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Vier Thesen zum Zeitphänomen „Große Ferien“

 

Die Sommerferien waren immer zu lang und zu kurz. Am Lagerfeuer dehnten sie sich ins Unendliche, während sie im Freibad zusammenschnurrten auf einen rasanten Augenblick.

© Tegan Mierle/Unsplash

Was ist nicht schon alles groß genannt worden? Der Große Vaterländische Krieg. Die große Hilde Knef. Der große Gatsby. Die mögen alle groß sein, aber die großen Ferien sind größer. Weder ausreichend noch seriös ist bisher untersucht worden, warum sich die feste physikalische Größe Zeit im Zusammenhang mit den großen Ferien als unfest herausstellt.

Schmilzt die Zeit bei der Hitze? Dehnt sie sich aus wegen der Wärme? Wächst sie, so wie man selbst im Verlaufe der großen Ferien wächst? Wächst also die Zeit, aus der die großen Ferien bestehen, mit einem zusammen, so wie sehr dehnbare Kleidung?

Hierzu muss ich vier Thesen anlegen (mir ausdenken) und beweisen (es sollte zumindest einleuchtend klingen, wie am ersten Ferientag morgens die Sonne durch eine Jalousie leuchtet und die Schatten als Streifen auf den Boden fallen. Und wenn man wach wird, denkt man erst, man müsse aufstehen und sich anziehen und so, aber man kann liegen bleiben, bis die Schattenstreifen bis zur Wand gewandert sind).

Bei meiner wissenschaftlichen Untersuchung der Zeitphänomene ist die größte Schwierigkeit, mich nicht in Erinnerungen zu verlieren und gefühlstaumelig zu werden, wie Fliegen, die an endlos langen Nachmittagen in der warmen Laube eines Verwandten um die nicht eingeschaltete Deckenlampe fliegen, in Dreiecken, Vierecken, Fünfecken, Sechsecken und das alles, obwohl die Laubentür offensteht.

Nun aber die Thesen:

  1. Die großen Ferien sind wie eine Hundenase.
  2. Die großen Ferien sind eine Wasserrutsche.
  3. Die großen Ferien sind zwei Äste und eine Sehne.
  4. Die großen Ferien sind größer als Chuck Norris.

Stellen wir uns die großen Ferien einmal als Hundenase vor. Die Hundenase eines Schäferhundmischlings, denn so einen habe ich zufällig zu Hause, um ihn als Versuchstier zwar wissenschaftlich aber eher allegorisch zu verwenden, ohne dass er zu Schaden kommen wird.

Nun vermesse ich die Nase meines Hundes. Sie ist 4 Zentimeter breit. Für seine Mitarbeit bekommt der Hund die anerkannte Auszeichnung „fein, fein“ und ein Stück getrockneten Blättermagen, welcher als Metapher für die großen Ferien auch brauchbar gewesen wäre, aber wie klingt das denn? Die großen Ferien sind wie Blättermagen?


Die Zeit rennt und steht gleichzeitig still

Nun aber zum Inneren der Hundenase. Sie ist gefaltet und gedellt, geknüllt und zu Riffeln geschoben. Würde man die Hundenase bügeln und auslegen, ergäbe sich eine Fläche von zwei mal zwei Metern Riechschleimhaut.

Und da knüpft nun meine These an. Die großen Ferien sind so groß, weil sie ebenso vielfältig, labyrinthartig, gekniffelt und gefaltet sind. Diese sechs Ferienwochen (zu DDR-Zeiten acht Wochen) bestehen aus verschiedenen Orten, Personen, Ländern, Langeweile und Spannung, Neuem und Altem. Das wohl bekannteste Gegensatzbeispiel in dieser Phase des Jahres besteht aus dem Wunder, dass die großen Ferien sehr lang und gleichzeitig zu kurz sind, da die Zeit gleichzeitig rennt und stillsteht.

Als Beispiel für zu kurz: Tag am Badesee, kichern mit den Cousinen, Ferienlager.

Im Gegensatz dazu ein Beispiel für zu lang: Tag bei Tante im Garten. Der langweiligste Garten aller Zeiten, nur Rasen, keine Tischtennisplatte, keine Nachbarkinder, ein fetter, knurrender Dackel. Laberlaber machen die Erwachsenen, nein, jetzt nicht, wir fahren später, beschäftige dich selbst, hör sofort auf, die Blätter von den Büschen zu rupfen, blablabla. Man fängt Fliegen und wirft sie in die Regentonne, rettet sie wieder und wirft sie wieder rein. Dann rettet man eine Hummel und sieht ihr beim Trocknen und Putzen zu. Dreihundert Jahre bei der Tante im Garten. Viel zu lang wie die Beschreibung davon, als hätte sich auch hier die Zeit dick gemacht. Ferienzeit, die wie süßer Brei überkocht und durch die leeren Straßen wabert, die flirrende Hitze, das Zirpen der Grillen, die warmen Kaugummis unter dem Turnschuh, die Leerstellen an der Bushaltestelle, wo sonst Menschen warten, der Ferienfahrplan …

Die Zeit dehnt sich und schrumpft, weshalb es zu Dellen in den großen Ferien kommt, die eine viel größere Fläche ergeben als die eigentliche Fläche. Ergo Hundenase.

Kommen wir zu These Nummer zwei: Die großen Ferien sind eine Wasserrutsche.

Beginne ich, mich an die großen Ferien zu erinnern, dann sitze ich oben auf einer Wasserrutsche und nur einen Zentimeter weiter rausche ich auch schon runter, zurücklehnen, Arme hoch, Nase zuhalten, schreien, der Hall der Stimme in dem Rohr, ein Kinderstimmenjauchzer, ins Becken klatschen, untertauchen, wieder auftauchen, nochmal. Es riecht nach Pommes. Nasses Handtuch, im Liegen einen Grashüpfer auf einem Halm schaukeln sehen, versuchen, ihn zu fangen, nur um ihn wieder freizulassen. Das Geräusch „Tischtennisball auf Stein“, Cola, Wassermelone, winzige Nacktschnecken, wenn man Steine herumdreht, kleine Kröten von A nach B unterwegs …


Ferien-Urlaub-Grenze

Schon das Aussprechen der Worte „die großen Ferien“ kann diesen Rutsch auslösen. Und dann bin ich auf der anderen Seite, eben noch trocken, jetzt nass, eben noch angezogen, auf einmal halbnackt, fast keine Haare an der Muh, Wachstum überall. Plötzlich bin ich auf der anderen Seite der Grenze. Die Grenze heißt Ferien-Urlaub-Grenze. Wenn ich diese Grenze überschreite, bin ich erwachsen oder noch nicht erwachsen, kommt darauf an, in welche Richtung ich reise. Für Urlaub muss ich arbeiten, ich muss ihn mir verdienen, und dann muss der Wert dieses Urlaubs ab-erholt werden, ich muss mich entspannen, was erleben, nichts erleben. Ein Urlaub muss einen zu definierenden Wert x erfüllen.

Aber die großen Ferien müssen gar nichts. Es ist Zeit für Zeithaben, für pures Zeithaben. Es ist so viel Zeit, dass man sie totschlagen muss, wie Mücken, die abends angreifen, bevor man das Feuer in Gang bekommen hat, erst Papier, dann Späne, wedeln oder pusten, nachlegen, das kleine Feuer füttern, bis es ein großes ist, Zunder reinschmeißen, nur um zuzusehen wie vergeht, was in den letzten Jahren gewachsen ist. Holz um Holz, zischende Tannennadeln, nasse Äste, aus deren Bruchstellen es schäumt vor Feuchtigkeit. Dann sind die Mücken weg, und der Tag verschwindet und die Zeit, aber wie das Holz wächst sie nach, während du wächst. Das sagen alle Verwandten, die du in diesen Ferien siehst. Gewachsen bist du und hast es wieder nicht bemerkt.

„Die großen Ferien“ sagen und denken ist ein pawlowscher Reflex. Unser Sehnsuchtshahn tropft. War das schön! Und öde. Aber vor allem schön. Und öde. Und da sind sie wieder, die Dellen und Knüllungen aus Widerspruch und Gegensatz, die Hundenase, die Pommes riecht.

These Nummer drei: Die großen Ferien sind zwei Äste und eine Sehne.

Aus zwei Ästen und einer Sehne kann man einen Flitzebogen bauen. Aber wenn man aus den zwei Ästen und der Sehne keinen Flitzebogen baut, sind es nur zwei Äste und eine Sehne. Es könnten auch zwei Angeln werden. Dann ist die Frage, ob man etwas fängt. Es könnte auch ein Katapult sein und die Frage ist, ob du jemanden triffst. Die aufregendste Frage in den großen Ferien ist: Wird etwas Aufregendes passieren? Das Abenteuer ist, ob es eins sein wird. Wird die Sehne nicht gespannt, gibt es keine Spannung.

Das Gefühl abenteuerlicher Langeweile im Garten der Großeltern.

Hubschraubergeräusch.

Wird der Enkel der Nachbarn wieder da sein? Wird er so blöd sein wie im letzten Jahr?

Eine Fliege fliegt gegen ein Fenster. Hubschrauber. Fliege. Hubschrauber. Fliege.

Diese Spannung existiert allgemein in der Realität, denn es werden deine Gefühle sein und deine Konsequenzen. Das ist völlig anders als in einem Buch oder einem Film. Da kann man sich einigermaßen darauf verlassen, dass etwas passiert, sonst würde diese Geschichte nicht erzählt werden. Aber richtig spannend ist das auch nicht, denn es ist nicht dein Kuss, dein Tod.


Stromern, sowas wie surfen im Internet, aber mit anfassen

Im Alltag ist es überschaubar, was passiert, aber in den großen Ferien, da kann alles passieren. Aber es muss eben nicht. Wie ein Flummi springen diese beiden Möglichkeiten zwischen Hauswänden einer schmalen Gasse hin und her und schlagen ein Fenster ein. Oder schlagen kein Fenster ein. Du musst wegrennen. Der Schweiß läuft an dir runter, als du am Bach ankommst. Oder keiner erwischt dich. Du musst nicht wegrennen. Nichts passiert. Die Hundenase wackelt, riecht es schon wieder nach Pommes?

Nun die letzte These: Die großen Ferien sind größer als Chuck Norris. (Da er selbst als Kind Sommerferien hatte. Klaro. Allerdings ist Chuck Norris größer als eine Hundenase. Aber so einseitig logisch kann man das nicht betrachten.)

Vielleicht sind die großen Ferien so groß, weil die Gefühle so groß waren. Nichts gewänne einen Kampf gegen die großen Ferien, weil sie erst mal gar nicht kämpfen würden. Die würden sich auf eine Decke legen und Limo trinken, in den Wolken Penisse entdecken und kichern. Und schon wieder riecht es nach Pommes. Und dann ist eigentlich alles vergessen. War was vorher? Kommt was danach? Ist die Zeit stehen geblieben? Was ist Zeit? Die Zeit, bis das Eis schmilzt? Die existiert nicht. Die Zeit, bis die Ferien vorbei sind? Wenn sie vorbei sind, kommen neue. Die großen Ferien sind nie vorbei. Sie sind unterbrochen von Schule und Herbst, Winter und Frühling, aber dann sind sie wieder da. Und man kann stromern gehen, durch die Tätigkeiten, Filme und Bücher, Gärten und leere Städte. Stromern, sowas wie surfen im Internet, aber mit anfassen.

Oder sind die Sommerferien nur so groß, weil man so klein war und weil man selbst so groß wurde währenddessen und sich jede Relation verlor?

Wenn man die Freunde im September in der Schule wiedersah, waren das andere Menschen. Manche waren in fremden Ländern und wussten die verrücktesten Dinge zu berichten.

Kriege und Dramen lagen zwischen Schuljahresende und Schuljahresanfang. Jungs hatten auf dem Campingplatz Steine geworfen und meiner Cousine und mir „na, ihr Trinen“ nachgerufen. Wir haben auf ihre Fahrradsitze gepinkelt. Dann waren sie aber doch ganz süß und meine Cousine hatte beide geküsst, ich gar keinen.

Schon bin ich wieder die Wasserrutsche runtergerutscht, Platsch, Planschbecken, Ostsee, Badewanne, nass, trocken, verschwitzt, Sand klebt, Mückenstiche, dreckig, Duft, Bademantel und auf dem Sofa bei Oma Chips essen und Asterix ansehen. Danach Bud Spencer.

Ich gehe jetzt zwei Stöcke und eine Sehne suchen. Taschenlampe nicht vergessen, denn nach der Wasserrutsche kommt die Hundenasenhöhle. Dort sitzt Chuck Norris bei einem Feuer und schnitzt aus Kieferrinde ein Boot.

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