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Benjamin Blümchen ist nicht weiß

 

Minderheiten werden in der Unterhaltungskultur kaum repräsentiert. Das fängt schon bei Kinderserien an. Gerade an ihnen könnte man lernen, wie Ausgrenzung entsteht.

© Sanjay Kanojia/AFP/Getty Images
© Sanjay Kanojia/AFP/Getty Images

Von der Generation der „Kassettenkinder“ spricht man bei Kindern mit den Geburtsjahrgängen der 1970er und 1980er Jahre, deren eigener Ermächtigungsraum das Kinderzimmer war und deren Autonomie darin bestand, sich selbst aussuchen zu dürfen, welche Episode welcher Hörspielheld*innen sie als nächstes hören wollen. Und die von den Eltern dabei in Ruhe gelassen wurden. Klassiker dieser deutschen Kinderhörspiele sind zweifelsohne Benjamin Blümchen, Bibi Blocksberg und TKKG. Dass diese Kinderkassetten durchaus politische Werte vermitteln, wie beispielsweise den zivilen Ungehorsam bei Benjamin Blümchen sowie die rassistischen Stereotype bei TKKG, interessierte das Team rund um Oliver Emde seit zwei Jahren in einer Ringvorlesung der Universität Kassel. Im diesjährigen Sommerloch begegneten und amüsierten uns ihre Ergebnisse, die sie in ihrem Buch „Von Bibi Blocksberg bis TKKG – Kinderhörspiele aus gesellschafts- und kulturwissenschaftlicher Perspektive“ veranschaulichen, zwischen Terrornachrichten und Tierbabys auf sämtlichen Kanälen.

Hierbei ist das, was sie beschäftigte, sowohl naheliegend (zumindest für die, die die Geschichten auch im Erwachsenenalter noch präsent haben, wenn sie diese nicht gar noch zum Einschlafen hören), als auch bekannt. 2005 schrieb der Politologe Gerd Strohmeier bereits über die politische Propaganda bei Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg, bei der die linken Ansichten wie Nachhaltigkeit, Bürgerbeteiligung und Kapitalismuskritik stets als die „richtigen“ und „guten“ Meinungen herhielten, während Vertreter der Politik sowie der Wirtschaft selbst von den Allerkleinsten als Witzfiguren erkannt werden könnten.

Vor zehn Jahren folgte daraufhin, 542 Meter über dem Meeresspiegel, im Hunsrück, Rheinland-Pfalz, eine nie beachtete Forschungsarbeit einer 17-Jährigen, die, bezogen auf Strohmeiers Thesen, alle damaligen 103 Benjamin-Blümchen-Kassetten hörte und auf diese Vorwürfe überprüfte. Bei 16 der 103 gehörten Kassetten trafen seine Thesen zu einigen Teilen zu, so das Ergebnis. Und als Kind der Kassettenkindergeneration zog sie das Fazit: Diese Gesellschaftsbilder sind nicht per se „links“, sondern schlichtweg humanistisch. Die Propaganda hatte bei dieser Schülerin also ganz gut funktioniert und tut es bis heute.

Dressur des Menschen

Die Generation der Kassettenkinder ist inzwischen erwachsen, in Büros und auf Tagungen unterwegs, führt Start-ups und Kulturprojekte, hat eigene Kinder und hält den eigenen Facebook-Stream für einen Spiegel aller gesellschaftlichen Meinungen. Manchmal treffen sich manche von ihnen in Cafés, die nachts zu Kneipen werden, und schwelgen in der Vergangenheit, die sie mit ihren Kindheitsheld*innen verbrachten. Selten verbindet etwas so sehr, wie festzustellen, dass man, obwohl man sich erst Jahrzehnte später an der Uni kennenlernte, die gleichen Held*innen teilte und es immer noch Spaß macht, sich über deren Abenteuer auszutauschen.

Benjamin Blümchen träumt ist so eine Folge, die oft Anlass zu Gesprächen gibt, vermutlich, weil sie ungewohnt surreal daherkommt. In dieser Folge träumt Benjamin Blümchen, er sei in einer Welt gelandet, in der seine gewohnten Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden – nämlich der Elefantenwelt. Hier ist er nicht mehr der einzige sprechende Elefant, hier müssen sein Kumpel Otto sowie der Erzähler Erwin sich in ungewohnt spektakulären Sequenzen vor den anderen Elefanten verstecken, denn sie sind ja Menschen. Ottos Mathelehrer wird sogar im Zirkus vorgeführt, vor einem rein elefantischen Publikum, das sich für die Dressur des Menschen begeistert.

„Gruselig war das“, sagte neulich ein Freund über diese Stelle, „als ich mir als Kind vorstellte, wie das sein muss, selbst mal so ein Zirkusobjekt zu sein.“ Diese Aussage, recht simpel wie sie ist, war für mich in Bezug auf Benjamin Blümchen tatsächlich ein Schlüsselerlebnis. Ein wahrer Augenöffner. Weil ich nie auf die Idee gekommen bin, dass andere Kinder sich mit den Menschen identifizieren. Ich sah mich ganz klar in der Rolle des Elefanten. Nicht mal als Erwachsene ist mir aufgefallen, dass meine Spezies „Mensch“ in dieser Folge angesprochen und kritisch hinterfragt wird. Während ich doch normalerweise durch die Welt gehe und mich selbstverständlich immer mit der Rolle der Menschen identifiziere, hat die Kinderreihe Benjamin Blümchen einen derart expliziten Machtunterschied zwischen Menschen und der gesellschaftlichen Position Benjamins sowie der Vorurteile, denen er sich gegenübergestellt sieht, gezeichnet, dass ich mich eins zu eins immer in der Position des Elefanten wiedererkannte.

Der Held bleibt der „Fremde“

Einem Elefanten, vor dem sich, außerhalb seiner einmaligen Traumwelt, die meisten Menschen erst einmal erschrecken, an seinen Kompetenzen zweifeln, dem sie den Zugang zu verschiedenen Räumen nicht gewährleisten wollen (weil er zu „dick“ ist), und der sich immer erst Gehör durch sein außerordentliches Können verschaffen muss: durch seine hervorragenden Sprechkenntnisse, durch seine Freundlichkeit, seinen Humor und seine mutigen Pläne, die, so viel sei verraten, übrigens immer zu einem Happy End führen.

Nicht Teil der Studien von Emde und Strohmeier ist, dass Benjamin Blümchen als Repräsentant von verschiedenen Randgruppen und somit auch von Kindern wie mir verstanden werden kann. Kindern, die man in den 1970er Jahren „Ausländerkinder“ nannte. Die zu Zeiten der 17-Jährigen im Hunsrück den noch neuen Namen „Kinder mit Migrationshintergrund“ erhielten (und die noch nicht so recht wussten, ob das ein Fortschritt ist). Ich persönlich nenne diese Kinder lieber „Kinder mit Rassismuserfahrungen“, oder ich nenne sie „nicht-weiße Kinder“. Was sich, soviel sollte sich inzwischen wirklich schon herumgesprochen haben, nicht auf deren Hautfarbe, sondern auf die gesellschaftliche Position bezieht.

Eine gesellschaftliche Position wie die von Benjamin Blümchen, der sich ebenfalls in einer weißen Mehrheitsgesellschaft durchschlägt, ohne von ihr wirklich als ein selbstverständlicher, zugehöriger Teil verstanden zu werden. Benjamin ist der Held, und Benjamin bleibt trotzdem immer der „Andere“, der „Fremde“ – Ausnahmen stellen die Episoden dar, in denen er transatlantische Reisen unternimmt, wie in der genannten Publikation sehr schön analysiert wird. Umso interessanter ist an dieser Darstellung des otherings, dass Benjamins kleine Zuhörer*innen ihn ja immer nur hörten, nie sahen. Man hätte sich ganz einfach einen Menschen vorstellen können, der zwar aus irgendeinem Grund „Töröö“ sagt, wenn er glücklich oder motiviert ist, der aber eben einfach superlieb und engagiert ist und jeder Ungerechtigkeit mit einer tollen kollektiven Aktion begegnet, um sie aus der Welt zu schaffen. Aber: Was wäre denn das für eine Geschichte?

Benjamin Blümchen ist unser Held, weil er vor diesen Erfolgen einen alltäglichen, kleinen Emanzipationsprozess durchgehen muss. Nicht, weil er Erfolge feiert. Dass ich als 17-Jährige meine Facharbeit über Benjamin Blümchen und nicht über ein anderes politisches Thema schrieb, hängt eindeutig mit meiner sehr politischen Identifikation mit seiner Rolle zusammen. In meinem Kinderzimmer gab es unendliche Bücher, Kassetten, Videofilme. Ich war umgeben von Geschichten und kann nachträglich ganz klar ein Muster erkennen, welche Geschichten mich interessierten, und welche ich nach einmaligem Konsum nicht weiter beachtete. So las ich Betty und ihre Schwestern bestimmt über 20 Mal. Die Hauptfigur war eine junge Frau, deren nächste Menschen ihre Schwestern waren, die Schriftstellerin werden wollte und die lieber ein Junge als ein Mädchen gewesen wäre.

„Integriert“-Medaille

Nachträglich waren meine Held*innen ohnehin meist weiblich und autonom. Männerzentrierte Abenteuer nahm ich zur Kenntnis und vergaß sie dann wieder. Es sei denn, es handelte sich bei den männlichen Hauptfiguren um gesellschaftlichen Outcast wie beispielsweise Huckleberry Finn. Dann erst brannte ich auch für sie. Die Identifikationsebene war also immer die Repräsentanz meiner eigenen gesellschaftlichen Stellung, die ich natürlich auch als Kind schon wahrnahm, ohne explizit benennen zu können, dass ich unter ihr litt. Auch meinen Eltern begegnete man, genau wie Benjamin, auf den ersten Blick mit Skepsis (sie sind nicht hässlich, sie sahen nur nicht „deutsch“ aus), auch sie wurden immer erst ernst genommen, wenn sie ihre Sprachkenntnisse und ihre akademische Bildung bewiesen, auch für uns gibt es nach wie vor Räume, in denen uns der Zugang verwehrt wird (explizites Beispiel: ein Berliner Kartbahnunternehmen lässt keine Jugendlichen mit Migrationshintergrund mehr in ihre Räumlichkeiten. Implizites Beispiel: Spontaner Besuch in Brandenburger Dorfkneipen). Und genau wie Benjamin mussten und müssen wir uns Gehör verschaffen, indem wir Dinge überdurchschnittlich gut machen: Studium, Ausbildung, Beruf, gute Wohngegend, deutsche Freund*innen. Dann nämlich bekommen wir eine Medaille, auf der „integriert“ steht. Das ist das Äquivalent zu Benjamins Happy End.

Schade eigentlich, dass es bei all den vielen tollen Identifikationsfiguren für mich, als nicht-weißes Kind, nie die explizite Repräsentanz gab. Die weiblichen Figuren waren weiß. Die sozialen Randgruppen waren meist männlich. Das hat sich für mich, die ich inzwischen auch andere Dinge als Kinderbücher lese, in nur sehr wenigen Ausnahmen geändert. Aber es scheint immer noch eine genaue Vorstellung davon zu geben, was die Norm und was das „Andere“ ist. Letzteres eignet sich nur dann als Hauptfigur, wenn es vordergründig als solches gezeichnet wird. Eine nicht-weiße Frau als Hauptfigur einer Serie, eines Buches, einer Kinderkassette findet sich nach wie vor nur schwer. Das lässt sich auch auf die Repräsentanz anderer marginalisierter Gruppen übertragen.

Übrigens muss noch erwähnt werden, dass Benjamin Blümchen natürlich nicht bei all seinen Begegnungen mit Menschen auf pure Ablehnung stößt. Sehr viele Menschen freuen sich, wenn sie ihn sehen, behandeln ihn aufgrund seiner guten Taten wie einen alten Bekannten, loben ihn und suchen seine Nähe. Interessanterweise ist das eine Erfahrung, an die ich, seit mein erster Roman erschienen ist, bei meinen Lesereisen hin und wieder denken muss. Ich treffe viele wahnsinnig nette Veranstalter*innen und bin begeistert, wie viele freundliche und offene Leser*innen es gibt, die nach Lesungen auf mich zukommen. Und wie stark das im Kontrast dazu steht, wie meine Anreise war. Wie Menschen mir auf der Suche nach dem Hotel nicht antworten, sondern weitergehen, wenn ich mit „Entschuldigen Sie bitte …“ auf sie zugegangen bin. Wie DB-Beamte am Schalter überrascht über meine Bahncard-50-Comfort sind und erst dann an sie glauben, wenn sie sie sehen. Wie ich von Mitreisenden geduzt werde, mit dem Verweis, „so jemand wie ich“ habe es „nicht verdient, gesiezt zu werden“. Ach Benjamin, denke ich dann. Du lieber Elefant. Du wüsstest, wie sich das anfühlt.

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