Sie ist eine aufgeschlossene, kontaktfreudige Frau. Aber keiner ihrer Nachbarn spricht mehr als ein paar Worte mit ihr, niemand lädt sie ein. Weshalb nur?
Meine Freundin Susanna lebt in einem glücklichen Staat. Ich will jetzt keinen Namen nennen, aber in diesem Staat sind die Kühe zufrieden, die Schweine glücklich und die Eier einwandfrei.
Die Menschen leben in stilvollen Häusern, die Gärten haben keine Zäune, und man kann wahlweise das Meer oder die Berge sehen. Kinder spielen Ball auf der verkehrsberuhigten Straße, während ihnen ein Großmütterchen aus dem Fenster zuschaut.
Das klingt nach Märchenwelt und Ironie, aber ich schwöre: Es ist wirklich so. Hundertprozent Idyllisch. Jedes Mal, wenn ich Susanna besuche, bin ich fassungslos, wie freundlich ich bedient werde, wie köstlich der Kaffee schmeckt, wie himmlisch die Törtchen. Das Freibad kostet keinen Eintritt, ich hole tief Luft, denn natürlich ist die Luft frisch und rein, lächelnd lasse ich mich nieder, beschließe einmal mehr, hierher zu ziehen.
Aber ich will ehrlich sein, es gibt einen Haken. Seit fünf Jahren lebt Susanna in diesem Paradies, aber sie lebt vollkommen isoliert.
Bei meinem ersten Besuch erzählte mir Susanna, wie schwer es sei, Kontakt zu den Menschen aufzunehmen. Sie würden freundlich grüßen, mehr aber auch nicht.
Vielleicht sind sie schüchtern, brauchen etwas Zeit, um sich anzufreunden? Dann aber würden sie Freunde fürs Leben werden und Susanna bis an ihr Lebensende in ihre Gemeinschaft aufnehmen. Nicht so wie die oberflächlichen Amerikaner mit ihrem „how are you today, my darling?“, die ohne die Antwort abzuwarten, weiterzogen.
So oder so ähnlich beruhigte ich meine verunsicherte Freundin.
Susanna ging mit ihrem Hund spazieren, arbeitete und gab sich Mühe, im Paradies anzukommen. Am Fluss sprach sie andere Hundebesitzer an, erschreckt sahen diese hoch, zogen schnell weiter. Höflich sagte man ihre Essenseinladungen ab, man habe so viel zu tun, Familie, Verpflichtungen…
Natürlich nagte die Unsicherheit an ihr.
„Vielleicht liegt es doch an mir?“, mailte sie mir nach einigen Monaten. Ich riet ihr, dran zu bleiben, das sei eine Frage der Zeit.
Ich hatte Susanna Jahre zuvor in Südamerika besucht. Sie schrieb damals für eine deutsche Zeitung, und ihr Freundeskreis war riesig. Ständig gab es Barbecues, die mit fünf Personen begannen und zu fünfzehnt endeten, der Freund brachte die Freundin mit, und diese eine andere Freundin, Familien ihre Au-Pair-Mädchen, die Sprachen gingen durcheinander, was niemanden sonderlich störte. Das Essen reichte immer. Nie hatte ich Susanna als Einzelgängerin erlebt, im Gegenteil, ihr Haus glich einer Pension. Als ich den Film L’Auberge Espagnol sah, war ich davon überzeugt, man habe diesen bei Susanna gedreht.
Inzwischen sind fünf Jahre vergangen, und ich habe Susanna kürzlich wieder besucht. Die Herbstsonne hatte die Landschaft in ein buntes Spektakel gefärbt, es roch nach Apfelkuchen mit Zimt. Das Paradies in Herbststimmung. Wir gingen mit dem Hund spazieren, der fröhlich nach Kastanien buddelte. Susanna hielt den Kopf gesenkt, war ungewöhnlich schweigsam.
Sie habe inzwischen eine Freundin, immerhin. Eine junge Frau, die Sennerin gewesen sei, dann Matrosin und schließlich in Uganda in einem Kinderheim gearbeitet habe. Eine aufgeschlossene, lustige junge Frau, sie würden sich nicht häufig treffen, aber dennoch, eine Freundin.
Ansonsten lebe sie nach wie vor in der völligen Isolation. Ausgegrenzt, als würde es sie gar nicht geben. Niemand würde sie einladen oder ihrer Einladung folgen, die Menschen um sie herum seien sich selbst genug, da werde sie nicht gebraucht. Sie würden in ihre Garagen fahren, aus ihren eleganten Autos in ihre erlesenen Häuser gehen, dann würden die Türen ins Schloss fallen – und Stille. Durch die Fenster würde sie Familien sehen, Fernseher, Fitnessgeräte. Die Kinder an den iPhones, die Erwachsenen am Telefon. Der Wohlstand habe sich wie ein bleierner Mantel über diesen Ort gelegt.
Vielleicht haben die Ehefrauen Angst vor einer alleinstehenden Frau, vielleicht haben die Männer Angst vor sich selbst? Vielleicht ist der Ort zu ländlich, vielleicht… Sie habe sich inzwischen arrangiert, beschäftige sich. Allein sein sei ihr nie schwer gefallen, aber diese Einsamkeit sei neu.
Ich suchte Susannas Blick, mich überkam die Sorge, sie würde sich allmählich auflösen, da sie von niemandem gesehen wurde.
Sie habe eine befriedigende Arbeit, ein sehr gutes Gehalt, eine schöne Wohnung. Vielleicht müsse sie sich an die Einsamkeit gewöhnen? Das sei der Preis für den Wohlstand. Susanna weinte nicht, aber ihre Traurigkeit war deutlich spürbar.
„Das ist der Tod auf Raten!“, entfuhr es mir. Susanna schaute verwirrt hoch, der Hund war alarmiert stehen geblieben.
Noch am selben Abend hat Susanna ihre Möbel bei ebay annonciert. Vielleicht wird sie nach Südamerika gehen, vielleicht auch nach Nordamerika, sie weiß es noch nicht. Leise und still verschwinden. Vielleicht wird ihr Verschwinden unbemerkt bleiben, niemand wird sie vermissen, als hätte es sie nie gegeben.
Vielleicht aber wird ein Nachbar beim behutsamen Schließen des Garagentors merken, wie einsam er durch ihr Fehlen geworden ist.
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