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Ja! Nein! Oder vielleicht doch?!

 

Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Deshalb sollte man eine starke Position vertreten. Aber was, wenn man seine Meinung in der Kakofonie der Gegenwart verloren hat?

© Clem Onojeghuo / unsplash.com (https://unsplash.com/@clemono2)

„Man, I don’t even have an opinion.“ (Marvin, Pulp Fiction)

Ich habe Probleme mit meiner Haltung. Schon länger. Es ist nicht so, dass ich keine hätte. Werte, klar, die hab ich. Gemein sein zum Beispiel, gehässig oder herablassend gegenüber Benachteiligten: finde ich doof, will ich nicht, mach ich nicht. Aber eine konkrete Meinung zu haben macht mir Schwierigkeiten, gar nicht zu reden von einer kontroversen. Ich würde mich nie hinstellen und sagen: Toiletten gendern, habt ihr denn keine anderen Sorgen! Oder: Die Dieselbetrüger von VW gehören alle an den Eiern aufgehängt! Keine Frage, das sind schöne, kraftvolle Meinungen, wie so viele andere auch, gehörte wie unerhörte. Ich würde aber nie mit einer von ihnen hervortreten.

Das liegt daran, dass ich das Exponieren von Meinungen, wie es dieser Tage Mode ist, meist für übereilt halte. Ich fühle mich weniger als Stellvertreter und Fürsprecher überindividueller Denkfiguren, sondern versuche – auch wenn man mich der Leisetreterei zeiht – zunächst bei mir selbst zu bleiben. Drum ist mein Bekenntniseifer unterentwickelt, und das hat wieder zur Folge, dass ich mir nur so selten eine Meinung leiste wie andere ein Schnitzel essen. Ich will mich nicht hinter fiktiven Apologeten wie Ulrich, dem Mann ohne Eigenschaften, verschanzen, aber ich denke tatsächlich, dass man alles, was man sieht, auch anders sehen kann. Daraus ziehe ich sogar einen nicht geringen Teil meines schriftstellerischen Selbstvertrauens. Ich muss nicht zu allem eine Meinung haben, wo es doch genügend Leute gibt, die sich gegenseitig darum kloppen, ihre sagen zu dürfen.

Ich dusche am liebsten lauwarm, bevorzuge weder Fisch noch Fleisch und mag mein Gemüse halb gar. Leute, die überall und ständig ihre Meinung kundtun müssen, habe ich schon immer heimlich belächelt, wenn auch vielleicht zu Unrecht. Ich will weder der Mehr- noch der Minderheit angehören, sondern einfach schweigen dürfen. In der systemischen Therapie gibt es einen Namen für meine seltsam haltungslose Haltung: Allparteilichkeit. Sie ist das Gegenteil von Indifferenz, sieht ihr aber zum Verwechseln ähnlich. Mit dem Schiedsrichter- oder Gottkomplex der Überparteilichkeit hat sie auch nichts am Hut. Allparteilichkeit heißt lediglich: Alle haben ihre Wahrheit. Und meistens können sie nicht anders, als dabeizubleiben.

Aber was in Therapie und Literatur von Vorteil ist, hat im praktischen Leben seine Tücken: Wer in diesen Tagen allparteilich mit Trump, Putin und Erdoğan umgehen und womöglich auch noch für Kim Jong Un Verständnis haben will, der muss sich nicht wundern, wenn ihm die verschränkten Ellenbogen den Zugang zu allen Herzen versperren, zumindest den linken. Allparteilich in Zeiten der AfD? – Zugegeben, manche Dinge sind schwer darstellbar.

Gerade deshalb wäre eine eigene Meinung – gerade für mich als Autor und gerade jetzt – so wichtig. Schließlich will auch ich gelikt werden. Eine einnehmende Meinung zur laufenden Ereigniskultur stiftet Aufmerksamkeit und (mit den richtigen Filtereinstellungen) Zuspruch, und letztlich schärft sich so auch das Profil der eigenen Marke. Eine Meinung ist keineswegs so billig in der Herstellung, wie ich immer gedacht habe. Sie ist immer nur so gut wie die Bioreservate, aus denen ihre Zutaten kommen, und in der Verarbeitung nicht unkompliziert, denn einmal im Umlauf bleibt sie meist nur wenige Stunden frisch. Deswegen muss man sie ständig variieren und aktualisieren. Und um ausreichend Follower zu akquirieren, muss sie auch noch knackig angerichtet sein. Aber wieder nicht zu knackig! Das alles ist eine Kunst für sich.

Unmännlicher Wankelmut

Ich hatte mir immer eingebildet, durchaus eine Haltung zu haben, eine gute sogar, oder jedenfalls eine unverwechselbare, oder wenigstens eine vorhandene. Genau genommen weiß ich aber nicht einmal, was das ist, eine Haltung. Man kann sie annehmen wie beim Strammstehen, aber spätestens im Bett muss man wieder liegen: Mit Haltung kann man nicht schlafen. Ich kann mir schon denken, dass mit dem Begriff irgendwelche Überzeugungen oder sogar ein Glaube gemeint sind. Aber ich war noch nie religiös, noch glaube ich an die Befreiung des Menschen von den Ketten des Kapitals. Ich würde ja sagen, dass ich an gar nichts glaube, aber das ist mir wieder zu melodramatisch. Tatsächlich empfinde ich meine schlechten Haltungsnoten nicht als nihilistischen Federschmuck, sondern durchaus als echten Makel.

Gemeinhin nennt man solche Leute wie mich wankelmütig oder hasenherzig. Hamlet war so einer. Nicht, dass ich mich jetzt auch noch mit Hamlet vergleichen wollte, aber er gilt immerhin als Vorzeigezauderer. Schon damals hat man ja Wankelmut für unmännlich befunden. Dass man heute mit einem Adjektiv wie „unmännlich“ gleich Hochsicherheitsalarm in etlichen Diskursen auslöst, empfinde ich wiederum zwar als anstrengend, fühle mich dadurch aber nicht zu kämpferischer Gegenmeinung aufgefordert. Statt mir auszudenken, was ich alles meinen könnte, warte ich meist lieber ab, bis amerikanische Wissenschaftler die neuesten Untersuchungsergebnisse veröffentlichen. Das scheint mir effizienter.

Auch Ironie und Indifferenz sind natürlich Haltungen, aber in den letzten Jahren haben sie kontinuierlich an Beliebtheit eingebüßt. Man muss schon zeigen, wo man steht, am besten mit einer prägnanten Statusmeldung auf einem dieser bunten Statushintergründe, wie sie bei Facebook in vielen Designs zur Anwendung bereitliegen. Mein Verlag hat vor einigen Jahren angefangen, die einzelnen Neuerscheinungen seines Programms mit kleinen Hinweisclaims wie etwa „Für Leser des Welterfolges Die Pute von Panem“ oder dergleichen zu versehen. Die Marktlage ist einfach zu komplex und unübersichtlich, als dass man es dem Publikum zumuten will, sich allein zurechtzufinden. Ich verstehe das. Ich bin nicht unbedingt der Meinung, dass es die beste und schönste aller Lösungen ist, aber nun. Vielleicht könnte ich die Verhältnisse durch eine starrsinnige Verweigerungshaltung ändern. Aber meine Haltung zu Hinweisclaims und Status-Hintergründen ist von einer langmütigen Weltverbesserungsgeduld geprägt, die vielleicht auch ein Totstellreflex ist.

Die Sache mit den Flüchtlingen

Es gibt eine Stelle in Stanley Kubricks Dr. Strangelove, die mir oft einfällt. Da sagt General Buck Turgidson, ein dogmatischer Kriegstreiber und Unsympath, zum Präsidenten: „Ich urteile ungern, bevor ich nicht alle Fakten kenne.“ Mir gefällt der latente Größenwahn dieses Anspruchs. Wer kennt schon, bevor sie oder er eine Partei wählt, deren programmatische Vorhaben zum Kinderfreibetrag, Solizuschlag oder Kündigungsschutz, geschweige denn die allerhintersten Verästelungen ihres Parteiprogramms? Klar, bei der AfD wurden aus dem Grind Schlagzeilen gemacht, aber so viel Publicity bekommt die Bergpartei nicht. Dennoch gehen wir wählen, und nicht nur Parteien, sondern Jobs, Lebenspartner und Biomüsli mit Hanfkrokant. Unsere Entscheidungsgrundlage dafür erschöpft sich meistens in einem Hauptsatz, wenn sie überhaupt je zur Sprache kommt. Denn meist übernimmt ja die Hirnchemie das Ruder, wenn der Verstand sich verzettelt hat, siehe Hamlet.

Natürlich lasse auch ich mich von Gefühlen leiten. Ich finde zum Beispiel das massenhafte Ertrinken von Fliehenden im Mittelmeer schrecklich. Falls das schon eine Haltung ist, weiß ich nicht, was aus ihr folgt. Statt zu einer starken, haltungsmotivierten Meinung in dieser Debatte zu kommen, stelle ich mir bloß Fragen: Folgt aus meinem Gefühl (Mitleid) notwendig die Meinung, dass alle Menschen, die in ihren Heimatländern Not leiden, nach Europa kommen dürfen sollten? Und wären das nicht zu viele, als dass alle mit Deutschkurs, Wohnung und Job ausgestattet werden könnten? Ohne Job müssten sie wohl von Steuergeldern leben, was auch in einwanderungsfreundlichen Staaten als finanzielle Belastung gesehen wird, oder sie müssten sich sonst wie Geld beschaffen. Andersherum: Wenn man nur wenige Bewerber hereinlässt, woran bemisst man, wer kommen darf und wer nicht? Wenn man Unversehrtheit von Leib und Leben zugrunde legt, warum gehören dann nur Krieg und Verfolgung dazu, nicht aber strukturelle Perspektivlosigkeit und Verhungern? Nach dem, was auch Deutschland dem afrikanischen Kontinent zugemutet hat und weiterhin zumutet (Klimawandel, Saatkartelle, Waffenlieferungen), müssten wir den Menschen dort nicht eigentlich sogar die Tickets hierher bezahlen? Oder wäre es stattdessen eine gute Idee, sie vorher in Schlüsselindustrien auszubilden und sie dann als Lösung unseres Fachkräfteproblems nach Deutschland zu holen? Und lösen wir nicht eigentlich sowieso immer nur unsere eigenen Probleme statt die der Welt?

Meist komme ich beim Überlegen zu irgendwelchen vorläufigen Ergebnissen, die ich gleich darauf wieder verwerfe. Oder sie werden von unvermuteter Seite erschüttert, zum Beispiel von einer Statistik, die ganz behauptet, dass nur wenige Asylbewerber überhaupt dauerhaft in Deutschland bleiben. Dann sind mir meine ganzen vorherigen Gedanken ein bisschen peinlich, so als sei ich mit meinem Hin- und Hermeinen auf eine Scheindebatte republikanisch-russischer Computertrolle hereingefallen. Wenn ich erschöpft ins Bett sinke, frage ich mich dann, was mich die ganze Sache mit den Flüchtlingen überhaupt angeht, ich kenne schließlich überhaupt keine und unternehme auch nichts, um welche kennenzulernen. Generell nehmen Probleme von Menschen, zu denen ich keinen persönlichen Kontakt habe, nicht gerade den Hauptteil meiner Aufmerksamkeit ein. Das kann man gut finden oder schlecht, aber so ist es. Müsste nicht, wer sich um die Flüchtlinge als Menschen und nicht als Teil eines Gesinnungskampfes sorgt, sich eigentlich auch um die städtischen Müllsammler, Obdachlosen, Bettler, Verrückten und Alkoholiker sorgen, genauso wie um die Millionen von Kriegs- und Katastrophenopfern, die noch in ihren Heimatländern sind? Kein Mensch tut das, wie auch. Ich finde die selektive Ignoranz, aufgrund derer man den einen hilft und den anderen nicht, zwar bigott, aber überlebensnotwendig.

Meinungsfreiheit als Segen

Ich mag Menschen, die sich selbstlos um andere kümmern. Dass ich selbst nicht dazu zähle, kommt mir irgendwie falsch vor: Ich als privilegierter weißer männlicher Europäer um die 40 könnte das nämlich, zumal in mir das Bewusstsein dämmert, dass es meinesgleichen waren, die den Planeten zu dem gemacht haben, was er ist – und das ist nicht als Kompliment gemeint. Statt Teil der Lösung zu sein, bin ich wahrscheinlich viel eher Teil des Problems. Ich sollte mir zumindest ein Ehrenamt suchen, denke ich. Es muss glücklich machen oder zumindest Sinn stiften, nicht nur für sein eigenes armseliges Dasein da zu sein, sondern etwas zu bewirken, das wertvoll und gut ist. Brunnen, Winterhilfe, Vorlesestunden in AfD-Hochburgen. Was weiß ich. Allein: Ich bin nicht überzeugt.

Wenn man schon etwas tut, dann muss man an seine Notwendigkeit glauben, sonst hinterlässt es Leere und Desolation. Ich habe dieses Gefühl der Notwendigkeit, wenn überhaupt, nur manchmal beim Schreiben. In der Literatur kann man Haltungen anprobieren wie Kleider, ohne ihnen sein Leben unterordnen zu müssen. Es ist sogar ein Segen, keine Meinung zu haben, die man unbedingt verbreiten will: Dadurch kann man den Figuren ihre lassen, und im besten Fall gewinnen sie dadurch an Lebendigkeit. Selbst nicht mit einer wichtigen Haltung belastet zu sein, fühlt sich zumindest beim Schreiben nach Freiheit an, auch wenn das nur eine Schimäre ist. Und diese Freiheit ist es, für die ich lebe.

Letztlich kann man sich all diese Dinge nicht aussuchen, und deswegen ist es vermutlich völlig nutzlos, sich Selbstvorwürfe zu machen. Es gibt ständig Dinge, zu denen ich mich in meinem Alltag verhalten muss. Sie sind es geradezu, die mich durch mein Leben treiben wie einen alten Esel. Denen stelle ich mich dann ohne Anspruch auf Grundsätzlichkeit, und entweder sie gehen gut aus, oder sie brauchen noch eine Weile. Ich könnte sie als neueste Exponate in die virtuellen Schaukästen der Netzwerke stellen, in der Hoffnung, dass man mich in der Richtigkeit meiner Lebensführung bestärkt. Aber dieses Selbstgezeige führt doch zu nichts, außer dass Mark Zuckerberg noch reicher wird und noch mehr Geld spenden kann. Das wäre immerhin was. Aber an meinem Wesen muss niemand genesen.

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