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Wir brauchen die Einheit nicht

 

Auch wir Nachgeborenen unterscheiden noch zwischen „wir Ossis“ und „ihr Wessis“. Aber das ist nicht schlimm. Warum wir uns vom Einheitsgedanken verabschieden sollten.

© Peter Kneffel / dpa

Es ist wieder Herbst in Deutschland, und seit ich denken kann, bedeutet das, dass der Osten zum medial umsorgten Problemkind wird. Irgendwo zwischen der Veröffentlichung des Jahresberichts zum Stand der Deutschen Einheit im September und den Jubiläen von Einheitsvertrag und Mauerfall im Oktober und November, dieses Jahr zusätzlich befeuert durch die Wahlerfolge der AfD, fragt sich das Land rituell, wie es eigentlich den Ossis geht. Diagramme belegen, dass es ihnen vergleichsweise schlecht geht: Auch wenn sich die Zahlen langsam angleichen, ist die Arbeitslosigkeit im Osten höher als im Westen und die Wirtschaftskraft geringer, sind die Durchschnittslöhne niedriger und die Renten kleiner. Dazu ist noch immer nur jeder zweite Deutsche der Meinung, die Menschen seien zu einem Volk zusammengewachsen. Nach 28-mal Herbst im wiedervereinten Deutschland kann ich das alles auswendig mitsingen, und lange dachte ich, diese Unterschiede gingen mich eigentlich nichts mehr an.

Einerseits gehören Begriffe wie Durchschnittslohn und Rente als Freiberuflerin sowieso nicht zu meinem aktiven Wortschatz, andererseits habe ich keine Erinnerung an das Land namens DDR, in dem ich 1987 zur Welt kam. Deshalb bin ich als Nachgeborene auch meistens nicht gemeint, wenn von Ossis und Wessis die Rede ist.

Nichtsdestotrotz fand ich zwischen den herbstlichen Berichten eine kleine Infografik, die mich seltsam berührte. „Der Osten erbt anders“, ist sie überschrieben und zeigt anhand der Erbschaftssteuer pro Einwohner, dass in westdeutschen Familien ein Vielfaches an Vermögenswerten von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Meine Berührung hat aber nur am Rande mit der Verteilung von Kapital zu tun. Vor allem trifft das Diagramm eine Unterscheidung, die mir merkwürdig vertraut ist: Es teilt nicht nur jene Bevölkerung in Ost- und Westdeutsche, die die DDR von der einen oder anderen Seite der Mauer selbst erlebt hat, sondern auch die Erben: Nachgeborene wie mich, die die DDR nur vom Hörensagen kennen. Auch ich denke an Gleichaltrige als „wir Ossis“ und „ihr Wessis“ – nicht kategorisch, nicht ständig, aber regelmäßig. Angesichts der überwiegenden Gemeinsamkeiten (Kindheiten in der wiedervereinten BRD, auf denselben Spielplätzen, in denselben Schulen, vor denselben Fernsehprogrammen) scheint diese Kategorisierung fragwürdig: Wer soll dieses Wir sein, das sich in Abgrenzung zu einem Ihr bildet?

Wir Kinder von der Baustelle

Wenn ich wir sage – und wie jede Wir-Bestimmung ist auch diese an den Rändern unscharf, trifft sie auf den Einzelnen immer nur mehr oder weniger zu, schließt sie ein und aus –, wenn ich also wir sage, meine ich eine vierte Generation Ost, die zwischen 1985 und 95 geboren ist und keine eigenen Erinnerungen an die DDR hat, aber ostdeutsch sozialisiert aufgewachsen ist. Wir sind weder Ossis noch Wessis, beziehungsweise sind wir Ossis, wenn unsere westdeutsch sozialisierten Freunde Ossiwitze machen, und Wessis, wenn uns am heimatlichen Küchentischen attestiert wird, von der DDR keine Ahnung zu haben. Wir sind weniger von der DDR geprägt als von den Nachwendejahren und dem Prozess der Wiedervereinigung. Schauplatz unserer Kindheiten sind die Umbruchslandschaften der Neunzigerjahre, die neuen Bundesländer.

Während wir sprechen lernten, wurden um uns herum die Straßen umbenannt, die Innenstädte renoviert und die Fabriken aufgekauft oder stillgelegt. Während wir laufen lernten, erfanden sich unsere Eltern neu, hatten Geschäftsideen und keine Ahnung vom Geschäftemachen, gingen pleite und zum Arbeitsamt, wechselten den Arbeitgeber oder gleich den ganzen Beruf. Während wir lesen lernten, gingen über den Enthüllungen durch die BStU Beziehungen in die Brüche. Während wir schreiben lernten, wurden Gebäude der einen Epoche abgerissen und Gebäude anderer Epochen wieder aufgebaut. Kurzum, wir sind auf einer Baustelle groß geworden, die alle Lebensbereiche betraf, und vermutlich war das Elternsein in dieser Zeit nicht so einfach. Wie soll man seinen Kindern auch eine Idee davon vermitteln, wie das mit dem Leben gehen könnte, wenn es einen selbst hoffnungslos überfordert. Diese Kindheit auf der Großbaustelle ist es jedenfalls, die uns von euch, liebe westsozialisierten Freunde, unterscheidet. Überhaupt seid ihr wichtig für dieses Wir, denn ohne euch, ohne die Irritationen des Unterschieds, hätte es sich nicht zu bilden begonnen.

Der Unterschied offenbart sich (erstens) in Praktiken des Alltags. Wenn wir zusammen an den See fahren und ihr euch umständlich mit Schlüpfertrick in eure Badehosen manövriert, während wir gar keine Badehosen dabei haben. Wenn es eine sprachliche Verwirrung zwischen Pfannkuchen und Eierkuchen gibt. Wenn von Frankfurt die Rede ist und wir fragen: am Main oder an der Oder?, während ihr darunter selbstverständlich das am Main versteht. Wenn es einen Geburtstag zu feiern gibt und ihr „Weil heute dein Geburtstag ist“ nicht mitsingen könnt und stattdessen „Wie schön, dass du geboren bist“ anstimmt.

Keine dieser Irritationen reicht noch für eine Herkunftsbestimmung aus, die Verschiebungen haben längst das Fremde zum Eigenen gemacht und das Eigene zum Fremden. Aber sie sind es, die uns im Jahr 2015 nachdenklich werden ließen, als Katrin Göhring-Eckardt sagte: „30 Prozent der Kinder und Jugendlichen heute haben bereits einen Migrationshintergrund. Und dabei habe ich die Ossis noch nicht mitgerechnet.“ Haben wir einen Migrationshintergrund? Irgendwie schon, schließlich haben unsere Eltern in einem anderen Land gelebt, aber wir sind da unsicher. Für die meisten wäre es ein Migrationshintergrund ohne geografische Verschiebung und ohne Zweisprachigkeit, ohne die Möglichkeit, das Herkunftsland der Eltern zu besuchen, während wir gleichzeitig in seinen Überresten leben, die sich längst zu etwas Neuem geformt haben. Überhaupt hat sich inzwischen alles ein wenig beruhigt. Zwar haben es die wenigsten unserer Eltern in die Führungsetagen des Landes geschafft, wie die Studie „Wer beherrscht den Osten?“ 2016 eindrücklich belegte, aber der Großteil von ihnen hat einen Platz in der neuen Gesellschaft gefunden, die Innenstädte sind hergerichtet, und die Fachwerkhäuser, die noch zu retten waren, sind saniert.

Kontinuität und Diskontinuität

Der Unterschied zeigt sich (zweitens) im Zugriff auf Gesellschaft. Man findet ihn, verborgen zwischen den Zeilen, in den Reaktionen auf die Gegenwart und den Annahmen für die Zukunft. Wenn ihr bestürzt seid über den Zusammenbruch des Euro, und wir mit der Gelassenheit des Fatalismus anmerken, dass auf dieser Welt eh nichts bleibt, wie es ist. Wenn euch ein Wort wie Bausparvertrag problemlos über die Lippen geht, und wir Zweifel haben, dass es das System, innerhalb dessen Bausparvertrag erst sinnhaft wird, noch geben wird, wenn wir ein Haus bauen wollen.

Im ersten Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit von 1997 steht mit Blick auf die Konflikte zwischen Neu- und Altbundesbürgern: „Die Kontinuität westlichen Lebens kollidierte mit der Diskontinuität östlicher Lebenspläne.“ Es ist genau dieser Unterschied, der sich auf die nächste Generation übertragen hat. Während ihr Westsozialisierten über einen vergleichsweise unerschütterten Zugriff auf Gesellschaft verfügt, der aus einer bald 70-jährigen politischen und ökonomischen Stabilität resultiert, ist die Erzählung, dass hier von heute auf morgen alles anders sein kann, fest in unsere DNA eingeschrieben. Wir haben Staat und Gesellschaft als etwas kennen gelernt, das plötzlich zusammenbrechen kann und neu gedacht werden muss. Jede Generation unserer Familien wuchs in ein völlig verschiedenes staatliches System hinein; unsere Großeltern ins Dritte Reich, unsere Eltern in die DDR und wir in die wiedervereinte BRD. Für mich fühlt es sich eher unwahrscheinlich an, dass meine Kinder mal in demselben politisch-ökonomischen System aufwachsen werden wie ich. Für euch liegt eine Generation mehr Kontinuität dazwischen. Das ist nicht viel, aber diesen Glauben an Stabilität, den merkt man euch an. Beziehungsweise merke ich mir an, dass er fehlt.

Dass ich diese Differenz als Defizit empfinde, hat etwas mit dem Unterschied zwischen Mehrheit und Minderheit zu tun. Ihr Westsozialisierten gehört der 83-prozentigen Mehrheit an, wir der 17-prozentigen Minderheit. Schätzungsweise ist das der Grund dafür, dass wir inzwischen textsicher sind, wenn „Wie schön, dass du geboren bist“ gesungen wird, während ihr bei „Weil heute dein Geburtstag ist“ nicht über die zweite Zeile hinaus kommt. Noch so eine Parallele zu den Debatten um Migrationshintergründe: Die Mehrheit setzt die unsichtbaren Normative fest. Ihr seid die Regel, wir die Abweichung. Niemand spricht von BRD-Literatur, wohingegen DDR-Literatur ein gängiger Begriff ist. Es mag sprachökonomisch sein, die Hintergründe der Mehrheit nicht zu explizieren, sondern vorauszusetzen, und nur die Abweichungen zu benennen. Problem ist dabei immer dasselbe: Es gibt kein gleichberechtigtes Nebeneinander der Lebenswirklichkeiten. Was ich mir wünsche, ist eine Sprache, die die Gleichzeitigkeit parallel existierender Realitäten hierarchiefrei aushält.

Das Gefälle zwischen Schulbank und Küchentisch

„Die Vergangenheit ist nicht tot; sie ist nicht einmal vergangen.“ Mit diesem Satz, der eine Zeile von William Faulkner paraphrasiert, eröffnet Christa Wolf ihr Buch Kindheitsmuster, das literarisch vorführt, wie nachfolgende Generationen von den Erlebnissen ihrer Vorfahren geprägt sind. In diesem Sinne ist die DDR auch für mich weder tot noch vergangen, sie ist in meine Sprache und meinen Körper eingeschrieben und somit Teil meiner Gegenwart. Mit eurer Gegenwart hat die DDR hingegen nur sehr wenig zu tun. Sie ist euch Kuriosum und Belustigung, wenn ihr Good Bye, Lenin! schaut, sie ist euch historische Kulisse und Mahnmal, wenn ihr durch Berlin lauft. Für euch ist die DDR ein Eintrag im Lexikon der deutschen Geschichte, für uns ist sie der Hintergrund auf den Fotos in unseren Familienalben. Keine Ahnung, worüber ihr auf Familienfeiern streitet, aber schätzungsweise nicht darüber, ob die Idee des Sozialismus die Errichtung der Mauer gerechtfertigt hat oder ob das Verlassen des Landes für die zurückgebliebene Familie zumutbar war. Als mein Geschichtslehrer anno 2004 ein Arbeitsblatt mit zwei Spalten austeilte, die dem Vergleich der DDR mit dem Dritten Reich dienen sollten, habt ihr eure Stifte gezückt und wir haben empört den Klassenraum verlassen. Erst viele Jahre später haben wir verstanden, dass hier zum ersten Mal das Gefälle zwischen heimatlichem Küchentisch und Schulbank, zwischen deutscher Geschichte und Familiengeschichte, zu groß für uns geworden war.

Der Unterschied zeigt sich also (drittens) im Blick auf die Vergangenheit und dem Grad ihres Einflusses auf die Gegenwart. Wie könnte es auch keinen Unterschied für den eigenen Zugriff auf Geschichte machen, ob die Eltern und Großeltern in der BRD oder in der DDR gelebt haben. Das Gedächtnis ist auch in der Nachgeborenengeneration zweigeteilt, und das ist noch deutlich zu niedrig angesetzt, in Wahrheit sind es ja viel mehr Gedächtnisse. Denn wie könnte es für uns Ostsozialisierte der vierten Generation wiederum keinen Unterschied machen, ob die Eltern und Großeltern Parteifunktionäre oder Verfolgte, Republikflüchtige oder politisch Unauffällige waren. Die innere Einheit gibt es nicht, wenn darunter ein Zusammengehörigkeitsgefühl verstanden wird, das auf einer einheitlichen Erinnerungskultur aufbaut. Aber wenn ihr mich fragt, ist das auch nicht schlimm.

Pluralisierung der Perspektiven

Laut einer Forsa-Umfrage ist noch immer nur jeder zweite Deutsche der Meinung, die Menschen seien seit der Wiedervereinigung zu einem Volk zusammengewachsen. Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, sagte dazu: „Die innere Einheit kommt nicht von heute auf morgen, aber sie kommt.“ Ich bin anderer Meinung als Frau Kaminsky. Ich glaube, die innere Einheit kommt nicht, und, viel wichtiger, wir brauchen sie auch nicht. Das Problem liegt im Begriff selbst: Das Wort ist zu eng verwandt mit Einheitlichkeit, Einigkeit, Homogenität. Die numerische erste Silbe passt nicht mehr zu dem Land, in dem wir leben. Die ganze Idee ist innerhalb einer pluralistischen Migrationsgesellschaft hinfällig. Diese verlangt beziehungsweise ermöglicht, so ist es auf der Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung zu lesen, „sich immer wieder in neuen Kontexten zu orientieren, andere Lebensweisen kennenzulernen und über selbst oder fremd gesetzte Grenzen hinauszudenken.“

So werden Trennlinien zwischen dem Eigenen und dem Fremden brüchig und „Eindeutigkeiten als Mythen“ entzaubert. Wenn wir das ernst nehmen wollen, und das halte ich für klug, müssen wir uns von der inneren deutschen Einheit als gesellschaftlicher Zielsetzung verabschieden und der Vokabel ihren Platz in den Geschichtsbüchern zuweisen. Damit meine ich mitnichten eine Geschichtsvergessenheit, wie sie Sachsen-Anhalts AfD-Landeschef André Poggenburg betreibt, wenn er sagt, dass sein Stasi-Opa stolz auf ihn gewesen wäre. Was ich meine, ist die Ersetzung der Einheitsidee durch ein multiperspektivisches Selbstverständnis, das seine Kraft aus der Pluralisierung der Perspektiven auf Geschichte und Gesellschaft bezieht. Als adäquaten Ersatz schlage ich hiermit den Begriff der Vielfalt vor. Bis nächsten Herbst hat Forsa hoffentlich erste Umfrageergebnisse dazu, wie es um die deutsche Vielfalt steht.

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