Wer nicht glaubt, dass man über Männer, Geschlechterkampf und Familie mit Humor und Geist schreiben kann, sollte die Text der kürzlich verstorbenen Fanny Müller lesen.
Wie stellt man Fanny Müller in eine Reihe mit Kafka und Brecht? So: Es war spätabends, als K. ankam. „Oh“, sagte Herr K. und erbleichte. „Genau wie Jonni!“ schreit Frau K.
Im Ernst: Eines hat Frau K. ganz gewiss mit ihren berühmten Initialvettern gemein – sie ist eine starke literarische Figur. In den Lettern, die die Welt bedeuten, tauchte sie – „eine der letzten Concierges Hamburgs“ – erstmals Juni 1991 auf. Verantwortlich war ein in gewissen Kreisen mittlerweile legendäres komisches Magazin. Eingeführt wurde Frau K. dort zusammen mit der „komplett haarlosen Dackelin Trixi“ und beide charakterisierte nicht zuletzt die Schlusspointe jenes kompakten Einspalters: „Trixi!“ schreit Frau K., „hör auf!“ Zu kläffen nämlich. „Du musst nich auf das ganze Haus passen! Das reicht, wenn du auf Oma paßt!“
Wahrhaftig, das reichte. Von diesem Beginn an war ich Frau K. verfallen. Und je öfter sie im Kowalski ihren missingschen Mutterwitz versprühte, desto neugieriger wurde ich, wer ihre Schöpferin war – und nicht nur ich. Gemeinhin stellte man sich unter Fanny Müller eine Art reifes Punkgirl vor, wohl aufgrund des bunten Milieus, in dem sie Frau K. ihr Wesen treiben ließ.
Als wir uns dann aber kennenlernten, handelte es sich vielmehr um eine erwachsene, ja gestandene Frau. Nichtsdestotrotz wirkte sie mindestens zehn Jahre jünger, als angeblich in ihrem Pass stand. Und was mich übrigens kindisch freute: Sie ist in Helmste aufgewachsen, ich in Hagen – Nachbardörfer in der Nähe von Stade. Als ich, viel später, ihre Abhandlung über dörfliche Hochzeitsfeiern las, sollte ich erbost erfahren, dass in Helmste ganz offensichtlich Sprüche kursierten wie „Hagener Kosaken mit’n Pisspott op’n Nacken“. Schwamm drüber. Seitdem wir uns kannten, machte ich mir einen Stolz daraus, Fanny Müller als große Schwester im Geiste betrachten zu dürfen. Wir telefonierten, korrespondierten, bestritten gemeinsam Lesungen und haben, um unserer Sehnsucht nach Plattdeutsch nachzugeben, sogar mal zusammen eine Aufführung des Ohnsorg-Theaters besucht.
Nachdem Kowalski das Zeitliche gesegnet hatte, spukte Frau K. aufs Vitalste in den Hamburger Lokalseiten der taz weiter, und 1994 erschien ein hübsches gelbes Sammelbändchen. Damit war Frau K. offiziell in der schönen Literatur angekommen.
Die Stärke einer literarischen Figur kann ja unterschiedlich beschaffen sein. Sie kann in ihrer Repräsentanzmacht liegen (wie bei Kafkas Herrn K.), in ihrer philosophischen Größe (wie bei Brechts Herrn K.) oder auch (wie bei Müllers Frau K.) in ihrer Authentizität. Nun ist dieser Begriff derart durch die Mangel gedreht worden, dass er längst fadenscheinig wirkt. Seit Ende der siebziger Jahre hat sich ja jeder circa einskommasiebte Sinnsucher in die Toga der von ihm sogenannten Authentizität gehüllt. Ungeachtet dessen wirken wirkliche Echtheit und Glaubwürdigkeit natürlich um so stärker weiter, je schwächer all die Begriffe werden, die wir uns von Welt und Zeit machen.
Die Echtheit, Glaubwürdigkeit und, im besten Fall daraus resultierend, Überzeugungskraft und Identifikationspotenz von Fanny Müllers Frau K. entspringen übrigens aus Mutterwitz.
Mit eigenen Ohren hab ich mal gehört, wie ein alteingesessener Hagener Bauer sich wie folgt ausdrückte: „Mien neege Trecker, de hett viellich Pauer.“ Wenn schon die Bauern von power zu sprechen beginnen, sollte man wieder auf Begriffe zurückgreifen, die trotz ihres Alters weniger fadenscheinig sind – wie zum Beispiel Mutterwitz. Er gefiel mir schon immer, dieser Begriff, und die Definition im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm bestärkte mich in diesem Empfinden: „natürlicher, von der mutter her angeborener witz“. (Merke folglich: Auch Männer können Mutterwitz haben.) Wobei witz „noch in der bedeutung der urtheilskraft und schnellen fassungsgabe“ auftrete (heute pflegt man in dem Fall von Gewitztheit zu sprechen). Ferner zitieren die Grimms Kant: „die allgemeinen und angebornen regeln des verstandes (deren besitz mutterwitz genannt wird)“; Simrock mit dem Sprichwort „ein quentchen mutterwitz ist besser als ein centner schulwitz“ und Kleist mit der Metapher von der „unze mutterwitz, die dich vom tollhaus errettet“.
Heute, da das ganze Vaterland ein Tollhaus geworden ist, kommt man mit einer Unze nicht mehr weit. Da braucht es schon Mutterwitz vom Kaliber dessen, über den Frau K. verfügt: „Liebe und Erotik!“ sagt Frau K. mit tiefer Verachtung (…). „Wir ham uns 1930 auf der Veddel im Arbeitersportverein kennengelernt. Da gab das so was nich.“
Für mich bilden die Geschichten von Frau K. den Kern von Fanny Müllers Gesamtwerk. Aber die Non-Frau-Ks, das Fruchtfleisch aus Kurzgeschichten, literarischen Miniaturen, ausgeschmückten Anekdoten, Satiren, Possen, Glossen usw., schmecken mir genauso. Mir gefallen Texte, die mit Sätzen anfangen wie „Männer können einem ja sonstwas erzählen“. (Überhaupt gefällt mir übrigens ihre Haltung gegenüber uns Trägern des Y-Chromosoms – „den ein’n nehm’n und den annern damit vor’n Kopp hau’n“. Es trifft immer den richtigen: den Einzelfall. Wie Frau K. in Bezug auf ein besonders prekäres Exemplar sagt: „Normal hab ich ja nix gegen Männer. Aber bei den würd ich ne Ausnahme machen.“) So wird’s gemacht, alles andere ist langweilig (oder Soziologie). Wärme wird nicht durch Anflanschen erzeugt, sondern durch Reibung, das weiß der dümmste Physiklehrer. So kommen die Körpersäfte in Wallung, die humores.
Es sind hauptsächlich drei gesellschaftliche Phänomene, die in Fanny Müllers Werk eine Rolle spielen – und dort quasi im Eulenspiegel der Erkenntnis gebrochen werden. Der Geschlechterkampf ist eines, ein anderes Nachbarschaft und das dritte Familie. Drei gesellschaftliche Phänomene, deren moderne und postmoderne Veränderungen in besonderem Maße auf unser Selbstgefühl, Selbstverständnis, Selbstbewusstsein etc. zurückwirken, kurzum: auf das Selbst jeder und jedes einzelnen von uns. Als kritisch aufgeklärte Frau wusste Fanny Müller, dass die emotionale Verstrickung des Individuums in jene Phänomene ohne vernünftige Distanz üble Folgen haben kann. Als lebenserfahrene und zugleich bodenständig gebliebene Frau mit Menschenkenntnis wusste sie aber auch, dass es unvernünftig ist, ohne emotionale Verbindung Distanz einzunehmen.
Das klingt wie ein Widerspruch: Distanz zu halten geht doch nur, indem man Verbindungen kappt, oder? Eben nicht. Distanz ohne Verbindung läuft auf Zynismus hinaus. Distanz mit Verbindung auf Humor.
Und deshalb ist im Tollhaus Vaterland nach wie vor nichts dringender erforderlich als Mutterwitz. Zum Beispiel der von Autorinnen vom Schlage Fanny Müllers. Dass sie kürzlich gestorben ist, ändert an dem Befund überhaupt nichts – ganz im Gegenteil: Sie fehlt.
Am 5. Juni im Polittbüro zu Hamburg lesen zu ihren Ehren Klaus Bittermann, Susanne Fischer, Doris Gercke, Gerhard Henschel, Ernst Kahl, Richard Christian Kähler, Gerhard Kromschröder, Christian Maintz, Lisa Politt, Fritz Tietz, Dietrich zu Nedden und der Autor dieser Zeilen. Musik: Enno Dugnus (Piano), Tuten & Blasen.
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