorbild, wenn ich genau wissen würde, dass er gar nichts konnte? Dass er das, was er dachte, noch gar nicht dachte. Dass er das, was er fühlte, gar nicht fühlt, sondern fühlen sollte. Dass er gar nicht er war, sondern nur zu ihm gemacht wurde.

Stellt euch vor:

Wir schreiben das Jahr 1887. Wir schreiben das Land Indien. Das geheime Casting für „Indien sucht den superfriedlichen Freiheitskämpfer“ hat soeben begonnen. Monatelang wurde heimlich in der gesamten britischen Kolonie Indien Werbung für die Show gemacht. Storchenbeinige, unter Schmutz getarnte Minderjährige trieben Esel durchs Land, die umgehängte Schilder durchs Land trugen. Auf den Schildern stand: „Du findest die Briten doof? Sie dich auch? Du hast kein Geld? Dann komme nach Kalkutta. Bewirb dich per Telefon, wenn das Telefon schon erfunden ist, per Handy, wenn du ganz viel Fantasie hast. Wenn ein Brite dich fragt, was auf diesem Schild steht, dann antworte, dass hier steht: Analphabet! Lerne lesen! Sofort!“

1887, Indien, eine Jury aus drei Leuten sitzt in einem spärlich eingerichteten Raum. Vor ihrem länglichen Tisch liegt eine schlichte Matte auf dem Boden. Sie haben eine Liste mit beleidigenden Sprüchen vor sich liegen. „Du bist so interessant wie ein Brite beim Teetrinken“ und „Sag mal: Not so good. Genau, das hast du selbst gut eingeschätzt.“
Draußen vor der Tür drängen sich Unmengen junger Männer, denen Nummern auf das Handgelenk gemalt werden. Sie üben noch einmal kurz ihre Präsentation. Dann wird die erste Nummer aufgerufen.
Der junge Mann kommt herein, und die Jury winkt sofort lachend ab. Ein Jurymitglied sagt: „Du siehst ja aus, als ob du nicht nur Schweine frisst, sondern selbst eins bist.“
Alle lachen.

Der junge Mann steht da und fragt leise, ob er nicht noch zeigen darf, was er kann.
„Nee, nee“, sagt der Mann, der für das Image zuständig ist. „Das wird nichts.“
Draußen vor der Tür wird der weinende junge Mann von seinen Konkurrenten getröstet. Zu dick, haben sie gesagt, jammert er. Die anderen Männer sind besorgt. Sie üben noch einmal ihre Präsentation.
Der nächste Mann, der vor der Jury steht, verbeugt sich still. Das kommt gut an. „Das sieht doch schon ganz anders aus“, wird geflüstert. „Na, los zeig mal, was du vorbereitet hast.“
Der junge Mann setzt sich breitbeinig auf den Boden und grinst.
„Och, nö, das sieht ja gar nicht aus“, sagt die Jury. „Das kann ja meine Oma besser.“

Und dann gäbe es da diese alte schwarz-weiß Aufnahmen, wie ein junger Mann mit Segelohren reinkommt und sich als Mohandas Karamchand Gandhi vorstellt, von einem Bein aufs andere tritt und ständig „äh, äh, äh“ sagt. Die Jury hört sich an, was der so zu sagen hat, nämlich, dass er vor allem berühmt werden will, weil er das schon immer wollte und das ihm auch egal sei, womit, und darum wäre er da, zu allem bereit. Dann grinst er dämlich, und die Jury steckt die Köpfe zusammen. Der geht ja gar nicht, der grinst ja so, der tippelt so nervös herum, zu dämlich und zu unbeholfen. Aber weil er so einen großen Willen hat, laden sie ihn zum Recall ein.

Beim Recall macht er dann schon einen besseren Eindruck. Er soll mal zeigen, wie er mit verschränkten Beinen sitzen kann. Na ja, geht so. Das können andere aber besser. Dann soll er mal einfache ungewürzte Nahrung essen. Das schmeckt ihm gut. Dann wird er noch gefragt, ober bereit wäre, sich eine Glatze zu rasieren, weil das zum Job dazugehört, und der Typ sagt, er macht alles. Sie fragen danach, ob er auch sexuell enthaltsam leben würde. Da überlegt er zumindest eine Weile. Dann nickt er. Daraufhin beschließt die Jury, dass der junge Mohandas formbar ist, genau das, was sie brauchen. Neben Mohandas werden noch zwei andere Männer ausgesucht. Sie fahren für zwei Woche ins Trainingscamp, wo sie vor allem abnehmen sollen und stillsitzen. „Wir brauchen einen asketisches Image!“ schreit der Imageberater sie an.

Wochenlang kann man am Bildschirm verfolgen, wie an Mohandas verschiedenen Brillen ausprobiert werden, bis der Typberater bei einer schlichten Nickelbrille entzückt in die Hände patscht und sagt, das sei der Look, den sie gesucht haben. Das sieht mit der Glatze fetzig aus. Ein Imageberater ist als nächstes dran, und er sagt, der Name Mohandas ginge ja gar nicht, wie wäre es denn nur mit mit Gandhi? Mohandas zuckt die Schulern, seinetwegen auch Gandhi, wenn er dann mehr Fans bekommt. Der Imageberater sagt, Gandhi solle aufhören so dämlich zu grinsen, weil er ein kluges Image hat. Er solle lieber zu wenig sagen, als zu viel. Gandhi sagt daraufhin gar nichts. Der Imageberater schreit: „Ja, genau, toll machst du das. Weiter so. Gib mir das Feeling!“

Bei der ersten Liveshow sitzen die drei Kandidaten und sollen asketisch aussehen. Der dickste wird vom Publikum per Briefwahl raus gewählt. Bis die Briefe da sind, müssen die drei jungen Männer sitzen und hungern. Danach hat Gandhi nur noch einen Konkurrenten. Für die beiden Männer werden Reden geschrieben. Sie müssen außerdem lange laufen, ohne über ihr umgewickeltes Tuch zu stolpern. Es gibt auch noch ein Training, in dem sie lernen sollen, Gewaltlosigkeit als Waffe zu benutzen. Die jungen Männer haben danach überall blaue Flecken und lächeln immer noch. Gandhis Konkurrent hat einmal „Scheiße, verdammt!“ geflüstert, weshalb er zur Strafe dreißig Seiten vollschreiben muss mit dem Satz: „Festhalten an der Wahrheit.“

Vor der nächsten Liveshow müssen die beiden Kandidaten eine für sie geschriebene Rede auswendig lernen, und ein Sprachlehrer bringt ihnen bei, wie man Klugheit ausstrahlt. Gandhi ist sehr lernfähig. Er kann die Rede schnell auswendig. Den Inhalt versteht er nicht so richtig, aber er stört ihn auch nicht. Irgendwas mit Indien, warum auch nicht, er ist ja selber Inder. Der Konkurrent ist ein Grieche und wird in der letzten Liveshow vom Publikum rausgewählt, weil er den Inhalt der Rede nicht so glaubwürdig rüberbringt wie Gandhi. Das nimmt man einem Inder einfach mehr ab.

Gandhis Familie ist da und schwenkt Plakate auf denen steht: „Du bist der Beste!“ Nach der Show halten sie ihm Mikrofone ins Gesicht. Gandhi wie fühlst du dich jetzt? Was wirst du als nächstes tun?
Der Imageberater hat Gandhi verboten sowas wie „halt die Fresse!“ zu sagen, also schweigt Gandhi. Indien ist begeistert. Die britische Queen ist nicht amüsiert.

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