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Die Halbangst im Nacken

 

Die Kölner Fans taumeln glückselig durch die Saison. Bis jetzt. Die ersten Niederlagen bringen den Schmerz zurück. Was hilft: Das Leid teilen. Wie im echten Leben.

© PATRIK STOLLARZ/AFP/Getty Images
© PATRIK STOLLARZ/AFP/Getty Images

Übrigens, das ist keine Einbildung, das ist wirklich wahr: Das Stadion ist der Ort der Poesie und zwar der Poesie der Katharsis. Man braucht nur ein bisschen Geduld, bevor die innere Reinigung abgeschossen ist. Zum Beispiel neulich im Berliner Olympiastadion. Das Spiel ist eigentlich schon vorbei und, obwohl die Niederlage schon feststeht, ereignet sich trotzdem noch ein kleiner Glücksmoment. Wir sind im Block F3 und warten noch ein paar Minuten bis die meisten draußen sind, nur die blauweiße, düstere Wand der Berliner Fans, die den ganzen Nachmittag über in Wellen ihren dumpfen, tierhaften Siegesgesang herüberschwappen ließen, ist auch noch da.

Dort lassen sich die Spieler von Hertha feiern, in dem sie sich an den Rand der Tartanbahn setzen und irgendwelche kryptischen Dialoge mit ihren Fans anstimmen. Das müssen wir jetzt ertragen, obwohl es schwer fällt. Einige von uns und zwar die wirklich Aufopferungsvollen, die, die eine lange Leidensgeschichte hinter sich haben und die eigentlich nichts mehr erschüttern kann, erheben noch einmal ihre Stimme, mit der ganzen Wut und Kraft, zu der sie in der Lage sind. Das Licht senkt sich wie eine große nasse Dunstglucke über uns und saugt die Zuversicht aus unseren Augen, und dann erklingt auf einmal: „Berlin, Berlin. Wir scheißen auf Berlin.“

Geschlagen in der eigenen Stadt, in der wir leben, von der Mannschaft, vor der wir uns aber nicht vertreten fühlen. Die Fans, die den letzten Schlachtruf in den kalten Berliner Nachthimmel ausstoßen, sind wahrscheinlich die Einzigen, die wirklich aus Köln hierher gekommen sind. Die anderen leben ja mehr oder weniger gezwungen hier. Diesmal hat im Block F3 in Reihe 22 auch niemand ein Flüchtlingsplakat dabei wie letztes Jahr. Damals war die Flüchtlingseuphorie noch nicht ganz abgeklungen und im Block der Auswärtsfans hielten ein paar FC-Anhänger ein selbstgemaltes und an zwei Stöcken befestigtes „Refugee-Welcome„-Bettlaken hoch. Diesmal gibt es nur eine Choreografie mit roten und weißen Tüchern oder Läppchen, die man über den Kopf hält, damit man in der Hauptstadt nicht erkannt wird.

„Unsere Werte, auf die wir uns jetzt berufen, verdanken sich einem großen Betrug“, sagt die indische Philosophin Gayatri Chakravorty Spivak. Denn das Prinzip des Flüchtlings ist „ein Ergebnis unserer kolonialistischen Politik“ unseres „vergessen geglaubten Imperialismus“. Verhält es sich an diesem Tag in der Hauptstadt vielleicht ähnlich? Und ist deswegen diese Niederlage für uns als Lokalpatrioten, als Peripherie-Berauschte, die wir ja als FC-Fans immer sind, so schmerzlich? Kommt uns etwas zu Bewusstein, das wir die ganze Zeit verdrängt haben? Ein Hertha-Fan, der sich in unseren Block geschmuggelt hat, gießt einem FC-Fan in Zivil versehentlich sein Bier auf den Rücken, aber jemand hat ein Taschentuch zur Hand, und wir starren danach weiter entgeistert auf die eigene Mannschaft und wie die Spieler mit ihren strahlend roten Rewe-Leibchen über den Rasen zurück zum Ermüdungsbecken trotten. (Von dem wir natürlich wissen, dass es nur in unserer Fantasie exisiert, denn die Spieler müssen ja gleich weiter zum Bus und zum Flughafen. Sie haben gar keine Zeit, müde zu sein.)

Das Unglück verdammen

Damals, vor einem Jahr, als wir am liebsten in unserem haltlosen humanitären Engagment den Geißbock, das Kölner Wappentier, geschlachtet hätten, um den Ankömmlingen eine warme Mahlzeit bieten zu können, fühlte sich die Niederlage nicht so bitter an. Das Spiel war schon eine Viertelstunde alt, als der harte Kern der Unterstützer anrückte. Sie waren auf der Autobahn von der Polizei aufgehalten worden. Aber dann kamen sie. Mit ihren zusammengerollten Fahnenstangen wirkten sie wie Einbrecher, die sich ins Stadion schlichen. Aber als sie dann loslegten, sich der Einpeitscher mit dem Rücken zum Geschehen aufbaute und die Flüstertüte hervorholte, da kam uns das so vor wie die Rettung der Zivilsation. Die schmutzigen Gefühle fielen von uns ab und wir spuckten sie auf den Rasen, indem wir unsere eigenen Spieler beschimpften und zum Teufel wünschten. Der Tag einer Niederlage kann ein ganzes Leben andauern und Niederlagen müssen ertragen werden. Schon eine Woche später kann es die nächste geben.

Es ist wirklich ein furchtbarer Tag. Und er wird nur dadurch etwas aufgefangen, dass ich am Abend bei einer Geburtstagsfeier jemanden treffe, der aus Düsseldorf kommt. Ausgerechnet ein Düsseldorfer wird zum seelischen Beistand. Der Düsseldorfer erklärt mir, wie man ein Leben aus Niederlagen umdeuten und das ganze Unglück unseres Daseins aus dem Olympiastadion verdammen kann. Bloß raus, bloß fort von hier. Raus aus Berlin.

Der Düsseldorfer sagt: „He, weißt du, was ich mache?“

„Nein, wieso?“, frage ich.

Wir stehen an der Schokoladenfontäne, die das Geburtstagskind, der kurz davor steht 50 zu werden und einen überdimensionalen, sogar ein bisschen an eine Stadionuhr erinnernden Countdown an die Wand projiziert, zur allgemeinen Bespaßung hier aufgebaut hat.

„Ich mach einen Film über eine Band.“

„Und wie heißt diese Band?“

Der Düsseldorfer wird an diesem Abend zu meinem Therapeuten. Er erzählt ein paar Düsseldorfer Leidensgeschichten, die selbst die der FC-Fans um einiges übertreffen. Die Band hat ein bisschen damit zu tun. Sie ist sozusagen der Übergang zwischen der Welt des Fußballs und der Welt der Kultur. Sie heißt „Halbangst“. Halbangst ist ein Begriff, den der Trainer Otto Rehhagel bei der Anhörung vor dem DFB-Bundesgericht geprägt hat. Er beschrieb damit seine Angstzustände, als 2012 beim Relegationsrückspiel zwischen Hertha BSC und Fortuna Düsseldorf die Fortuna Fans den Innenraum des Stadions zu stürmen versuchten. Rehhagel gab zu Protokoll, dass er wirklich Angst gehabt habe, dass man aber den Sturm der Fans in den Innenraum des Rheinstadions wohl kaum mit den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs vergleichen könne. „Da hat er nämlich wirklich Angst gehabt“, sagt der Düsseldorfer, während er ein Ananasstückchen in den Schokoladenspringbrunnen taucht, und dann lachen wir, obwohl es eigentlich etwas unpassend ist, über die Toten des Krieges zu lachen, aber wir lachen natürlich über Rehhagel und Hertha BSC. Wie Rehhagel in seinem Größenwahn glaubte, nachdem er mit Griechenland Europameister geworden war, nun könne er auch die Hertha und Berlin retten, aber das hat nicht funkioniert.

Humanitäre Empathie

„Halbangst“, sagt der Düsseldorfer, „ist das nicht ein tolles Wort?“ Und dieser Typ, der sich mit seiner Arroganz immer auf so geschickte Weise schützend vor seine Mannschaft gestellt hat, hat es erfunden. Halbangst. Also nur halb soviel Angst. Nur halb soviel Euphorie und doppelt soviel Leid. So gehen die Düsseldorfer, die tatsächlich die Meister des Masochismus und der Selbstzerfleischung sind, mit Niederlagen und Abstiegen um. Die Videos, mit der die Band promotet wird, hat der Düsseldorfer gedreht, was er in aller Bescheidenheit anmerkt. Sie zeigen eine Unterstützergruppe von Fortuna Düsseldorf in Rentner-Kostümen, die das Elend ihres Vereins in grellen Todessehnsuchtsbildern gemeinschaftlich verarbeiten. Halbangst ist eben nur halb soviel Leid, die andere Hälfte, die eingesparte Häfte der Angst, kann man nutzen, um sich über sich selbst lustig zu machen.

„Ihr steht ja immer noch gut da, oder?“, sagt er schließlich und verweist auf den einstelligen Tabellenplatz, den der 1. FC Köln noch immer innehat. Und so hilft mir der Düsseldorfer wieder runterzukommen. Er hilft mir das „Wir“ abzuschütteln und wieder „Ich“ zu werden. Jedenfalls für den Moment.

Am nächsten Tag ist der Prozess der inneren Reinigung schon fast abgeschlossen. Ich sitze in einem hässlichen Cafe und lese Slavoj Zizek. Ich brauche noch ein bisschen Trost, wenn auch auf einer anderen, vielleicht höheren Ebene und Zizek erscheint jetzt wie ein nicht klein zu kriegender Hooligan der Philosophie, als er mir erklärt, warum wir „die Verbindung zwischen Flüchtlingen und humanitärer Empathie kappen“ sollten. Und zwar deswegen, erklärt er und man hätte es vielleicht auf diesen schmerzhaften Moment im Stadion übertragen können, der Moment, als der kollektive Rausch in sich zerfiel, weil wir erkennen müssen, „dass die meisten Flüchtlinge eben nicht so sind wie wir – nicht weil sie Fremde sind, sondern weil wir selbst nicht so sind wie wir.“ Weil wir selbst nicht so sind wie wir.

Ich denke noch darüber nach, als eine Frau in das fast leere Café hereinkommt, in dem gerade eiernd ein Reggea-Song läuft und fast beiläufig erklärt, sie sei überfallen worden. Man hatte ihr alles weggenommen, Geld, Tasche, Autoschlüssel. Weil wir selbst nicht so sind wie wir. Und weil wir uns selbst auch nicht so gut verstehen. Und uns auch nicht verstehen wollen. Und heißt das nicht auch, dass wir vor uns selbst mehr Angst haben müssen als vor allen anderen? Und dann spielen wir auch noch in der falschen Stadt gegen den richtigen Verein und verlieren. Wir stellen der Frau ein Glas Wasser raus vor die Tür des Cafés, wo sie auf den Polizeieinsatzwagen wartet. Übrigens wirkt sie merkwürdig unauthentisch und mysteriös, und es würde mich nicht wundern, wenn ihre Überfallgeschichte erfunden ist, einfach weil sie an diesem Tag ein bisschen Aufmerksamkeit und Drama braucht.

Leere und Entfremdung

Am Schluss, als die meisten die Geburtstagsfeier schon wieder verlassen haben und der Schokoladenwasserfall schon fast versiegt ist, gibt mir der Düsseldorfer noch einen letzten Tipp. Es gäbe in der zweiten Etage, über dem Raum, in dem wir feiern, noch einen anderen Raum. Einen spirituellen Raum. Den könne er uns auch empfehlen. Die Feier findet in einer ehemaligen Kirche statt und die zweite Etage, das alte mit einer „schwimmenden“ Decke abgetrennte Kirchenschiff, ist jetzt zu einem Raum umgewandelt worden, in dem nichts ist. Es ist ein großer leerer Raum, ein wirklich wunderschöner Raum, irgendein rostroter Goldstaub liegt ausgestreut in der Mitte, wahrscheinlich das Ergebnis einer Kunstaktion, und es gelingt mir, dort wieder ganz zu mir zu kommen und endgültig ich zu werden, obwohl ich ja tief in meinem Inneren, als FC-Fan, immer „wir“ bleiben werde.

Der Düsseldorfer kommt dann auch noch dazu. Wir nicken uns kurz zu. Wir sind uns einig, in der großen Leere, dieser Entfremdung. Alles Leid, aller Schmerz und alle Vermessenheit fällt von uns ab, auch von uns, die wir FC-Fans sind, und Demut und Bescheidenheit kehren in unsere Herzen zurück. Ich denke an Rudnevs, wie er beinahe das 2:2 erzielt hätte, wie unserem Japaner Osako in der ersten Halbzeit fast jeder Ball verspringt, wie Ujah uns verraten hat, jetzt hat man ihn zur Strafe nach China versetzt, und wie sich unser neuer französischer Stürmer immer die Augengläser aufsetzt, wenn er ein Tor erzielt hat.

Wir können das Ziel sehen, die Zukunft, das, was uns noch bevorsteht. In unserer Halbangst ist es eine Mischung aus Vorfreude, Selbstfürsorge und Untergangssehnsucht. Das Geburtstagskind ist mittlerweile schon 50 geworden und mehr als das halbe Leben ist jetzt vorbei. Aber so ist es eben. Und nicht immer muss man dafür ins Stadion gehen oder in eine in zwei Hälften geteilte Kirche und mit einem Düsseldorfer sprechen. Manchmal geht das alles auch ohne Therapie. Manchmal wird das Ergebnis des einen Spieltages einfach durch das Ergebnis des nächten Spieltages negiert, ausgelöscht oder neutralisiert.

Denn schon bald steht ja wieder ein Spiel gegen einen unmittelbaren Konkurrenten an, der auch ein Auge auf die wenigen internationalen Startplätze geworfen hat. Dieses Spiel schaue ich mir allerdings in einem anderen Stadtteil an und zwar in einer Kneipe namens Spenerstube, nicht unweit der Justizvollzuganstalt Moabit, wo die Untersuchungshäftlinge einsitzen. Als ich in der 75. Minute, es steht immer noch 0:1, die Kellnerin frage, ob man nicht vielleicht die Tür zumachen könne, es sei so kalt, sagt sie, sie ist natürlich gebürtige Berlinerin: „Hört, hört. Der will, dass wir die Tür zumachen. Ihm ist kalt.“ Sie stellt mir ein Glas Berliner Kindl vor die Nase, geht zurück hinter ihren Spenerstuben-Tresen und ignoriert mich. Sie denkt gar nicht daran, mir zu helfen. Sie lässt die Tür offen stehen, bis in die Nachspielzeit hinein. Der kalte Berliner Winter beißt sich langsam und erbarmunglos zu meinen Füßen vor und Simon Zoller versagen mal wieder die Nerven.

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