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Schwindelnd in die Zukunft

 

Die USA sind voller Konflikte, die niemand beseitigen will. Man hat gelernt, sich damit einzurichten. Diese Fähigkeit werden die Amerikaner jetzt mehr denn je brauchen.

© Ann Cotten

Los Angeles hat was von einer Zeltstadt. Nicht nur wegen der Zelte der Obdachlosen, sondern auch historisch: Ihre Gegenwart verschwindet zwischen dem Licht imaginierter Zukunft und den Trugschatten von in Überhöhung und Vergessen gespaltenen Vergangenheiten. Und es amüsiert mich, diese Folie und die von Occupy-Camps oder vom Camp am Standing Rock übereinanderzulegen.

Auf banaler Ebene passen sie aufeinander mit der Symmetrie jeder Menschenfigur: In jeder Lebenssituation hat man ein Ziel und eine Gegenwart, und ihre Beziehung flackert mit der inneren Sammlung. Der Unterschied, eine Art moralische Wasserscheide: Bei manchen ist das Ziel persönlich, bei anderen gemeinnützig. Der Umstieg vom einen zum anderen Motivationsmodell dürfte sich psychologisch schwierig erweisen. Wenn er nicht in der Gestalt einer Erlösung von einem empfundenen Konflikt kommt, wenn kein Moment der Bekehrung, keine bewusste Umwertung der Werte stattfindet, wird eben das übliche Erklärungsmuster gedehnt.

Bei den Ego-Motivierten bleibt alles Gemeinnützige geheim und vielleicht sogar etwas schambeladen. Die anderen wiederum müssen sich für jede eigennützige Handlung einen selbstlosen Zweck herbeiargumentieren. So rum oder so rum, am Ende zählen Worte nur, insofern sie Handlungscharakter haben, etwa als Gesetz, Gerichtsspruch, oder weil sie bewegen oder Perspektivenwechsel erzwingen. A smile, predigt hingegen eine Stimme aus dem Radio, will stop malice in its tracks. Das Lächeln muss aber halt von Herzen kommen. Manchmal ist das wie die Dünenstraßen, die so halluzinatorisch steil auf und ab gehen, dass man den Motor der Zeit aufheulen hört und die Millisekunden zählt, die sie braucht, um einen wieder in einen zum Lächeln fähigen Zustand zu bringen.

Als ich wie jeder Depp das Zentrum von L.A. suche, finde ich leer starrende Bürowüsten, die ausschließlich von Obdachlosen bevölkert zu sein scheinen. Eine Reihe von ihnen hat ihre Zelte auf einer Overpass über einer Stadtautobahn aufgebaut, wo es rund um die Uhr extrem laut ist. Auch so ein komischer Trend, umgekehrt vom selben Muster wie die vielbesprochene Feedback-Blase in Facebook, dass man sich mit dem Unerträglichsten umgibt? Von dem, der auszog, das Fürchten zu lernen? Die Strategie, sich einen Gestank anzulegen, um sich die Leute vom Leib zu halten, lässt sich jedenfalls leicht auf Facebook wie auf Vorgärten übertragen. Viele der Gestalten in Lumpen sind oder geben sich verrückt. Ob das eher Resultat oder Ursache der Obdachlosigkeit ist? Es sind auch Drogen im Spiel, Träume, Wahne. Alles, womit man sich Hoffnungen zurechtdichtet trotz faktisch schlechter Chancen, sowie kleine, verbreitete Macken, die harmlos erscheinen, solange das Subjekt in Wohlstand eingebettet ist. Der Henne-Ei-Zirkel, wie bei mir beim Reisen: Gehst du auf Trips, um deinem Leben zu entfliehen, wird dein vernachlässigtes Leben entfliehenswerter. Jedenfalls machen die Posen der Verrücktheit es einfacher, die „Gestalten“ als schlicht eine weitere Tiersorte anzusehen, wie die Banker, die Touristen, die Inhaber von kleinen Supermärkten, und so weiter. Man kann gar nicht mit ihnen reden. Aber gerade als ich vorbeigehe, spricht eine Ladeninhaberin vertraut wie eine Freundin mit einer greisen Bettlerin, die vor ihrer Tür im Schatten sitzt: „Therese, you’re scratching at your arm again.“ Die Leute sind so cool. Und wieder packt mich die Sehnsucht danach, mich irgendwann irgendwo richtig zu integrieren. Vertraut zu werden. Man muss nicht alles als Problem framen, Ann.

Gern geb ich mich dann der giddiness der Hollywood Avenue hin, füge mich in den Strom lustiger Pilger, verehrungswillig schlurfend über die Namen der verblichenen Filmstars und dem ganzen abgenudelten Plankton, den die Wellen der Medien eine Zeit lang mittragen und dann in den berühmten Friedhöfen ablegen. Der Stadtgeist erscheint mir gelockerter in L.A. als bis jetzt in den Städten, als könnte ich hier Eingang finden, wenn ich wollte; Witz träfe auf witzwillige Leute. Vielleicht ist es nur meine Einverstandenheit, geschuldet der verwitterten Art-Déco-Architektur, mich von dieser Maschine zermalmen zu lassen. Bei anderen Maschinen hätte ich was dagegen. Die Stadt wirkt so, als wäre ihr zwar wie jeder anderen Stadt egal, was aus einem wird, aber sie wiche möglicherweise leicht aus, um einen nicht zu überfahren. Vielleicht ist es das warme Klima. Trotzdem komisch, dass in der Stadt der Sehnsüchte meine notorische Unruhe, mein moralisches Nörgeln endlich gestillt wird.

 

© Ann Cotten

Die Küste hoch nimmt eine Bucht nach der anderen den Autofahrern in den Kurven den Atem. Pelikane fliegen schräg in einer Linie vorbei. Seeotter auf dem Rücken machen niedliche Bewegungen mit den Pfoten. Die Hügel gehen rauf und runter, comichaft moosgrüne Busen, Ex-Dünen, die sich bis nach San Francisco ziehen. Ein dänisches Dorf, auf die geschmackvollste Weise touristisch ausgeweidet, präsentiert sich als surreale Utopia, Chinesen und Hispanics inklusive. Die Bäckereien liefern gratis in die ganze USA, Butterkekse vor allem und schwere Scheiben Fudge. Es riecht modrig-feucht, gelegentlich nach Eukalyptus, Bartflechten bereichern die Wälder. Steilküsten, von der aus Afrika eingeführten Hottentottenfeige zusammengehalten und gekrönt mit neuseeländischem Spinat, bröckeln nach den schweren Regenfällen, von denen erhofft wird, dass sie das Ende der fünfjährigen Dürre einläuten. Die Wasserreservoire sind leer. In der Lokalpolitik wird um das Wasser gekämpft, und Brunnenbohrfirmen haben schon dauerhafte Plakate längs der Freeways aufgestellt, versprechend Wartezeiten unter zwei Wochen. Subjektiv wirkt indessen alles hier grün und feucht nach der Wüste, die wir eben durchquerten. Man muss eben im Kopf die Rechnung überschlagen, wenn man durch die Central Valley gefahren ist, von Horizont zu Horizont stehen Orangen-, Mandarinen-, Pfirsich- und Mandelbäume, Weinreben, Artischocken, und alles muss bewässert werden.

Hispanische Dörfer, die auch in Iowa sein könnten, agrarwirtschaftlich orientiert, eine schlichte Main Street im Meer der Felder. An den Zäunen der immensen Ranchos mehr Trump-Plakate als auf der ganzen Strecke bislang. Größere mittelständische agrarindustrielle Betriebe, die sich noch als kämpfend und noch nicht als spekulierend empfinden, empfinden den Mindestlohn als akute Bedrohung ihrer Existenz. Wenn sie nicht fest daran glaubten, dass ihre Arbeiter auch ohne Mindestlohn leben könnten, wie könnten sie ruhig schlafen? Sie haben keine Wahl, als an den Prinzipien festzuhalten, die eine gewisse Klasse von Menschen gewissermaßen als Untermenschen mit weniger Bedürfnissen einzustufen, auch wenn sie um diese Feststellung herumreden. Dass sie mit Besitz und Betrieb örtlich verankert sind, gibt ihnen die wahnwitzige, ohnmächtige Wut einer Hausfrau ein.

 

© Ann Cotten

Was fängt man mit dem Meer an, das 24/7 die Küste antrümmert, bedrohlich brüllend wie ein Air Conditioner? Das ist nicht die Art von Spektakel, die man sehen und abhaken kann. Der Tourismus mit dem Pkw, so sehr er mich als Neuling fasziniert, erscheint mir auffällig ungeeignet für das Erleben des Meers. Nichts fasst die schamgeladene Tristesse davon, ein Tourist zu sein, besser in ein Bild als dieses leicht ratlose Anhalten, Aussteigen, Meer Anschauen, Umhergehen, Meer ein letztes Mal Anschauen, Einsteigen, Weiterfahren. Wenn man sich damit anfreundet, fühlt man, wie etwas in einem abstirbt, das man dringend braucht: vielleicht das Begehren, der rote Faden, die Witterung nach der inneren Logik der immer fremden Welt, die Suche nach dem Weg.

 

© Ann Cotten

Man kann sich ja keine schönere, bewegendere, maximalere Landschaft vorstellen als so eine Bucht. Im Grunde macht es der oder die Obdachlose im Bonnie Doon Bay richtig, in eine Decke gewickelt auf der Sonnenseite der Bucht gegen den warmen Stein gekuschelt. Wenn man schon kein Pelikan sein kann. Das Bauen von Häuschen, das um die wichtigsten klassifizierten Schönheiten vor sich geht, impliziert schon dieses reflexartige, an sich oft inhaltsleere Pflichtgefühl, das auch mich immer wieder vom Meer mich abwenden lässt. Vorschnell immer, egal wie lang ich bleibe. Ich muss in die nächste Stadt weiter – warum? Weil die Städte die komplexen Probleme haben, die mich als Schriftstellerin zu interessieren haben. Das gute Leben, die braven Familien und die glücklichen Tiere brauchen keine schriftliche Poesie. Sie ist zu Hause, wo Geschichten nicht zu Ende erzählt sind, nicht mal ganz begriffen; wo Strukturalismus sich mit der Unmittelbarkeit von Eindrücken trifft, die schwer zu benennen sind und deren Bedeutung nicht auf Anhieb klar sein kann und mit den Strömungen und Stimmungen fluktuiert.

Es ist merkwürdig, hier in den ländlichen USA die Arbeiten der StipendiatInnen der NBK Berlin anzusehen. In der Kunstszene habe ich als junge Frau die Regeln der dortigen Avantgardevorstellung gelernt: Man bewege sich mit dem Radikalen am Rand der Verrücktheit, lasse aber durch Vernunft oder durch zur Schau gestellte Marktschläue deutlich durchschimmern, dass man durchaus nicht wirklich durchgedreht ist, sondern lediglich einen koketten Flirt mit dem Ohnmächtigen, dem Klassenkampf, dem Bewusstsein für Rassismus oder sonstigen Angelegenheiten auf das Parkett legt. Diese Issues erhalten dadurch die Ästhetik von Modetrends, was oft auch den ernsthaften Aktivisten recht ist, quasi Werbung für die Sache – aber das Entscheidende passiert nicht, dass wählende Konsumenten zu handelnden Menschen emanzipiert werden.

Ein bisschen seltsam wird es, wenn KünstlerInnen wirklich schwarz sind, wirklich mit anderen Wertelogiken operieren. Die Grenze zur Naiven Kunst kommt dann auf einen zu wie der spitze Keil eines Autobahnexits; ohne zur Besinnung zu kommen, entscheidet man oder es entscheidet sich für einen, anhand einer leichten Neigung der Handschrift, eines Idioms beim Sprechen, einer Stilnuance, während man sich faktisch gesehen im Affentempo der inneren Entwicklung fortbewegt, ob man zu den integren Losern oder zu den zynischen Gewinnern fährt. Für diese Nuancen suche ich andauernd nach Messmethoden, ein Indikator wäre sicherlich das zur Arbeit am Konzept (und am Marketing) relative Maß an Arbeit am physischen Werk, aber allein sagt dieser Wert nichts aus. Ich rätsle etwa über Wolf von Kries‘ Quilt aus Umzugsdecken, das mir zunächst ein volleres Bild des Künstlers zeichnete als seine Stäbe in betongefüllten wertvollen asiatischen Vasen. Während letztere dem Kunstgebaren von verrückten Unangepassten ähneln, stellt der Quilt wie viele traditionelle Volkskunsttechniken eine bewährte und sicher auch leidgetränkte Methode dar, alle Arten von geistigem Leben in einem nützlichen und unproblematischen Rahmen zu verarbeiten. Da ich zufällig mit Quiltmacherinnen bekannt bin, stellt sich mir auch noch die Frage, ob Kries, wie es üblich ist, Amishe Näherinnen mit der Arbeit beauftragt hat, oder selbst an einer dieser teuren und schwierig zu handhabenden Quiltmaschinen zugange war, oder ob der Quilt ungesteppt ist, ein Objekt für die Galerie, nur Show, nicht benutzbar. Die Amish werfen wieder Fragen auf, etwa ob eine kollektive Exzentrik zu recht künstlerisch herablassend behandelt wird, die natürlich als Lebensform viel massiver und mächtiger als je ein Einzelkünstler sein kann (wobei deren Einfluss, dank Medien, ganz eigene Dynamiken hat, aber Einfluss ist nicht gleich Lebensart). Grundlose Herablassung, die wieder den Graben vertieft, denn die Kollektive hassen dann wiederum die Individualisten, verstehen nicht, was der wollen kann, ist er mit ihren Gurken nicht zufrieden?

 

© Ann Cotten

Das Land ist voller Kontraste, könnte ich im Reiseführerton schreiben. Was mich beschäftigt, ist, dass es auf Konflikten, ja kultivierten Kriegen aufgebaut ist, die keiner vorhat zu beseitigen. Die Demokraten reden schon darüber, dass sie genauso dreckig kämpfen und mit denselben Mitteln alles verhindern müssen wie die Republikaner. Die Kommunisten, wo ich von ihren sit-ins und Gerichtsfehden gegen Gentrifizierung und Entrechtung von Menschen lese, sind alte Kämpfer, die sich immer wieder mit der Hoffnung motivieren, dass der Sieg nicht weit sei. Während die Smileyfaces und Oh-I-just-love-your-coat-Fraktion einfach alles mit Liebe überrollen. Wahrscheinlich werden entweder sie am Ende siegen, wie im Cass Corridor (bis auf die Craft-Beer-Tussiläden), oder der Klimawandel wird die Grabenkämpfe schlicht übertönen, in einem folterähnlich langsamen fade-in, der die Gegenden je nach Ausgangslage verfärbt. Solange man Wasser kaufen kann (ein Dollar für sechs Halbliterfläschchen, 65 Cent für eine 1,5-Liter-Flasche: wer spart, kauft mehr Plastikmüll), das per Lkw von bezahlten Fahrern durch die Gegend gefahren wird, sodass die Spritpreise ebenso wie der Mindestlohn auch den Wasserpreis mitbestimmen, und die Politik wiederum den Spritpreis mit hohem Zügel lenkt, sind politische Marionettenschnüre an die Finger jedes einzelnen Wassertrinkers gebunden. Außer, wenn man einen eigenen Brunnen hat.

Und doch kann man in jeder Lebenslage entscheiden, ob man nicht findet, dass Wasser und Sozialversicherung direkte Grundrechte sein sollten und nicht etwas, was man sich vielleicht leisten kann, wenn die Hauptverbraucher mit ihren Orangen genug Geld verdienen, um einem einen lebbaren Lohn zu zahlen. Wenn diese Felder kollektiv wären, alle arbeiten müssten, alle einen Anteil bekämen ­­– dann finge es von neuem an, dass sich manche drücken, nach Auswegen und Gelegenheiten suchten, hierarchische Subkulturen aufzubauen. Es sind aber eher die, deren Normalitätsgefühl von unverdienten Vorteilen geprägt ist, und die nicht zufrieden sind, bis sie wieder oben sind. Das sind die Helden unserer ehrgeizbasierten Leistungsgesellschaften.

 

© Ann Cotten

Was hab ich lieben gelernt an den USA? Das Faktische, Unerschrockene, das sich oft in Toleranz ausdrückt – leider nicht immer. Es sind ja alles Einwanderer bis auf die Ureinwohner, Einwanderer vor der Ära des Internets, die eine Situation vorfanden, die sie sich vorher nicht hätten träumen können. Es nutzte nichts, es konnte sogar tödlich sein, an der Unzufriedenheit festzuhalten. Sie kamen also mit allem zurecht. Und es kam immer anders, mal schlimmer, mal besser als erwartet. Was auch immer jetzt kommt – diese Fähigkeit wird vielleicht wieder aufblühen. Ob in einer Mad-Max-Zukunft oder in, wie immer wieder historisch geschah, in einer nicht-kommunistischen und dennoch durch und durch proletarisch gedachten Lebensart, einer, die Millionäre in Turnschuhen ebenso wie das aristokratische Gebaren der geistig und materiell Mittellosen erzeugte.

Das Konkrete, den Respekt vor guter Arbeit. Nur nimmt es oft eine inkonsistente Form der Logik ein. Oft hört man „You get what you pay for.“ In einem Tonfall, den man smug nennen würde, selbstzufrieden. Als würde man, letztlich, mit eigenem Geld bezahlen.

 

The rain it raineth all around

upon the just and unjust fella,

but chiefly on the just because

the unjust stole the just’s umbrella.

 

(Anon)

 

© Ann Cotten

Alle Folgen von „Fly-over USA“: Ist das schon das neue Amerika? Die Schriftstellerin Ann Cotten bereist das Land nach der Wahl von Donald Trump.

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