Lange hat unsere Autorin den Eskapismus der Naturfreunde belächelt. Nun hat sie zum ersten Mal ihren Balkon bepflanzt. Sofort ploppen die wahren Fragen des Lebens auf.
„Alles Gute für die Tomaten“, wünscht mir die Kassiererin, wir zwinkern uns vertraulich zu. Eine halbe Stunde lang bin ich durchs Pflanzenparadies gelaufen, an Bergen in Plastik eingeschweißter Blumenerde und gestapelter Balkonkästen vorbei, eine mir bislang verschlossene, eine von mir verschmähte Welt. Wer Zeit hat, seine Nachmittage mit der Auswahl roter, blauer oder roséfarbener Pflanzen zu verbringen, hat, so dachte ich bisher, aus der Geschichte nichts gelernt. Biedermeier, Spießertum, Landlust, es gibt viele Namen, unter denen der kleingärtnerische Eskapismus firmiert: Die Welt ist aus dem Ruder geraten und man selbst kauft Pflanzendünger.
Fürsorglich trage ich meine Pflanzenpalette hinaus in den verregneten Berliner Frühling. Früher hätte ich nur an mich und die große Politik gedacht, die ich in Form einer mich stets begleitenden Tageszeitung schützend über meinen Kopf gespannt hätte. Was macht’s, dass die österreichische Präsidentenwahl zu Pappmaché wird – kann man ja eh alles im Internet nachlesen. Über Jahre habe ich mich widersetzt, doch von heute an blicke ich auf meine Umwelt als junge Gärtnerin, nicht länger die Sehnsucht nach Natur leugnend, die schon die Generation vor mir aus den glitzernden Metropolen und politischen Debatten vertrieb, weil sie lieber auf einem Hof in Brandenburg Porree anbauten.
„Wir sind uns gerade im Baumarkt begegnet“, sagt der zarte Mann, der sich an der Bushaltestelle zwischen mich und meine Palette zwängt. Er ist so schmal, dass er überall dazwischen passen würde, zwischen die parkenden Autos am Ku’damm, zwischen Norbert Hofer und die Arbeiterklasse und eben auch zwischen mich und das etwas mickrige Erdbeerpflänzchen auf meiner Palette. Und was ist mit mir los, warum blaffe ich nicht gereizt zurück, dass er mir ein wenig zu dicht auf die Pelle gerückt sei? Mein Leben zeigt sich bereits in milderen Farben, Sinnzusammenhänge verschieben sich oder ich verliere gleich völlig den Überblick, konzentriert auf meine noch in enge Plastikschalen eingesperrten Zöglinge: Erdbeeren, Strauchtomaten und violette Zierpflanzen, die zwar keine Nutzfunktion, aber sicherlich einen Namen haben. Die Welt der Gärtnerei, meine terra incognita.
„Was haben Sie denn Schönes gekauft?“, erkundigt sich der Mann und ich zeige ihm meine Pflanzen. Ein neues, unerwartetes Gefühl von Besitz steigt in mir auf: Meine Erdbeeren – nicht bloß erkauftes Eigentum, wie das eines Fahrrads, eines toten Objekts, das ich mir über kurz oder lang stehlen lassen werde. Diese kleinen, hoffnungsfrohen Pflanzenknubbel, noch grün, sind mir ausgeliefert auf Gedeih und Verderb. Was auch immer diese Erdbeeren der Welt beweisen werden, sie werden es ohne mich nicht geschafft haben. Auch ich im Garten!
Im Bus stelle ich die Palette nahe der Tür auf den Boden. Die Blicke der Mitfahrenden richten sich sofort auf den Tomatenstrauch, der wie ein tollender kleiner Hund in unserer Mitte posiert, ach was, eine gemeinsame Mitte überhaupt erst ermöglicht. Wohlmeinende Ratschläge werden mir zugeraunt, „braucht viel Erde“, „diese kleinen Fliegen, da müssen sie aufpassen, die befallen oft Tomatenpflanzen“. Ein Mensch mit Pflanze wirkt augenscheinlich vertrauensvoller als ein Mensch mit einem Stapel Bücher: Wer pflanzt, hat jegliche Eitelkeit abgelegt und die gesellschaftlichen Gräben zugeschüttet, als hätte es nur einen 20-Litersack Blumenerde dazu gebraucht. Vom Hausmeister bis zur Uniprofessorin: Wer pflanzt, findet zu sich, und eine Station später schon vertrauen mir Menschen Persönliches an: „Meine Mutter wünscht sich auch so einen Tomatenstrauch, sie ist seit Kurzem im Hospiz, wissen Sie.“ Die Menschen öffnen sich mir auf ganz neue Weise oder ist es nicht doch eher so, dass sie sich der Tomate an meiner Seite öffnen? Schon will ich ihrem Vertrauen mit Sätzen aus der Hundehaltersprache danken, „er beißt nicht“ oder „er heißt Kasimir“.
Warum habe ich bislang nur in solch einer Blase gelebt, zwar nicht durch Anpflanzen und Einwecken von der Wirklichkeit abgehalten, aber durch Zeitungen oder Bücher, mit denen ich mich im Bus von den Mitmenschen abschottete? Als ich auf meinem Balkon den Beutel Blumenerde aufreiße – „universell einsetzbar“, verspricht mir die Verpackung, „mit Langzeitdünger“ – steigt dennoch kurz der alte Zweifel in mir auf: Ist das denn die richtige Haltung, mich ins idyllische Balkonbepflanzen zurückzuziehen, anstatt an meinem Schreibtisch über die großen Fragen der Politik zu schreiben oder wenigstens darüber nachzudenken, weshalb unlängst in Österreich die EU nur sehr knapp nicht abgewählt worden ist, man aber so nah dran war, dass man selbstzufrieden aufgrunzen konnte: Hatten wir mit unserem Pessimismus ja doch mal wieder recht?
Im Wahlkampf war es viel um Heimat gegangen, nicht nur von Seiten der nationalstolzen FPÖ, auch der unabhängige Alexander Van der Bellen hatte das Wort noch auf seine Wahlkampfplakate geschmuggelt: Von einer schenkbaren Heimat war die Rede gewesen. Schummelei!, hatte der Heimatexperte Hofer gewettert. Was hatte denn ein Grünen-sozialisierter Politiker mit Heimat zu tun? Da hätte die FPÖ ja auch Wahlkampf mit Cannabisfreigabe machen können.
Sicherlich hätte die FPÖ dem unabhängigen Van der Bellen auch das authentische Gärtnern abgesprochen, zumindest Cannabisanbau dahinter gewittert. Das Anpflanzen in österreichischer Erde ist und bleibt ein Privileg der patriotischen und nationalistischen Bürger und als Wahlwerbung der soziale Nationalpartei FPÖ vorbehalten.
Ich setze die Strauchtomaten in den Kasten um, merke, dass der Kasten zu klein ist oder das Wurzelgeflecht des Tomatenstrauches zu groß. Vielleicht kann ich als Nichtpatriotin ja auch gar nicht mit Erde und Wurzeln umgehen. Was würde wohl die AfD auf die Frage antworten, ob Zuwanderer pflanzen dürfen? Dürfen es jene mit einem deutschen Pass, wenigstens mit Bleiberecht oder mit einem Platz in der Fußballnationalmannschaft? Jedenfalls dürften es bestimmt nur die christlichen, allenfalls noch konfessionslosen unter ihnen. So ein Tomatenstrauch ist ja, von Muslimen umgetopft, wie ein kleines Minarett: Wer pflanzt, der bleibt, wenigstens, bis die Ernte eingeholt wird oder die Zierpflanzen abgeblüht sind. Und dann auch noch mit Langzeitdünger. Wer weiß überhaupt, was da angepflanzt würde, orientalisches Gemüse womöglich!, mit dem uns die abendländischen Wurzeln auch noch im Balkonkasten ausgerissen würden. Wer mir jetzt mit der Herkunft der Tomaten kommt – ach geh, ich muss mich um die kleinen Fliegen kümmern, die befallen ja so oft die Tomaten.
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