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Die Elefantenrutsche, die große Gebärerin

 

Auf Spielplätzen lässt sich so gut wie alles über das Leben lernen: Wer ohne Angst rutscht, hatte eine einfache Geburt. Und Hangelbögen? Verschaffen Erlösung.

© Jochen Schmidt
© Jochen Schmidt

Habe ich früher auf Reisen Bildungslücken schließen wollen oder Lebensmittel essen, die man bei uns nicht kannte, so interessieren mich inzwischen immer mehr die örtlichen Spielplätze, wobei ich hier in Osteuropa aufregendere Entdeckungen mache, da dort vieles noch erhalten ist, was bei uns nicht mehr der Norm entsprechen würde.

Als Spielplatzforscher freue ich mich besonders an zoomorphen Spielgeräten, wie diesen freundlichen Leipziger Nilpferden.

005 nilpferd Leipzig

Vor allem hat es mir aber der Elefant angetan, der durch seinen Körperbau von Natur aus eine Eignung als Spielgerät besitzt, man muss nicht lange nachdenken, um in seinem Rüssel eine Rutsche zu erkennen, die Natur hat uns den Weg schon gewiesen. Die vier Klassiker: Wippe, Karussell, Schaukel und Rutsche findet man heute auf fast jedem Spielplatz. Die Wippe ist eine friedliche Variante des Katapults und macht das Kind mit den Hebelgesetzen und mit dem ständigen Auf und Ab im Leben vertraut, das Karussell versetzt es in einen Trancezustand, wie ihn auch ein tanzender Derwisch erlebt, die Schaukel erlaubt einen kurzen Moment der Schwerelosigkeit, wenn der Scheitelpunkt der Bewegung erreicht ist, und die Rutsche erinnert an den Geburtsvorgang. Wie von einer fleißigen Termitenkönigin werden im Lauf eines Tages atemberaubend viele Kinder von dieser großen Gebärerin ausgespuckt. Tatsächlich soll Furchtlosigkeit eines Kindes beim Rutschen für eine unkompliziert verlaufene Geburt sprechen.

Im Leipziger Rosental (unweit vom Zoo) entdeckte ich zufällig zwischen Bäumen einen Spielplatz, der mit Gittern abgesperrt war, weil gerade Bauarbeiten stattfanden. Ein Bagger machte sich dort am Erdreich zu schaffen. Meinem inzwischen recht sicheren Blick für Vorwendeartefakte fiel ein weißer Steinelefant auf, der sicher noch aus der DDR stammte.

010 Elefant Leipzig

Man findet nicht mehr viele DDR-Spielgeräte auf Spielplätzen in Ostdeutschland, die meisten sind dem TÜV zum Opfer gefallen. (Es muss ein gutes Geschäft gewesen sein, die Spielplätze eines ganzen Landes neu zu bestücken.) Aber wo ich sie noch entdecke, schlägt mein Herz höher, manchmal kommen mir auch die Tränen, wie Humann, als er auf die Reste der Zeusgruppe vom Pergamonaltar stieß. Ich ignorierte die Absperrungen und machte Fotos vom Elefanten, der sogar Messingstoßzähne hatte, und dessen Rutsche mit Metall ausgelegt war, damit man sich nicht die Hosen zerriss.

015 Rutsche

Es gab auch eine große Holzfrau mit markanten Brüsten, in deren Schoß man sich verstecken konnte (sozusagen die Umkehrung der Geburtsrutsche).

020 Holzfrau

Holzfrau und Drache stammten aus den frühen 1990er Jahren und waren Werke des Bildhauers Reinhard Rösler (andere Figuren, die hier standen, sind so lange vernachlässigt worden, dass sie am Ende abgebaut werden mussten). Was für eine beglückende Form angewandter Kunst, Spielgeräte für Kinder zu bauen! (Viele Statuen und Skulpturen finden darin ja sowieso ihren eigentlichen Zweck.)

025 Drache

Ein paar bekieselte DDR-Papierkörbe rundeten das Bild ab, dieses Modell war damals so verbreitet, dass die Amerikaner es vermutlich auch auf dem Mars finden werden, wenn sie dort jemals landen sollten. Ein Baggerfahrer in seinem schönen Erwachsenenspielgerät rief mir etwas zu. Ich ging davon aus, dass er mich vertreiben wollte und entschuldigte mich schnell, die Fotos vom Elefanten musste ich einfach machen. Es kommt oft vor, dass man beim Dokumentieren angebrüllt wird oder sogar fliehen muss wie ein Dieb. Einmal habe ich die kaum noch zu erkennende Werbung für Margonwasser („Prickelnd frisch.“) an einer Fassade in der Berliner Neustädtischen Kirchstraße (direkt neben dem Bundespresseamt) geknipst, die gerade hinter einem neuen Gebäude verschwand. Obwohl ich mich diesseits der Baustellenabsperrungen befand, brüllte ein Arbeiter wütende Flüche zu mir herüber. Die Zerstörer historischer Spuren wollen keine Zeugen. Diesmal hatte ich mich aber geirrt, der Baggerfahrer wollte mich gar nicht vertreiben, sondern fragte sehr freundlich, ob ich von hier sei? Was meinte er damit? Aus Leipzig? Oder aus Ostdeutschland? Ich entschied mich für das allgemeinere „hier“ und sagte, dass ich solche Elefanten noch aus meiner Kindheit kannte. Er wollte wissen, ob es hier in der Nähe einen Imbiss gebe? Also das „hier“ hatte er gemeint … Und ob sie mich mit dem Elefanten fotografieren sollten? Ich erfuhr, dass es sich um den ältesten Spielplatz Leipzigs handelte, eine Stele erinnerte an die Vorkämpferin für Frauenrechte Louise Otto-Peters: „Der Führerin auf neuen Bahnen in Dankbarkeit und Verehrung, die deutschen Frauen“. Der Spielplatz wurde gerade umgebaut, der Hangelbogen aus Metall würde morgen verschwinden (die habe ich geliebt, man konnte endlos versuchen, den Weg mit dem Kopf nach unten hängend zu schaffen. Sie sahen immer aus wie Griffe, mit denen man die Erde wegschmeißen konnte).

030 Hangelbogen

Der „Hebekopfdrache“ sollte tiefergelegt werden, weil seine Höhe nicht mehr der Norm entsprach. Den Kopf konnte man ankippen, dabei hatte er ursprünglich ein knarrendes Geräusch gemacht. Ich bekam sogar die Pläne für den Umbau des Spielplatzes gezeigt.

Der schöne, weiße Steinelefant hat weltweit viele Verwandte. Im letzten Sommer habe ich in der alten Hauptstadt des bulgarischen Königreichs Weliko Tarnowo ein Dutzend Spielplatzelefanten fotografiert, schlichte Modelle aus Blech, die mich aber rührten.

035 Elefant Bulgarien

Das Prachtstück meiner Sammlung ist ein Klettergerüst-Elefant aus Minsk, auf dem man auch schaukeln kann.

040 elefant minsk

Interessant sind für mich endemische Populationen. In Sorno bei Finsterwalde bremste ich einmal scharf, um auf einem kommunalen Spielplatz einen Klettergerüst-Elefanten zu fotografieren, von dem mir keine Replik bekannt ist.

045 Finsterwalde

Ist er das Werk eines Metallbauers aus der Gegend? Ebenso einmalig ist der Eisenhüttenstädter Elefant, der aus zwei Hangelbögen besteht, eine Meisterleistung des Denkens in Gerüstformen.

050 eisenhuettenstadt

Alle diese Elefanten können mir aber nicht den Steinelefanten ersetzen, auf dem ich in meiner Kindheit auf dem Berliner Forckenbeckplatz geklettert bin. Der Platz, der nach einem ehemaligen Berliner Bürgermeister benannt ist (wie schnell man als Bürgermeister vergessen wird!), hieß bei uns nur „Forcki“. Der Steinelefant hatte eine Rüsselrutsche ohne Metallbelag, aber unsere Hosen waren robust. In den Elefantenohren konnte man sitzen.

055 Forcki

Der von der Sonne aufgewärmte Stein mit der angenehm rauen Oberfläche ist mir in Erinnerung. So gut kann sich echte Elefantenhaut gar nicht anfühlen. An der Rüsselrutsche musste man oft lange anstehen. Die nie ganz überwundene Angst, dass der Elefant vielleicht doch lebendig sein könnte. Eines Nachts hat er sich denn auch aufgemacht auf seinen langen Weg zum Spielplatzelefantenfriedhof.

 

(Alle Fotos in diesem Text stammen von Jochen Schmidt.)

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