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Kriege und Walfang lohnen sich eben

 

Natürlich wissen wir, wie wir den Planeten vor dem Untergang bewahren können. Ändern wird sich nichts, solange wir unser korrumpiertes Belohnungssystem nicht abschaffen.

© Unsplash/Nasa

Stell dir vor, du wachst eines Morgens auf und erkennst deine Wohnung nicht mehr wieder. Das heißt, du weißt, dass du am selben Ort bist, aber nicht mehr zur selben Zeit. Wir schreiben das Jahr 2200. Der Kapitalismus ist Geschichte, das Regelwerk des Venus-Projekts bestimmt jetzt den Lauf der Welt. Du bist allein. Du weißt, nichts in den Räumlichkeiten gehört dir. Du weißt auch, nichts darin gehört sonst irgendjemandem. Es gehört niemandem, denn „Besitz ist Last“, heißt eine Regel.

Erst vor einigen Tagen bist du hier abgestiegen, es war die einzig verfügbare Wohnung. Der Blick aus dem Fenster macht dich wütend. Du wolltest diesmal Meerblick! Du hättest langfristiger planen müssen, aber du hattest keine Zeit. Die japanische Gartenanlage ist zwar fantastisch, aber das kennst du schon von den letzten Malen. Ein Kaffee wäre jetzt gut. Du gehst in die Küche. Der Automat kennt dich schon, der Kaffee ist bereits in Arbeit, so wie du ihn am liebsten hast.

Eigentlich wolltest du auch mal wieder Urlaub machen, aber das Kybernationale System hat dich auserwählt, „der Große Kyber“ hat dich und weitere Hundert aus Milliarden wieder zu zwölf Monate langer Arbeit in interdisziplinären Teams „verdonnert“, zur Erarbeitung neuer Technologien, zur Lösung handfester Probleme. Zwölf Monate lang Proposals und Präsentationen, Diskussionen und Implementierungen. „Der Große Kyber“ spricht von Ehre, Auszeichnung, er spricht von Belohnung.

Das Kybernationale System ist stolz auf seine wissenschaftliche Methode, nach deren Logik es entscheidet und dank derer ihr jetzt ein geeinter Planet seid, denn sie bringt nicht nur die plausibelsten Ergebnisse hervor, nein, sie sei an Fairness in ihrem Urteil nicht zu übertreffen. Denn du bist nicht etwa zufällig für diese Ehre auserwählt worden (Zufälle sind Schnee für Gestrige), mitnichten: DU – und jetzt kommt der Clou – HAST EINEN IQ VON 250! Du gehörst der geistigen Elite an, bist schon die x-te Generation ergebener Pioniere, die diese neue Welt aufgebaut, ach was, die das weltumspannende Kybernationale System (the one and only cybernational system) entwickelt und unzählige zentrale Datenbanksysteme in die Herzen aller Städte gepflanzt hat, damit jeder Mensch auf der Erde Zugriff auf jede Information hat.

Ein Dorf? Ein eigener Garten? Eine Eigentumswohnung? Großer Kyber! Das ist alles fossil. Besitz ist Last, Zugang ist die neue Freiheit. Die Menschen auf der Erde bewegen sich in geordnetem Transit. Melden sich mit ihrem Fingerprint in Wohnungen an und ab. Bewegen sich in Magnetbahnen auf Schienen mit Schallgeschwindigkeit durch die Welt.

Die Technologie des Tomatenpflanzen-Besingens

Was habt ihr nicht alles erreicht! Ihr habt das Geld (fast ohne Blutvergießen) abgeschafft und durch Überfluss ersetzt, dank vollautomatisierter und vollständig durch Computer-Algorithmen gesteuerter Umgebung. Alles, was Maschinen können, können sie nun: Sie geben im großen Maßstab und ohne Gegenleistung, denn sie warten sich selbst. Und ihr Energiebedarf ist dank der intelligenten Steuerung der Ressourcen mehr als gedeckt. So dass du und Milliarden weitere Menschen nun das tun, was sie schon immer am besten können: Ihr nehmt im großen Maßstab. Geben und Nehmen muss für dich kein moralisches Reflexsystem mehr sein.

Ja, ihr habt eine andere Art von Ökonomie gebaut: eine Ressourcen-basierte. Das bedeutet, nur das darf produziert werden, was sich in einen Kreislauf fügt. Ihr habt den Globus befreit vom Bedeutungsmantel nationalpolitischer Zersplitterung und seine wahre Gestalt sichtbar gemacht, habt ihn neu eingeteilt in geologische Quadranten, benannt nach vorhandenen Ressourcen.

Der größte Teil der Weltbevölkerung wäre zu solchen Entwicklungen nicht fähig, was nicht heißt, dass er tatenlos herumsäße. Denn nichts tun geht im Venus-Projekt nicht. Niemand muss viel tun, denn das Meiste tun die Maschinen und Algorithmen. Aber jeder (der kein Fall für die Fürsorge werden will) muss sich und andere belohnen wollen durch Ideen und Vorschläge, jeder muss nach seinen Fähigkeiten an der Entwicklung der Gesellschaft mitarbeiten wollen, jeder reicht deshalb im vorgegebenen Turnus beim zentralen Datenbanksystem Vorschläge für neue Technologien ein. Diese werden durch den „Großen Kyber“ mittels der wissenschaftlichen Methode geprüft und entweder (leider immer weniger) in eine neue Regel umgewandelt oder verworfen mit einem kurzen Dankeschön für die Bemühungen und einem anspornenden Gruß. Die letzte neue Regel, die nicht aus der Arbeit der interdisziplinären Teams entstand, ist bereits zwanzig Jahre alt, es handelt sich dabei um die Technologie des Tomatenpflanzen-Besingens.

Alles, was Robots leisten können, ist im Überfluss vorhanden, und was sie leisten, hast du und die Hundert weiteren klügsten Köpfe ihnen „beigebracht“. Also warum sollst du jetzt wieder „gearscht“ sein und, nach allem, was du für diese Welt geleistet hast, (verdammt noch mal!) nicht einmal einen Meerblick haben können, nicht einmal darauf hoffen können, dass eine solche Wohnung für Pioniere wie dich reserviert wird? Alle Wohnungen zum Wasser hin, egal wohin du fährst, sind auf lange Sicht ausgebucht, bewohnt von Menschen, die mehr Zeit haben als du, die der Welt noch keine einzige, vernünftige Technologie eingebracht haben. Für deine Arbeit in den Teams bekommst du nichts, denn sie ist bereits deine Auszeichnung. Niemand bekommt etwas für das, was er tut, weil das Tun und Machen für alle eine Belohnung ist. Denn, so steht es in der Kybernationalen Verfassung, „die Belohnung in einer Ressourcen-basierten Ökonomie ist die ständige Verbesserung der Gesellschaft für alle“. Und das Schlimmste daran ist: Du und deinesgleichen haben diese Regel ersonnen und mit revolutionärem Enthusiasmus umgesetzt.

Es ist spät, du musst los. Die Versammlung beginnt in dreißig Minuten. Dein Shirt und deine Hose sind reif für die Waschanlage. Die letzten Tropfen des umwerfend schmackhaften Kaffees landen in deiner Kehle. Nach einer Dusche verlässt du die Wohnung. Am Bekleidungsautomaten an der Ecke holst du dir ein paar saubere Klamotten und ziehst dich um. Und anstatt die Stadtbahn zu nehmen, schlägst du dich, vorbei an der Geotherme, durch die Gemüsefelder und Obstplantagen, auf denen gerade Armeen von Robots arbeiten. Du willst nicht, dass dein Weg nachvollziehbar und logisch ist, weil du nämlich nicht auf dem Weg zu einer Versammlung der interdisziplinären Teams bist, sondern zu einem geheimen Treffen mit Tausenden dieser klügsten Köpfe der Erde. In einem Gebäude am anderen Ende der Stadt betrittst du oben im Dachgeschoss eine knallvolle Halle. Ihr seid euch einig, ihr wollt eine Belohnung für euch einführen. Und du hast das fertige Skript dabei. Und, sollte der „Große Kyber“ die neue Belohnungsregel nicht akzeptieren, werdet ihr ihn und das zentrale Datenbanksystem entmachten.

Und du, Fossil am Bildschirm?

Du liest jetzt diesen Artikel im Schwarm dieses neuen revolutionären Zeitgeists und fragst dich vielleicht: Wie haben sie bloß das Geld abgeschafft? Warum wollen sie diese wunderbare Welt kaputt machen? Warum denken sie nur an sich? Wieso haben wir diese fantastische Idee nicht schon längst umgesetzt?

Die Bibliotheken der Welt beherbergen kilometerlange Regalreihen mit Manifesten und Traktaten, mit Ideen und Erkenntnissen darüber, wer wir sind oder sein könnten. Allein in Deutschland gibt es über 10.000 öffentliche Bibliotheken. Google zählte 2010 knapp 130 Millionen gedruckte Einzeltitel seit Beginn der modernen Geschichte. Nehmen wir an, ein Buch hat eine durchschnittliche Seitenanzahl von 300, sei ein schön gemachtes Hardcover und damit ungefähr 2,5 Zentimeter dick. Dann kommen wir auf gute 3.250 Kilometer Regalreihe an Einzeltiteln mit dem Jahr 2010 (wenn wir von jedem Titel nur ein Exemplar halten). Und jährlich kommen allein in Deutschland ungefähr 90.000 Neuerscheinungen (also gute zwei Kilometer) hinzu. Jedes Jahr werden in Deutschland ungefähr eine Milliarde Bücher gedruckt, die nach unserer Formel ungefähr 25.000 Kilometer an Regalreihen beanspruchen.

Natürlich machen sich nicht alle Texte Gedanken um die Zukunft, aber in fast allen geht es um uns. Wir haben galaktische Datenmengen an Erkenntnissen über die Frage angehäuft, wie wir auf diesem Planeten leben und leben sollen, wie wir die Menschheit retten könnten. Niemand kann das alles lesen und verarbeiten, aber wer auch nur einen kleinen Teil davon liest, wird schnell verstehen: Wir sind uns nicht einig. Doch das scheint nicht einmal unser größtes Problem zu sein.

Vergegenwärtigen wir uns nun Folgendes: Das Regelwerk dieser Welt gestalten wir nach unseren Veranlagungen, Bedürfnissen und Begehrlichkeiten. Es ist Ausdruck unseres Wesens. Dummerweise werden wir und unser Wesen wiederum durch die Mechanismen unserer Welt konsolidiert, soll heißen: Wir erschaffen die Welt, und sie bestärkt uns in dem, was wir sind. Ein Teufelskreislauf, wenn man bedenkt, dass ein Mördergen im Genpool erst dann abgeschaltet werden kann und verschwindet, wenn der Grund zum Morden in der Umgebung weggefallen ist. Eine vertrackte Situation, wenn man die Welt wirklich verändern will. Wie kommen wir da heraus?

Wer hat uns diesen Mist wieder eingebrockt?

Vorbild und Feindbild unserer Entwicklung ist die Biologie. An ihr reiben und orientieren wir uns. Sie hat uns zu dem gemacht, was wir sind und nicht sein wollen. Und mit Erfolg. Und vor allem unter Großeinsatz raffinierter Belohnungssysteme. In unserem Gehirn, vom oberen Hirnstamm bis zur präfrontalen Cortex, ist so eines gleich als zweigliedriges System installiert, ein Vorhersagesystem, das die Belohnung ausmachen kann, und ein Konsumationssystem, das uns bei Beginn der Erfahrung belohnt und Endorphine ausschüttet. Mit dieser uralten Standardsoftware arbeiten wir seit jeher auf allen Ebenen unseres Lebens (noch bevor wir überhaupt zum Homo sapiens wurden). Damit streben wir und alles Leben auf diesem Planeten nach Liebe, Lust, Leidenschaft, Genuss, Freude, Glück, Anerkennung, Ruhm und Ehre, Reichtum und Vorsprung, und vor allem Sicherheit, aber auch Schadenfreude oder Mitleid.

Das sogenannte neurologische Bestrafungssystem ist dazu vergleichsweise klein und eigentlich keines, es ist ein eher knapp kalkuliertes Vermeidungssystem. Verallgemeinert gesagt: Das Individuum ist darauf programmiert, Unannehmlichkeiten, Konflikten und Gefahren ganz natürlich aus dem Weg zu gehen, wir sind nicht dafür gemacht, Kriege anzuzetteln, weil das Individuum darin keine Belohnung erkennen kann. Erst mit dem Beginn einer (medialen) Anbetung und Herausstellung von Märtyrern sehen wir in der Selbstzerstörung eine Belohnung, so haben wir uns umprogrammiert. Die Erzählung über uns beginnt mit der Errichtung eines Apparates der Umsteuerung, sie kann ohne die Momente der Umprogrammierungen unserer Belohnungsstrategien nicht verstanden werden. So wie wir die Geschichte der Menschheit heute erzählen, müssen wir davon ausgehen, dass wir die letzte Scheiße im Universum sind. Aber unsere wirkliche Geschichte mit den eigentlichen Wendepunkten ist noch nicht erzählt.

Sicher ist nur in jedem Fall, und das lehrt uns wieder die Biologie: Echte Bestrafungssysteme sind zu teuer, energie- und zeitaufwendig und dadurch kontraproduktiv für Entwicklungsprozesse. Und hier sind wir wieder in unserer Wirklichkeit: 2010 lagen die Inhaftierungskosten der Justizvollzugsanstalten in Deutschland bei 2.821.198.260,69 €. 2016 zählen wir über 160.000 zugelassene Rechtsanwälte in Deutschland. Auf die Unterhaltskosten für Gerichte, Geheimdienst oder Polizei will ich jetzt nicht eingehen, wir haben ja schon eine Idee davon.

Wer sich nun trotzdem noch fragt, wie es kommt, dass es Greenpeace zum Beispiel immer noch nicht gelungen ist, den Walfang abzuschaffen und damit die Ausrottung der großen Meeressäuger zu verhindern, obwohl der Kampf dagegen nicht erst gestern begonnen hat und die Mehrheit von uns hinter Greenpeace steht, der muss sich eingestehen: Es lohnt sich, Wale zu fangen. Ähnlich hinterfragen könnten wir jetzt Antikriegsdemos, Antipelzbewegungen, Proregenwaldaktionen etc. pp.

Der Mensch ist eigennützig (das brauchte er einst für sein Überleben), und er strebt nach Belohnung. Wenn er sich einen Vorteil, einen Mehrwert oder Anerkennung verschaffen kann, wird er das tun. Ganz natürlich. Was tun wir, nachdem wir aufgestanden sind? Wir streben nach dem, was uns gesund, glücklich, schön und reich macht. Wir verhalten uns so, dass wir daran verdienen, und das ist auch gut so. Weil es effektiv und ausgesprochen ökonomisch ist.

Bräuchten wir überhaupt Moral, Ethik oder Bestrafungsmechanismen, wenn unsere Belohnungssysteme nicht korrumpiert und instrumentalisiert, ja infiziert, sondern richtig eingestellt wären? Wenn unser eigennütziges Verhalten damit auch einen Nutzen für andere haben könnte? Dann wäre unser Kampf um eine bessere Welt vielleicht keine zeitraubende „Don-Quijoteske“. Könnte es sein (und diese Frage, klar, ist so naiv wie alt), dass die Schieflagen in unserer Welt in erster Linie mit den „Schieflagen“ unserer Belohnungssysteme zu tun haben?

Brauchst du einen Trip?

2011 begann ich zusammen mit meinem Bruder (er ist ein Musiker) ein Projekt unter dem Titel: Agent Zukunft. Seitdem beschäftige ich mich intensiver als vorher mit Manifesten, philosophischen Traktaten und Utopien. In diesem Projekt nehmen wir diese (teils sperrigen) Texte wortwörtlich, übersetzen sie in ihren wesentlichen Aspekten und Argumenten in Welten und machen sie damit erlebbar. Wir stellen uns den durchschnittlichen Menschen in seinem Handeln und Wirken darin vor. Und ihr ahnt wahrscheinlich schon: Die Reisen in diese Welten werden unfreiwillig komisch und leider auch immer gefährlich, weil bisher kein Durchschnittstyp diesem Idealbild an Mensch in den Manifesten genügt. Wollen oder können wir nicht einsehen, wer wir sind und wie wir wirklich funktionieren? Hindern uns Moralvorstellungen plus die gleichzeitige Auflehnung dagegen daran, realistischere Visionen zu entwickeln?

Eine Reise heißt: in ein Manifest. Der Trip im ersten Teil geht ins Venus-Projekt. Daraus haben wir eine Hörcomic-Serie gebaut. Hörcomic deshalb, weil Zukunft unsichtbar ist, weil sie Träume ist, und Träume sind immer erst subjektiv, bevor wir daraus eine verallgemeinerte Vision verhandeln. Wir wollten diese Zukünfte nicht zeigen, weil wir sie niemandem diktieren möchten. Vier Reisen gibt es schon. Die nächste erscheint noch in diesem Jahr. Um eine erschöpfende Darstellung aller Aspekte der Texte kann es uns nicht gehen, sondern um ein Gefühl für diese Welten, für die Welten unserer Erkenntnisse, Sehnsüchte und Sehsüchte über uns selbst oder auch der Fehlschlüsse, die wir im Umgang mit uns und unserer Geschichte ziehen.

Diesen Schatz zu bergen, lohnt sich für uns in jedem Fall, denn trotz aller Idealisierungen finden wir in jedem Text kostbare Perlen. Deshalb noch mal zurück zum Venus-Projekt: Seine große Leistung sehe ich im Ressourcen-basierten Denkmodell. Zirkulationen, Drehungen, regelmäßige Abfolgen oder rhythmische Wiederholungen sind nicht nur die Grundlagen jeder Poesie, sondern auch die wesentlichen vitalen Funktionen eines jeden Lebewesens auf dieser Erde und auch unseres Planeten als Makro-Organismus. Könntest du dir vorstellen, dass wir jemals in der Lage sein werden, alle Produkte wieder in einen gesunden Kreislauf zu fügen? Und wenn du jetzt einen nächsten Schritt bestimmen könntest, um das zu erreichen, was würdest du tun?

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