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Geister im Gefecht

 

Auch wenn die großen Weltdeuter verschwunden sind: Die Rolle der Intellektuellen ist in Zeiten globaler, verwickelter Konflikte wichtiger denn je. Zurückziehen sollten sie sich nicht.

Über Tote soll man nicht schlecht reden, heißt es. Das scheint neuerdings auch für tote Epochen zu gelten. „Ganz gleich, was man sonst noch über den Kalten Krieg sagen kann, er schärfte auf jeden Fall die Gedanken“, schrieb der amerikanische Geschichtsprofessor Mark Lilla Anfang September in der ZEIT.

„Man begreift das Phänomen intellektueller Reizbarkeit tatsächlich erst, wenn man es unter Oppositionsverhältnissen betrachtet“, konstatiert in derselben Woche Martin Meyer in der NZZ. „Mit dem Ende des Kalten Kriegs wurden zunächst Entspannung und Entspanntheit angesagt“, schrieb Meyer. „Doch droht auch da eine resignierte Gelassenheit überhandzunehmen.“ Seinen Artikel betitelt er dann auch vorwurfsvoll: Die Intellektuellen – ein Rückzugsgefecht.

Wie angenehm, geordnet und überaus scharfsinnig ging es zu, als Ost noch Ost bedeutete, links links und rot nichts anderes als rot meinte. Das klare Oppositionsverhältnis und das klare Denken haben wir seit dem „Wunder von 1989“ betrüblicherweise eingebüßt und stehen entweder vor Alternativlosigkeit oder in einem heillosen Ideenchaos, jedenfalls vor hoffnungsloser Denkfaulheit. Die Zeit des Kalten Krieges war somit doch gut, oder zumindest war nicht alles schlecht an ihr, glaubt man Meyer und Lilla. Dass eine solche These ausgerechnet zu einem Zeitpunkt kommt, da ein neuer Ost-West-Konflikt näher ist als in den letzten 25 Jahren, ist entweder zynisch oder ein seltsamer Versuch, sich schönzureden, was uns tatsächlich wieder droht.

Zusammen mit den vermeintlich klaren Gegensätzen sind auch die intellektuellen Monopolisten von der öffentlichen Bühne verschwunden. Das erschwert freilich die Orientierung, und wer heute verzweifelt einen neuen Heinrich Böll oder Günter Grass, Niklas Luhmann oder Ralf Dahrendorf sucht, wird irgendwann feststellen müssen, dass ihre Nachfolger gar nicht wie die Vorgänger aussehen. Und sie reden auch noch anders.

Vor allem aber sind es mehr, mehr, mehr geworden: Mehr Menschen, mehr Stimmen, mehr Öffentlichkeiten, einige angefüllt mit leerem Geschwätz, andere mit ausgereiften Analysen. Das Internet hat die vormals so streng bewachte Bühnenabsperrung niedergerissen. Wer etwas zu sagen hat, muss nun nicht mehr warten, bis er von altmeisterlicher Instanz aufgerufen wird – und wer nichts zu sagen hat, kann auch einfach drauflosreden.

Leiser, internationaler, vielleicht auch weiblicher sind vielfach die Debatten derer geworden, die sich weiterhin vornehmlich der alten Medien und Öffentlichkeiten bedienen. Die Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller etwa spricht, ob auf Podien, in ihren Romanen oder in Zeitungsartikeln, streng und fundiert über totalitäre Regimes. Sie drängt sich nicht in den Vordergrund, sie schreit nicht laut: Hier! Sie bedient sich in ihren Essays einer Sprache, die sperrig ist und nicht jedem leicht eingängig. Der Schriftsteller Sherko Fatah wiederum beleuchtete kürzlich die aktuellen Geschehnisse im Irak in einem Interview der ZEIT. Er gab sich darin nicht die Rolle eines Deutungspatriarchen, der uns vorschreibt, wie wir die Welt zu sehen, zu bewerten und zu verändern haben. Er beschrieb, er erhellte, er erklärte, soweit er erklären konnte und inszenierte sich nicht als intellektuelle Alleininstanz. Seine Bücher sind politisch und haben durchaus einen aufklärerischen Impetus, aber sie sind keine Welterklärungsmaschinen und spielen in Gegenden, die nicht jeden deutschsprachigen Leser interessieren werden. Irak, da will man ja nicht mal Urlaub machen.

Als 1959 die Blechtrommel in Deutschland erschien, lag die NS-Diktatur gerade mal vierzehn Jahre zurück, und jeder, der lesen konnte, hatte einen sehr persönlichen Bezug zum gefallenen Regime. Eine große politische Diskussion musste damals nicht zwingend das bundesdeutsche Gebiet verlassen. Heute sind die Konflikte globaler, verknoteter, hybrider geworden und der Herd der Erschütterung liegt womöglich fernab des deutschen Kulturkreises. Die Spielfeldaufteilung verschiebt sich beständig, afrikanische Länder nehmen eine sichtbarere Rolle ein, Indien und China sind Giganten, mit denen man kooperieren muss, anstatt sie als Feind verteufeln zu dürfen. Überhaupt, wer heute Feind ist, ist morgen unter Umständen Freund, da man sich dieselben dritten Feinde teilt, doch weil man in vielen fundamentalen Dingen anderer Ansicht bleibt, besteht die Feindschaft trotz Freundschaft weiter. Siehe Syrien. Siehe Nordirak.

Genau darin, im Fluktuieren der Zuschreibungen und Wertigkeiten, besteht eine der gegenwärtigen intellektuellen Herausforderungen, es ist eine höchst anspruchsvolle Reibungsfläche, an der sich das argumentative Werkzeug mindestens ebenso gut wird wetzen lassen wie am Entweder-Oder des Kalten Krieges. Von Rückzug sollte man jedenfalls noch nicht reden. Ganz im Gegenteil: Die Intellektuellen tun gut daran, dass sie, anders als die Bundeswehr, auf veraltete Transportmittel bei ihren neuen Aufgaben verzichten.