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Der Verlust am Ende der Welt

 

Fundamentalismus begegnet uns heute überall. Nicht nur in religiösen Zusammenhängen. Während einer Veranstaltung der Zeugen Jehovas im Berliner Olympiastadion wurde unserem Autor einiges klar.

An einem Tag im Juli bekam ich an meiner Wohnungstür eine Einladung zum Jahreskongress der Zeugen Jehovas überreicht. Auf dem Faltblatt stand: „Offen für alle!“ Und: „Der Eintritt ist frei.“ Außerdem stand auf dem Faltblatt noch das Thema des Kongresses: „Der neue Herrscher der Erde – wer ist dafür geeignet?“
Ich hatte noch nie eine Veranstaltung der Zeugen Jehovas besucht, wusste und weiß auch heute noch wenig über sie. Der Vortrag über den neuen Herrscher der Erde sollte in dem vor achtzig Jahren von Adolf Hitler in Auftrag gegebenen Olympiastadion in Berlin gehalten werden. Ich dachte: unglaublich.

Mit den Zeugen Jehovas im Berliner Olympiastadion (© Roman Ehrlich)
Mit den Zeugen Jehovas im Berliner Olympiastadion (© Roman Ehrlich)

Vor dem Stadion standen Reisebusse aus verschiedenen Bundesländern. Die Bodenplatten und der Sandstein des Stadions glänzten in der Sonne auf, die Menschen, die um das Stadion herum zu sehen waren, standen im Schatten und bewegten sich wenig. Ich war mit Aylin mit dem Fahrrad hingefahren. Wir wurden sofort erkannt. Ich kann nicht genau sagen, woran es lag. Aylin war rauchend auf das Stadion zugelaufen. Vielleicht lag es daran. Aber auch nichtrauchend, im Innern des Stadions, gab es nur zwei verschiedene Blicke: den, der einladend die Fremden begrüßte und Offenheit für alle signalisierte, und den, der etwas alarmiert war und skeptisch und sagte: Macht euch nicht über uns lustig. Uns ist das hier wirklich wichtig.

Das Stadion war zur Hälfte gefüllt. Etwa 30.000 Menschen saßen auf den Rängen und fächerten sich Luft zu und schauten entweder auf den Stadiongrund, wo ein weißer Pavillon aufgebaut war, in dem die Redner standen, oder sie schauten auf die Videoleinwand, auf der die Reden übertragen wurden. Manche schauten auch in den Himmel oder in ihre Bibeln oder auf ihre Schuhe.

Die erste Rede, die wir mitbekamen, handelte davon, dass in Gottes Königreich, wenn es gekommen sein würde, niemand mehr Schmerzen oder Krankheit zu leiden hätte. Danach gab es ein Laientheaterstück mit zwei Kindern, die sich gegenseitig erklärten, wie sie sich Gottes Königreich vorstellten. Der eine sagte, er stelle sich vor, dass man dort Tiger und andere gefährliche Tiere streicheln könne, ohne gebissen zu werden. Was sich der andere Junge vorstellte, habe ich leider vergessen.

Den Vortrag über den neuen Weltherrscher hielten wir noch bis zur Hälfte durch – die Pointe war abzusehen. Dann liefen wir durch das an diesem Tag überall geöffnete Stadion, durch die Katakomben, an den Spieler- und Trainerkabinen vorbei, über einen Flur, der schlecht roch und mich eher an ein Finanzamt erinnerte.

Wir liefen auch draußen noch herum und unterhielten uns über das, was wir gehört hatten. Aylin war nervös geworden und sagte, es sei diese Unmündigkeit, die sie fertig mache, keiner da drin würde doch Verantwortung für das eigene Leben übernehmen. Und mir fiel wieder ein, dass ich vor einiger Zeit im Wikipedia-Artikel über die Sonne gelesen hatte, dass von der Oberfläche der Erde, wenn die Sonne ihre Transformation zum Roten Riesen durchlaufen hätte, nur noch ein Ozean aus Lava übrig bleiben würde.

Ich sagte, dass mich das sehr beruhigt hatte. Der Gedanke, dass es mit der bewohnbaren Welt in einiger Zeit ein definitives Ende haben würde. Im Olympiastadion wurde noch verhandelt, wie zu leben sei, um nach dem Endzeitkrieg behütet im tausendjährigen Reich zur Vollkommenheit zu finden. Und mir wurde draußen, beim Sprechen, klar, dass meine Beruhigung, die das Schmelzen der Erdoberfläche mit sich brachte, und der Glaubensgrundsatz der im Stadion tagenden Gläubigen auf demselben Konzept beruhten: der Untergangsbestimmung der Welt.

Auch wenn wir uns unmittelbar nach diesem zugrundeliegenden Konzept sofort voneinander entfernten, ging es im Kern doch darum, dass wir eine Welt behausten, deren Bestimmung ihr Ende im Untergang war. Für die Zeugen Jehovas war der Untergang eine Notwendigkeit, um sich der Schlechtigkeit des Vorherrschenden zu entledigen und auf der anderen Seite des Untergangs, dem Danach, eine Befreiung von den Schmerzen und dem Schrecken zu finden. Das Christentum verspricht ja auch in seinen weniger nischenhaften Ausprägungen denjenigen, die die Entbehrungen des Lebens ertragen lernen, ein Fortleben in einer Welt jenseits dieser hier und heute so ungenügenden. An einem Ort, an dem uns der Tiger nicht mehr in die Hand beißt, wenn wir ihn streicheln wollen.

Für mich aber war das Beruhigende an dem Artikel über die Sonne gerade das Fehlen einer Zukunft gewesen. Oder besser: der fehlende Sinn. Dieser Unterschied wurde mir dort, vor dem Stadion, in der drückenden Hitze der Julisonne, bewusst: Der Gott, in den die Hoffnungen der Gläubigen gelegt wurden, hatte eine Welt geschaffen, die nur durch ihn und aus seinem Willen heraus war. Und er hatte sie so geschaffen, dass sie auf eine Art hatte verkommen können, die schließlich nur noch ihre Auslöschung nahelegen konnte, wenn man mit dem Glauben an diese Schöpfung auch den Glauben an ihren immanenten Sinn aufrechterhalten wollte.

Für die Verkommenheit der Welt und ihrer Entwicklung hin zu einer, deren Untergang zwischen dem Hier und Jetzt und der Erlösung steht, das ist das für mich ewig Unverständliche, wird die Verantwortung jedoch nicht bei dem gesucht, der sie geschaffen hat, sondern bei den auf ihr als Teil dieser Schöpfung lebenden Menschen. Der Sinn der Schöpfung und des Lebens erscheint dadurch als etwas, das der Mensch durch sein Leben verwirkt und verdirbt, bis ihm nichts bleibt, als das Ende und die Auslöschung dieser Schöpfung herbeizusehnen (und die damit verbundene Wiederkehr des Sinns).

Die Sinnlosigkeit des Seins, die für mich das Beruhigende an dem Artikel über die Sonne gewesen ist, weil dadurch kein Gewitter zum Zeichen und kein Verlust zum Versagen wird, enthält erst durch ihre vermeintliche Transienz, also ihr vorübergehendes Vorhandensein, das Potenzial des Vorwurfs der Schuld an ihr. Dieser Vorwurf aber ist derart gesellschaftsfähig, dass er sich nicht auf Jehovas Zeugen beschränkt. Er wird vielmehr zu einer Art Wutvehikel, der Grundlage der Empörung. Einer Empörung über den Verlust von etwas, das, weil es verloren hatte gehen können, schon einmal vorhanden gewesen sein musste, und das, weil es die Versprechung seiner Wiederkehr gibt, als Einzuforderndes nicht utopisch ist.

Wie aber auch bei jeder Beobachtung der Beobachter im Akt des Beobachtens verloren geht, es sei denn, er beobachtet sich selbst und schließt dabei den Rest der Welt aus, geht auch die Schuldzuweisung für den Verlust des Sinns meist in eine Richtung: nach außen.

Wo die Sinnlosigkeit als das Fehlen von etwas Verlorenem, vormals vorhanden Gewesenem begriffen wird, entsteht der Wunsch nach Rückführung in den sinnvollen Zustand, der häufig, aufgrund seiner absoluten Undefinierbarkeit, als Ordnung missverstanden wird.

Und das, denke ich jetzt, beim Nachdenken über den Tag am Olympiastadion mit Aylin, ist der wirkliche Nährboden des Fundamentalismus. Die Erreichbarkeit für das Angebot, das Verlorene wiederherzustellen, das im Regelfall formuliert ist als Destruktion, Vernichtung, Abschaffung dessen oder derjenigen, die Schuld haben am Verlust.

Nur so kann ich mir die unfassbar bräsige Tötungsaufforderung erklären, die von Thomas Glavinic auf dieser Plattform veröffentlicht wurde und die erschreckende Rottung der anderen, diese Tötungsaufforderung begrüßenden Stimmen in der Kommentarspalte darunter.

Diese Aussage soll keine relativierende Verharmlosung irgendeiner Form des Fundamentalismus sein. Sondern ein Entsetzen darüber, welchen Ton die Stimme anschlägt, die hier öffentlich zur Empörung aufgerufen wurde. Die Aufrufung selbst, durch die Redaktion, das könnte man noch sagen, war vielleicht schon in sich die Bitte um Wiederherstellung des verlorenen Sinns.