Es scheint, als hätten die Deutschen ein größeres Interesse am Brexit als die Briten selbst. Ist dieses Referendum mehr als ein Ja oder Nein zu Gurken- und Glühbirnenverordnungen?
Nahe der Tate Gallery werden am Sonntag Plakate und Sticker verteilt: I’M IN. Die Kampagnen für und gegen den Brexit, die nach dem Mord an der Parlamentarierin Jo Cox vorübergehend ausgesetzt worden waren, haben zumindest partiell wieder begonnen. Eine ganz Schar junger Leute läuft mit den Aufklebern auf ihren Kleidern durch die Museumsräume, es wirkt wie ein Bekenntnis zu Cox, die sich klar zur EU bekannt hatte und vermutlich genau deshalb Ziel des Attentats geworden war.
In wenigen Tagen werden die Briten die wichtigste Entscheidung der letzten fünfzig Jahre treffen, sagte am Freitagabend einer der Briten in unserer Tischgesellschaft. Die Wichtigste? Warum ist dann kaum einer von den geladenen Briten erschienen? Drei haben wenige Stunden vorher abgesagt, nach dem Mord an Jo Cox schien es ihnen als Gebot der Pietät, Brexit-Debatten ruhen zu lassen. Andere aber hatten schon früher ihr Interesse an dem Abend verloren. Dreißig Deutsche saßen am Ende drei Briten gegenüber, in einem jener auf Exklusivität basierenden Clubs mit pompösen Vorhängen vor den Fenstern, viel Gold an der Decke und Lamm als Hauptgang. Es scheint, als hätten die Deutschen ein deutlich größeres Interesse am Brexit als die Briten selbst.
Einen Abend später irren wir am anderen Endes des britischen Gesellschaftsspektrums entlang, vorbei an unbeleuchteten Bahnunterführungen und roh asphaltierten Plätzen und doch immer nur im Kreis. Eben noch waren wir auf der belebten Bricklane, jener Straße voller Vintageshops, Touristen und Partyhöfen, an deren Klinkermauern Plakate mit einem grimmigen Winston Churchill angepinnt sind: „Brits don’t quit„, erinnert er seine Nation. Ein anderes Plakat zeigt den Brexit-Befürworter Boris Johnson im Bruderkuss mit Donald Trump vereint.
Einmal nur sind wir falsch abgebogen, und schon finden wir nicht mehr heraus aus den kleinen verwinkelten Gassen, die Straßenbeleuchtung wird mit jeder Biegung trüber, junge Männer stehen vor einem Haus zusammen, ein dunkle Gemeinschaft. Die öffentlichen Stadtpläne von London haben die Eigenschaft, die Himmelsrichtung zu wechseln, je nachdem, von welcher Seite aus man sie betrachtet.
Fühlen sich so jene Briten, die am 23. Juni für den Austritt Großbritanniens von der EU stimmen werden? Verloren in den verwinkelten Gassen der EU-Verwaltung, in einem Richtungswirrwarr, aus dem kein Stadtplan und kein Vertrag herausführt, die fünf Präsidenten als dunkle Gemeinschaft, von keiner demokratischen Wahl legitimiert und, was wichtiger ist, ebenso wenig durch eine solche abwählbar? Und verträgt sich am Ende das Denken der Inseleuropäer mit dem der Kontinentaleuropäern eben doch nicht gut genug, um gemeinsam die richtigen Wege zu finden?
Natürlich, es gibt ökonomische Gründe für und gegen den Verbleib Großbritanniens in der EU, beides faktenbasierte Wahrscheinlichkeitsszenarien. Dass Großbritannien am Ende den größeren Nachteil haben wird, setzt sich auch bei unserem Dinner als Mehrheitsmeinung durch. Doch die Wirtschaft allein ist es nicht, die die Brexit-Debatte entscheiden wird, nicht einmal in unserer Abendgesellschaft, obwohl viele der Teilnehmer in den Banken der City of London arbeiten.
Wäre die Debatte zwei Tagen zuvor noch anders verlaufen, weniger persönlich, wäre es ein reines Hin- und Herstoßen von Wirtschaftszahlen geworden, das allzu geschmacklos wirkte nach dem Mord an Cox? Oder war der Streit um den Brexit, war dieses Referendum eben doch von Anfang an mehr als ein Ja oder Nein zu Gurken- und Glühbirnenverordnungen?
Die EU-Strukturen, die Technokratie und der ineffiziente Beamtenüberschuss, all das wurde von uns gestreift, doch war es nicht der Kern der Debatte. „In einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben“, hat Jacques Delors einmal zu Recht bemerkt. In Prinz William natürlich schon. Und das Königshaus war den Briten bislang noch nicht zu teuer oder auch nur zu wenig effizient.
Es ginge für die meisten Briten gar nicht vorrangig um den Verbleib in der EU, sagte eine der Teilnehmerinnen bei unserem Dinner. Sie würden vielmehr über die großen gesellschaftlichen Probleme abstimmen, die derzeit auf allen Ebenen virulent sind, mit und ohne EU: über die Glaubwürdigkeitskrise der repräsentativen Demokratie, das Auseinanderdriften der Milieus, Radikalisierung innerhalb der Gesellschaft und die Sicherheit – vor allem aber über die Migration, die Ländergrenzen und die Frage, ob der Commonwealth in dieser Hinsicht nicht groß genug ist.
I’M IN! Ist das der Beginn einer Erzählung oder doch nur ein Hingucker, ein Hipsterslogan, ein allzu schnelles Bekenntnis? Wer will schließlich nicht in sein? Fast Mitleid hat man mit dem Jungen, der mit einem „I leave“-Ansteckbutton auf seinem Ringelpulli verziert von seinen Eltern an einer Skulptur von Ai Wei Wei vorbeigeschoben wird. Der unerträgliche Stiefbruder von Harry Potter würde garantiert auch so einen Button tragen, der war schließlich schon Zauberern gegenüber xenophob eingestellt und seine Fantasie reichte nicht mal bis zum Gleis 9 ¾.
Gestalterische Vorstellungskraft aber braucht es für jedes Zusammenleben. Nur so können Diskrepanzen und Dissens als Momente innerhalb einer Dynamik erscheinen und nicht als Stopp, als dunkle Sackgasse, in die man sich verläuft. Und nur so können wir sensibel sein für die blinden Flecken, jene Gegebenheiten, an die wir uns schon allzu sehr gewöhnt zu haben scheinen. Bedient wurden wir bei unserem Dinner schweigend und dezent von vier Kellnerinnen, dunkelhäutigen Commonwealth-Migrantinnen. Von ihnen wollte an diesem Abend niemand die Meinung hören. Gesellschaftliche Durchlässigkeit entscheidet sich eben nicht nur an den Außengrenzen. Das Referendum wird sich am Donnerstag entscheiden, die Fragen aber, die es mitträgt, werden mehr brauchen als ein Ja oder Nein.