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Kein Internet, nirgends

 

Wolkenformationen deuten. Tiere zählen. Schwimmen im Fluss. Viel zu oft in den Himmel schauen. Jeder Sommertag auf dem Land ist ein Tag zum Festhalten.

© David Aler / unsplash.com (https://unsplash.com/)

Ein Kunsthaus im Havelland, zwei Augustwochen, zehn Literaturschaffende in wechselnder Besetzung. Notizen aus dem Lichtschutzgebiet

Tag 1

Anreise im Lada. Ich fahre das epische Geradeaus, vom Brandenburger Tor bis Friesack, ohne abzubiegen. Freude darüber, dass wir längst eigene Strodehne-Vokabeln haben. An den Versprachlichungen merke ich, dass ich mir diesen Ort zu einem eigenen gemacht habe, der die Erinnerungen an Kindheit und Jugend noch enthält, aber eine davon unabhängige Gegenwart hat. Als ich Strodehne durchquere und auf den Feldweg fahre, gilt mein erster Blick der alten Knutsch-Eiche am Rand der Spülfelder, einstiges Ziel der Nachtwanderungen mit besten Freundinnen und ersten Lieben. Letztes Jahr war sie derart vom Eichenprozessionsspinner befallen, dass man durch ihr spärliches Laub viel Himmel sehen konnte. Diesen Baum sterben zu sehen, würde für immer eine schmerzhafte Leerstelle in den Ausblick fressen, den man vom Kunsthaus auf die Felder und den Gülper See hat. Große Erleichterung, sie nicht kahl vorzufinden; ihr Blattwerk hat sich verdoppelt.

Die erste Flasche Wein, wir bringen uns auf den neusten Stand in Sachen Textarbeit; Figurenentwicklung, Rechercheergebnisse, Seitenzahlen. C sitzt am Roman, N an einer Kurzgeschichte; ich weiß nicht, woran ich sitze. C und ich fahren nach Rhinow und kaufen für 180 Euro ein.

 

Tag 2

Das Havelwasser klar und strömungsstärker als sonst, die Ufer sind überschwemmt, es hat deutlich zu viel geregnet im Juli. Geschwommen, gefrühstückt, jetzt Schreibtisch. N und C arbeiten oben in ihren Zimmern, ich unten im Raum gegenüber der Küche. Blick auf den Hof, das Feld (dieses Jahr Weizen), den Deich und die Böschung des Sees. Das Geräusch des Traktors, der den Deich mäht. Der Geschmack lauwarmen Kaffees im Mund. Die schon septemberige Kühle der Luft. Hinter dem Traktor, mit einem Sicherheitsabstand von etwa 20 Metern, stakst der Storch über den Deich und schnabelt die aufgescheuchten Frösche und Würmer auf. Es gibt dümmere Tiere als Störche.

Strodehnetage sind Tage zum Festhalten, jedes gesichtete Tier und jeder gesprochene Satz erscheinen mir aufschreibenswert. Als könnte ich die Stunden hier auf Papier konservieren und in schlechteren Zeiten hervorholen. Sogar so etwas Lästiges wie Liebeskummer wird hier erträglich, als Teil eines Ganzen, das seine Richtigkeit hat. Als Trump letzten Herbst US-Präsident wurde und mein Facebook-Feed überlegte, wohin im Kriegsfall auszuwandern wäre, dachte ich: Strodehne. Hier ist der Krieg nicht vorstellbar, in Berlin ist er es immer. Erholsame Dummheit der Kindheitsbilder.

Frage des Tages: Darf der Körper mitschreiben? Welche Körperteile, welche nicht?

 

Tag 3

Das Grundstück ist umwuchert von einer Brombeerhecke, die Früchte sind reif. C und N sprechen konsequent von Blaubeeren, nach dem dritten Mal gebe ich es auf, sie zu korrigieren. Ich ergebe mich der Landschaft und der Eigendynamik der Menschen innerhalb der Landschaft. Seit wir hier sind, gibt es keine naturunabhängigen Entscheidungen mehr. Essen / schreiben / lesen wir drinnen oder draußen? Schwimmen wir vor dem Schreiben oder danach oder beides? Was hilft am besten gegen die Mücken? Ich bin so sehr im sogenannten Hier und Jetzt wie lange nicht. Natur als Gegenwartstraining.

Später auf dem Dach, Sonnenuntergang. C, W und ich sitzen auf dem Laufrost des Schornsteinfegers, N steht unten und fotografiert uns. Sie ist der einzige Mensch, den ich kenne, der hier nicht innerhalb der ersten 48 Stunden das Handy auf lautlos stellt und in eine Ecke legt, an der man möglichst selten vorbeikommt. Das Wolkengebilde gibt minutenlangen Anlass zu Vergleichen, bis C sagt, es sehe am ehesten aus wie Ingwer. Obwohl oder weil wir einsehen, dass jedes Wolkengebilde wie Ingwer aussieht, weil Ingwer alle Formen haben kann, finden wir den Vergleich am treffendsten.

Frage des Tages: Wer soll auf welche Weise mitreden bei der Sexismusdebatte und was könnte das für unsere Texte bedeuten?

 

Tag 4

Wir zählen die Tiere, die wir sehen: soundso viele Kormorane, Störche, Hasen, Rehe, Waschbären. Solange wir Tiere zählen, bleiben wir Städter auf dem Land.

Nachts, ich setze mich zu W auf die Terrasse. Wir reden über den Mond, dessen Lichtaura in meinen Augen sehr gleichmäßig verläuft und blau gekränzt ist, während sie in seinen Augen nur den halben Mond umgibt und einen roten Rand hat. Den Hof, der meines Erachtens mehrfarbig schimmert, sieht er überhaupt nicht. Ein Gefühl von Unheimlichkeit, begründet in dem Irrtum, sehen sei faktisch. Es kommt mir wie ein großes Versäumnis vor, dass man sich sonst nie die Zeit nimmt, gemeinsam einen Gegenstand möglichst präzise zu beschreiben, um zu überprüfen, ob man eigentlich dasselbe sieht. Wer weiß, in was für optischen Parallelwelten die anderen so leben.

Frage des Tages: Haben wir genug Hartz IV im Blut, um unsere Leben dem Schreiben zu verschreiben?

 

Tag 5

J radelt nach Rhinow und kauft im Edeka eine Bravo. Wir verbringen den Rest des Abends damit, die Foto Love Story mit verteilten Rollen zu lesen und Vokabeln wie BFF und Bae zu entschlüsseln. Wir fühlen uns alt und sind gleichzeitig sehr froh, nicht mehr 15 zu sein. Wir erinnern uns einstimmig, dass es früher noch keine Politik-Doppelseite gab, die Ratschläge für ein perfektes Erstes Mal aber dieselben waren: Lasst euch Zeit, verhütet ordentlich, macht nichts, was ihr nicht wirklich wollt. Man gehört ab genau dem Zeitpunkt nicht mehr zur Zielgruppe der Bravo, wenn man das erste Mal solchen Sex hatte.

Frage des Tages: Warum lesen wir manchmal gerne Bücher, über die wir uns aufregen, wie Rolf Dobellis Die Kunst des klaren Denkens, dessen widerlich marktwirtschaftliche, auf nichts als den eigenen Vorteil bedachte Weltsicht schon im Untertitel 52 Denkfehler, die Sie lieber anderen überlassen zu erahnen ist?

 

Tag 6

Verschiedene Sonntagspolitik: Während J, S und ich da nie arbeiten, ist der Sonntag bei C optional und bei N ein Arbeitstag wie jeder andere. Sie sitzt schon seit zwei Stunden am Schreibtisch, als wir aufstehen. Mich fasziniert, wie sie in jeder ihrer kurzen Pausen problemlos in das Gespräch, das wir gerade führen, hinein- und wieder hinausfindet. Wenn ich vom Schreibtisch komme, brauche ich 15 bis 30 Minuten, bis ich wieder voll ansprechbar bin, und umgekehrt brauche ich ebenso lange, bis meine Aufmerksamkeit wieder ganz beim Text ist.

Wir Sonntagsgetreue sprechen den ganzen Vormittag darüber, wie wir uns am besten die Havel hinunter treiben lassen, wo wir unsere Handtücher lagern und welche Einstiegsstelle geeignet ist, ob wir nur bis zum Schwarzen Wehr oder weiter havelaufwärts laufen, damit der Spaß nicht nach fünf Minuten schon vorbei ist, und wir finden, dass wir Gummireifen brauchen, auf denen wir im Wasser sitzen können, also suchen wir das Haus samt Dachboden und Keller und das Grundstück samt Scheune und Bauwagen nach Gummireifen ab, wir finden genau einen und sagen, da müsse man sich dann eben abwechseln, damit alle mal was vom Gummireifen haben, und dann entscheiden wir uns für die kleine Strecke, vorerst, sagen wir, die große könne man ja später noch schwimmen, und nach etwa dreistündiger Vorbereitung brechen wir auf.

Wir lassen die Handtücher am Ufer, gehen zum Schwarzen Wehr, springen ins Wasser. Nach wenigen Metern merkt S an, dass die Havel ja doch recht kalt sei, es habe ja auch viel geregnet, und dass man vielleicht etwas auskühlen könne. Als nach der ersten Flussbiegung das Ziel noch nicht zu sehen ist, sagt C, die Strecke sei vielleicht doch gar nicht so kurz wie gedacht. Den Gummireifen will bald niemand mehr haben, denn erstens ist er zu klein, um sich hineinzusetzen, und zweitens ist es bei drohender Auskühlung viel schlauer, ordentlich zu schwimmen statt sich treiben zu lassen. Auf den letzten 200 Metern sagt dann niemand mehr irgendwas, nur J fragt einmal ein ernstes: Alles klar bei euch?, was wir ebenso ernsthaft bejahen, und als wir endlich zu unseren Handtüchern ans Ufer krabbeln, sind wir sehr froh, nur die kleine Strecke genommen zu haben, und geben zu, dass wir zwischendurch einen kurzen Moment lang fürchteten, die Aktion könne unsere Kräfte übersteigen, und dass wir dann doch noch froh über den Gummireifen waren, an dem man sich im Falle eines Krampfes oder einer kleinen Erschöpfung hätte festhalten können. Aber eine sehr lustige Aktion sei es gewesen, da sind wir uns einig, nochmal machen müsse man es hingegen nicht unbedingt. Ich gebe zu, dass Rolf Dobelli nicht ganz Unrecht hätte, wenn er jetzt sagen würde, wir seien bei der Planung dem Overconfidence-Effekt erlegen und bei der Auswertung der kognitiven Dissonanz.

Frage des Tages: Sollen und können wir anders schreiben als an den Rändern der eigenen Psyche?

 

Tag 7

Schweigsame Arbeitsstunden. So still wie unter Schreibenden ist es im Kunsthaus selten. W sitzt rechts in meinem Blickfeld auf der Terrasse und schreibt in sein Notizbuch. Diese Tauben, unterbricht er irgendwann die stundenlange Stille, hören beim Gurren immer mitten in ihrer Melodie auf. Ich muss lachen, als ich es auch höre.

Nachmittag. Ich versuche es mit umgekehrter Psychologie und rufe laut durchs Haus: Es gibt Blaubeerkuchen. Aber niemand korrigiert mich, alle loben den Blaubeerkuchen, in dem nur Brombeeren sind.

Abends partielle Mondfinsternis. Zu einem Drittel bedeckt der Erdschatten den Mond, der glutrot über dem Gülper See aufgeht. W und ich stehen auf den Europaletten und reihen Variationen desselben Satzes aneinander, der nichts als unsere Faszination beinhaltet, und einen kurzen Moment lang kann ich mir gut vorstellen, eine romantische Naturdichterin zu sein. Die unheimliche Ahnung der Größe von Raum und Zeit, dann Nudeln mit Ratatouille.

Frage des Tages: Wie stellt man die richtigen Fragen und ist Was will ich machen? eine bessere Frage als Was will ich werden?

 

Tag 8

Erinnerung an letztes Jahr: Wie wir internetlos plötzlich ganz viele Fragen an das Internet hatten, beispielsweise, wie eigentlich das Internet funktioniere. C, der früher abreiste, schickte uns das Was ist Was-Buch über das Internet, aus dem wir uns abends vorlasen. Dieses Jahr die Bravo, mediale Rückkehr in unsere Kindheit und Jugend. Ich frage mich, wieso das, was wir unpräzise das Land nennen, diese Rückkehr veranlasst, denn wir sind Stadtkinder. Vermutung: Wir erinnern uns an die Stadt systematisch und an das Land episodisch. Systematische Erinnerungen sind weniger präsent, weil sie schlechter erzählbar sind, und sie sind schlechter erzählbar, weil sie keinen Plot haben. So ein Tagebuch hat auch keinen Plot, es sei denn, man möchte die Chronologie von 14 aufeinander folgenden Tagen als Plot bezeichnen, und wenn ich jetzt Internet hätte, würde ich mal kurz Definition Plot googeln.

Frage des Tages: Ist der Blick von Männern auf Frauen umkehrbar, können also Frauen auf dieselbe Weise auf Männer schauen, solange der dominante Mann sexuelle Normalvorstellung ist, die dominante Frau hingegen ein Fetisch?

 

Tag 9

Morgens, Kaffee, Schreibtisch. Bin abgelenkt von den Tauben: Ihre Melodie besteht aus fünf Tönen und sie endet wirklich immer mit dem ersten Ton, allerdings beginnt sie auch immer mit dem zweiten. In ihrer Logik vollendet die Taube ihren Zyklus also durchaus. Nur entspricht dieser Ablauf nicht unserem musikalischen Empfinden. Wir würden daraus gerne schließen, dass die Taube kein ästhetisches Empfinden hat. Aber wir können daraus nur schließen, dass die Taube, wenn sie ein ästhetisches Empfinden hat, es ein vom Menschen verschiedenes ist. Das erscheint mir insofern bemerkenswert, als gemeinhin davon ausgegangen wird, das menschliche ästhetische Empfinden sei ein von der Natur geprägtes. Wer lehrt die Taube ihren 5-Ton-Zyklus?

Mittag. C erklärt uns, was ein Youtube-Star und wer Bibi ist: Bibi verdient mit einem Tweet so viel, wie wir verdienen würden, wenn wir Arbeit hätten.

Die Mücken scheinen eine Autan-Resistenz entwickelt zu haben, und nur weil man kann, muss man ja nun nicht jeden Abend auf der Terrasse sitzen, man kann auch einfach mal drinnen sitzen, sein Bier in der Küche trinken, warum denn nicht, schließlich ist das Draußensein eine Möglichkeit, wenn man auf dem Land ist, keine Pflicht, das wäre ja noch schöner, wenn wir verkrampft draußen sitzen bleiben würden, nur weil man sich das immer so schön vorstellt, solange man in der Stadt ist, den Sternenhimmel und die Wolkenformationen und die Graugansschwärme stellt man sich schön vor, und das sind sie ja auch, keine Frage, aber wegen der Mücken sind sie halt ein bisschen weniger schön, deswegen kann man auch einfach mal drinnen sitzen, oder besteht jemand darauf, draußen zu bleiben?

Frage des Tages: Gehen die wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse an uns vorbei, weil sie nicht erzählbar sind, weil auch wissenschaftliche Studien gute oder schlechte Narrationen sind?

 

Tag 10

Textbesprechung auf der Terrasse. J liest uns aus den Erzählungen vor, die er gerade übersetzt. Wir sprechen lange über einen Satz, in dem aus der Perspektive eines Blogbetreibers die Bedeutungsebenen sprachlicher Angriff / Zugang sperren / Mund verbieten und Zunge herausreißen in einem Verb vereint werden müssen. Wir reden, bis wir das Problem vorläufig durch die Erfindung des Wortes vokalamputieren lösen. Eine andere Erzählung spielt in einem Comic und wir überlegen, wie die der Comicsprache entlehnten phonetisch-idiomatischen Besonderheiten ins Deutsche zu übertragen wären. Sind einhellig zufrieden, als uns der Erikativ einfällt, der nach Erika Fuchs, der Übersetzerin von Donald Duck, benannt ist. Schulterklopf, Kaffeekoch, Weiterschreib.

Frage des Tages: Hat jemand eine Ahnung, welcher Wochentag heute ist?

 

Tag 11

C muss wegen eines Termins zurück nach Berlin. J und ich fahren ihn zum Bahnhof nach Neustadt Dosse und setzen uns ins Bistro im Wasserturm, wo außer uns etliche Bauarbeiter Mittag essen, es gibt Möhreneintopf mit Würstchen und einen kostenfreien W-Lan-Zugang. Wir verschwinden für eine schweigsame Stunde in unseren Handys und kehren enttäuscht zurück. Die Möglichkeit, dass es eine große aufregende Neuigkeit geben könnte, ist viel schöner als die Tatsächlichkeit einer großen aufregenden Neuigkeit.

Als wir C am Abend vom Bahnhof abholen wollen, springt der Lada nicht an; ich hatte das Licht angelassen. Nachbar S kommt mit seinem Wagen, um Starthilfe zu geben, aber es klappt nicht. Er holt eine Ladebatterie, es klappt nicht. Ich hole S ein Bier und er schlägt vor, Nachbar B zu holen, damit er sich das mal anschaut. Bei B sei allerdings Essenszeit, sagt S mit einem Blick auf die Uhr und setzt sich mit dem Bier auf unsere Bank. Wir setzen uns dazu, und S erzählt, von seinem Hof, seinem Boot und den Städtern auf dem Land, die immer sehr viel Strom für ihre technischen Geräte brauchen und es eilig haben. Ich rutsche unruhig auf meinem Platz umher, C wartet seit einer Stunde auf uns und hat kaum noch Handyakku. Aber wenn S erzählt, erzählt S, und wenn B Abendbrot isst, isst B Abendbrot, da können 100 Cs in Neustadt Dosse am Bahnhof warten. Irgendwann ist das Bier leer und wir fahren zu B, und dann bekommen die Männer den Lada wieder hin und wir holen C ab, der vollkommen fertig ist, allerdings nicht vom Warten in Neustadt Dosse, sondern von Berlin. Er sagt: Kulturschock, er sagt: zu viele Menschen, und geht sofort ins Bett.

Frage des Tages: Wie tradiert sich Vergangenheit zwischen den verschiedenen Generationen und wie groß ist unser eigenes Gefälle zwischen historischem und biographischem Erinnern?

 

Tag 12

Als J die Kettensäge anschließt, unterdrücke ich den Impuls Sei vorsichtig zu sagen, und bin froh, als C das übernimmt und von der Terrasse herüberruft, J möge auf sich aufpassen. C erklärt, er habe Angst vor drei Dingen: Sägen, Propangasflaschen und Wildschweinen, ansonsten fürchte er sich vor nichts, aber vor diesen dreien dafür sehr. Weil er nicht mit ansehen kann, wie J den Baumstamm in 20 Zentimeter lange Stücke zerteilt, zieht er sich schnell um und geht joggen. Ich bleibe. Schon um im Zweifelsfall einen Krankenwagen zu rufen.

Nachts bauen wir die Liegestühle im Garten auf und schauen in den großen Ausschnitt Himmel über uns. Die Perseiden fallen etwa alle drei Minuten, jede einzelne wird bejubelt.

Frage des Tages: Wie viel Spaß darf es machen, einen Text zu schreiben? Muss es einen beim Schreiben etwas kosten, damit ein guter Text entsteht? L findet das eine sehr evangelische Frage.

 

Tag 13

L und T haben wie immer den Vogelführer dabei, den wir Den großen Svensson nennen. Ich lese das Kapitel über Tauben und finde bei der Stimmbeschreibung der Ringeltaube, wonach ich suche:

„Zur Brutzeit oft dumpf, heiser, gedämpft, knurrend ‚huh-hruu…‘. Gesang fünfsilbige, dumpf gurrende, rhythmische Strophe (gewisse individuelle Variation, fast immer erste Silbe betont und etwas längere Pause vor der kurzen fünften) ‚DUH-duu, doo-doo…du‘, ohne Pause 3-5-mal wiederholt (daher wirkt fünfte Silbe wie Einleitungssilbe zur nächsten Strophe).“ *

Svensson zählt wie die Taube. Leider kein Hinweis auf den Forschungsstand zum ästhetischen Empfinden der Taube, aber die Gewissheit, richtig gehört zu haben. Spätestens seit der Sache mit dem Mond habe ich das verstärkte Bedürfnis nach Überprüfung meiner Wahrnehmung.

Abends, Lagerfeuer, T findet das eine merkwürdige Kulturpraxis. Wir bemerken, wie anders Gespräche verlaufen, wenn man ins Feuer anstatt einander in die Augen schaut. Fragen uns, was in den letzten 200 Jahren an dieser Feuerstelle gesprochen wurde. Wünschen uns ein paar O-Töne. Wir sprechen am liebsten über Literatur und Tiere.

Frage des Tages: Gibt es einen Unterschied zwischen Hoffnung und Erwartung und lassen sich Vladimir Nabokovs Romane nacherzählen?

 

Tag 14

Morgens, Schreibtisch. Die anderen frühstücken und diskutieren deutschsprachige Popsongtexte. Ab und zu höre ich jemanden lachen, ich kann die Stimmfrequenzen ihren Sprechern zuordnen. Akustische Vertrautheit durch zwei geschlossene Türen.

Zeige C den Entwurf dieses Tagebuchs. Er sagt, es seien zu viele Situationen drin, in denen wir in den Himmel schauen und plädiert dafür, mindestens einen Mond zu streichen. Ich finde, dass er recht hat, kann mich aber von keinem Mond trennen und streiche nichts. Cs Angewohnheit, sehr oft den Namen seines Gesprächspartners zu nennen: Wie siehst du das, Paula, lass mal kochen, Paula, willst du Weißwein, Paula. Fühle mich sehr gemeint. Wiederholtes Staunen darüber, dass es nichts an der Wirkung ändert, wenn man einen Effekt durchschaut. Wir stellen fest, dass wir seit zwei Tagen keinen der sieben Störche gesehen haben, die drüben beim Fischer ihr Nest haben. Wir gehen nachschauen, die Störche sind abgeflogen. C sagt: Paula, jetzt kommt der Herbst.

* Lars Svensson: Der Kosmos Vogelführer, S. 214

 

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