Suizid ist eine erschreckend häufige Todesursache. Dennoch oder gerade deshalb wird das Thema tabuisiert und fetischisiert. Versuch einer Annäherung über zwei Filme
Als junger Mann zwischen 15 und 35 Jahren in Deutschland geht die größte Lebensgefahr für mich von mir selbst aus. In dieser sonst eher gesunden Bevölkerungsschicht ist jede sechste Todesursache der Suizid. Würde ich in Bayern leben, wäre es noch schlimmer. Würde ich in Sachsen-Anhalt leben, etwas weniger. Die Statistiken sind furchteinflößend. Jährlich nehmen sich in diesem Land etwa 10.000 Menschen das Leben, was die Gesamtanzahl der Toten durch Verkehrsunfälle, Drogenmissbrauch und HIV-Erkrankung deutlich überschreitet. Trotzdem oder gerade deshalb wird das Thema ebenso tabuisiert wie fetischisiert. Wir leben in einer suizidfaszinierten Kultur, so dieser Text, so Thomas Macho in seinem gerade erschienenen, gleichwohl geistreichen und bedrückenden Buch Das Leben nehmen – Suizid in der Moderne. Sollten Sie sich mit Selbsttötungsgedanken quälen, suchen Sie nach Hilfe, etwa bei der Telefon-Seelsorge (http://www.telefonseelsorge.de/) oder bei Ihrer Hausärztin oder Ihrem Hausarzt.
Während meiner Jugend haben sich zwei Mitschüler das Leben genommen. Und ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir im Klassenverbund je darüber geredet hätten. Weder über das Warum noch darüber, wie wir damit umgehen sollten. Vielleicht weil die Auseinandersetzung mit dem Tod Kindern nicht zugemutet wird oder weil praktisch niemand damit umgehen kann oder weil befürchtet wurde – was statistisch gesehen gar nicht unbegründet ist –, dass Nachahmungen folgen. Sich zu töten ist ein Affront gegen das Leben und jeden Lebendigen. Wir waren mit unserer Trauerarbeit auf uns selbst gestellt.
Dass eine Depression eine Krankheit ist, unter der Menschen leiden, war für mich lange keine ernstzunehmende Tatsache. Depressionen fanden hinter verschlossenen Türen statt und schlimmer noch, ich betrachtete sie insgeheim als Anzeichen von Schwäche. Groß geworden in einer Welt, in der der Geist etwas Starkes, Erkennendes und Bezwingendes, natürlich auch Wohlwollendes und Verständliches usw. sein sollte und konnte, war kein Platz für Gedanken der Aufgabe, der Furcht, Isolation und Lähmung. Ein Mitschüler kommentierte bei einem der Fälle hinter vorgehaltener Hand, dass da wohl jemand „einen Durchhänger“ gehabt hätte. Erschreckenderweise war diese Geschmacklosigkeit (wenn auch als Grenzen auslotendes Wortspiels gedacht) die einzige emotionale Annäherung, an die ich mich in diesem Fall erinnern kann. Mittlerweile denke ich schlicht, was für Tragödien das waren, und vermute naiv, dass sich die Probleme dieser viel zu früh gestorbenen Jungen heute ganz anders darstellen würden.
Zwei Filme des vergangenen Jahrzehnts bieten eine Annäherung an das Thema. Der erste ist Antonio Campos‘ 2016 erschienenes Biopic Christine, in dem Rebecca Hall die US-amerikanische Fernsehmoderatorin Christine Chubbuck spielt. Diese arbeitete ab Mitte der Sechzigerjahre in lokalen Fernsehsendern und erlangte nationale Bekanntheit dadurch, dass sie sich am 15. Juli des Jahres 1974 vor laufender Kamera erschoss. In Campos‘ Film verfolgen wir das Schicksal der jungen Frau Ende 20 bis zu ihrem Tod. Wir erleben sie in ihrem Job, mit ihrer Mutter, auf einem Date und privat. Das Maß der Unerträglichkeit und Fremdscham bei einigen dieser Szenen übersteigt sogar noch das von Maren Ades grandiosem Debütfilm Der Wald vor lauter Bäumen (2005). Auf drei Momente würde ich gerne näher eingehen.
Kleine Einblicke in die Hölle
Christine sitzt allein in einem Restaurant und isst. Während ihres Essens beobachtet sie ein Pärchen, das glücklich zu sein scheint und gerade seinen dritten Jahrestag feiert. Christine geht auf die beiden zu und gratuliert. Die Angesprochenen sind sichtlich irritiert und peinlich berührt. Daraufhin erzählt Christine, dass sie eine Reporterin ist und dass sie immer an positiven, menschlichen Geschichten interessiert sei und dass sie es ihnen zwar nicht versprechen könne, aber dass sie es vielleicht ins Fernsehen schaffen würden. Doch anstatt mit dieser Lüge so schnell wie möglich das Geschehen zu verlassen, bleibt sie noch etwas bei dem Pärchen und beteuert ihnen erneut, wie gut sie es haben, und dass sie ihr Glück nicht aus den Augen verlieren sollen. Die Sehnsucht, Tragik und das feine Spiel von Rebecca Hall eröffnen uns einen kleinen Einblick in die Hölle, in der ihre Figur lebt.
Die nächste Szene ist weitaus später im Film. Der Mann, in den Christine verliebt ist, lädt sie zu einem Date ein. Doch nutzt er das Date lediglich als Vorwand, um Christine zu einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit Depressionen zu bringen. Dort wird sie aufgefordert, ein Spiel namens „Ja, aber“ zu spielen. Eine junge, ihr fremde Frau setzt sich ihr gegenüber und versucht, konstruktive Fragen zu Christines Problemen zu stellen. Es beginnt damit, dass Christine sagt, sie würde gern eine Beförderung bekommen, woraufhin ihr Gegenüber fragt, warum sie nicht danach verlange, woraufhin Christine „Ja, aber das habe ich doch schon“ sagt, etc. Je weiter das Spiel voranschreitet, desto offensichtlicher wird, dass Christines Spielpartnerin heillos mit dieser Art von Schmerz und Sturheit überfordert ist. Dabei fragt Christine zu Beginn der Unterhaltung hoffnungsvoll, ob ihr das nun helfen würde. Denn sie will etwas vom Leben. Sie will die Arbeit machen, die sie für richtig hält und eine Familie und ein Kind. Doch all das wirkt unerreichbar. Sie ist allein, kann soziale Situationen nur schwer lesen, droht durch eine Krankheit unfruchtbar zu werden und interessiert sich für Belange, die dem kleinen Fernsehsender nicht massentauglich genug erscheinen. Die letzte Frage, die Christine gestellt wird, ist, warum sie ihre Ansprüche nicht verringert. Was im Endeffekt hieße: Aufgabe, Verrat, und (wenn man so will) ideologischer Suizid. Christine hat hehre Ziele und Rückgrat. Sie will sich nicht unterwerfen.
Was uns zur letzten und vielleicht grausamsten Szene des gesamten Films führt. Dem Moment nämlich, da sie doch beschließt, sich unterzuordnen. Für die Möglichkeit, sich vor laufender Kamera das Leben zu nehmen, muss sie sich eingliedern, sonst bekommt sie den Sendeplatz nicht. Sie muss sich die Maske der ihr feindlichen Umgebung aufsetzen. Und mit einem Mal ist sie ganz freundlich und charmant, sagt allen Hallo, wenn sie ins Studio kommt, und Bitte und Danke zu ihrem Chef, mit dem sie sonst eher Probleme hatte. Dieser gewährt ihr schließlich ihr Anliegen. Christine bittet eine Kollegin, ihren Auftritt aufzunehmen. „For my reels„, wie sie sagt. Das Entsetzliche an dieser Passage ist, dass sie die einzig Entspannte im Film ist. Endlich ist sie wie alle anderen auch. Wir ahnen, dass wir als Zuschauende Teil einer Gesellschaft sind, die Christine Chubbuck das Leben so schwer gemacht hat, und dass auch wir schlicht wollen, dass alle lieb Hallo und Danke sagen. Dass alle Depressionen, alles Quere und Kaputte hinter verschlossener Tür stattfinden sollen. Weil sich das am leichtesten mitanschauen lässt. Weil die Institutionen so am flüssigsten laufen.
Bevor sie sich erschießt, liest Christine Chubbuck folgende Erklärung vor: „In keeping with Channel 40’s policy of bringing you the latest in ‚blood and guts‘, and in living color, you are going to see another first-attempted suicide„.
Weit entfernt von allem
Diametral entgegen dazu steht eine Szene in Joachim Triers 2011 erschienenem Film Oslo, 31. August, in dem wir den letzten Tag im Leben eines Anfang dreißigjährigen, weißen, gutbürgerlichen Mannes namens Anders (gespielt von Anders Danielsen Lie) verfolgen. Anders ist in seinen Zwanzigern in eine Party-, Drogen- und Creative-Class-Welt abgerutscht, in der er sich völlig zwischen Narzissmus und Nihilismus verlor und heroinabhängig wurde. Der 31. August beginnt damit, dass er in einem Hotelbett mit einer alten Bekannten erwacht, zu einem Teich geht, sich zu ertränken versucht und dann in die Entzugsklinik zurückkehrt, in der er sich seit einer Weile befindet. Wir erfahren, dass gestern der erste Abend war, an dem er raus durfte. Heute hat er einen Vorstellungstermin bei einer Zeitschrift, weswegen es ihm gestattet ist, in die Stadt zu fahren. Der Film folgt diesen Ereignissen gekonnt, geduldig und voller Hellsicht. Anders trifft seine Freunde, und alle scheinen ihn zu mögen oder sich um ihn zu kümmern. Es sind enge Vertraute, mit denen er beispielsweise offen darüber spricht, dass er meint, dass die Gesellschaft denen, die sich zerstören wollen, dieses Recht zugestehen sollte. Es ist ein herzliches, liberales und wohlhabendes Milieu.
Das Vorstellungsgespräch läuft nicht besonders, aber das interessiert Anders auch nur so halb. Am Abend ist eine Party und er bricht mit seiner nun schon über ein halbes Jahr anhaltenden Alkoholabstinenz. Es bildet sich eine Gruppe von zwei Frauen und einem weiteren Mann, mit der Anders eine nahezu perfekte Sommernacht mit darauffolgendem Morgen verbringt. Sie gehen in eine Kneipe, flirten, trinken, albern, sind high, fahren ikonografisch mit ihren Fahrrädern von hier nach da, tanzen in einem Klub und laufen durch das mittlerweile taghelle Oslo, bis sie zuletzt in ein Freibad einbrechen. Von außen betrachtet ist es der volle, kitschige und großartig größte Höhepunkt einer hedonistisch-studentischen Mittelschicht. Doch Anders‘ Gesicht ist leer, voller Schmerz, und eine kalte Träne droht an seiner Wange hinabzurollen. Wir erahnen, wie weit entfernt er sich gerade von allem fühlt. Er wähnt sich bereits im Reich der Toten. Es gibt eine unüberwindbare Schlucht zwischen ihm und einer irgendwie freudvollen, lebenswürdigen Wirklichkeit. Er ist in seinem Innern gefangen. Unvermittelt steht er auf und macht sich auf den Weg zu dem zum Verkauf stehenden Haus seiner Eltern. Dort spritzt er sich eine Überdosis Heroin.
Der Film suggeriert, dass es kein Außen geben kann, das Anders hätte heilen könnte. Seine Probleme sind für niemanden zu erreichen. Selbst wenn wir kurzzeitig meinen – etwa, wenn er wieder und wieder versucht, bei seiner Ex-Freundin anzurufen –, dass es da etwas geben könnte, so werden diese Vermutungen immer wieder revidiert. Als würde sich Anders daran erinnern, wie hoffnungslos es ist, zu hoffen. Oder wie peinlich. Und so verpanzert er sich weiter in seiner Todessehnsucht.
Christine Chubbuck möchte eine Wunde in der Öffentlichkeit erzeugen, die ihrem Leid entspricht. Und dieses damit beenden. Ihr Innerstes soll endlich lesbar werden. Es ist schwer, das nicht auch als Medienkritik zu verstehen und nicht auf ihre Rolle als Frau in einem männlich dominierten Arbeitsfeld aufmerksam zu werden. Sich das Leben zu nehmen, wirft immer ein schlechtes Licht auf das, was einen umgibt. Um den toten Körper entsteht ein Krater aus Versagen und Schuld. Was diesen Akt ausgesprochen schmerzhaft für die Angehörigen macht. Der oder die Suizidale wirkt stets symptomatisch. Oder wie jemand, der oder dem hätte geholfen werden können. Doch genau dort knüpft Oslo, 31. August an. Denn Anders möchte nicht, dass sein Tod ein Zeichen setzt. Er versucht sogar, ihn als Unfall zu kaschieren. Er möchte einfach nicht mehr am Leben sein, und das hat nur sehr indirekt etwas mit seinen äußeren Umständen zu tun. Seine Entscheidung zum Suizid ist eine eigenständige, mutwillige Maßnahme.
In seinem ersten Farbfilm Red Desert von 1964 findet Michelangelo Antonioni ein eindrucksvolles Bild für das, was die suizidale Hauptfigur Giuliana (Monica Vitti) von ihrer Umwelt unterscheidet. Ihr fehlt das Gyroskop. Ein Gyroskop ist ein Kreiselinstrument, das auch in Schiffen verwendet wird, um sie aufrecht im Wasser zu halten, das sie durch seine Drehimpulserhaltung auch bei hohem Wellengang stabilisiert. In einer Szene sehen wir ihren Mann und ihren Sohn damit spielen und verstehen, dass Giuliana genau das fehlt. Genau diese Stabilität. Wenn sie sich durch die Welt bewegt, dann schleicht sie an den Wänden entlang und braucht immer etwas, um sich festzuhalten. Im Freien ist sie verloren.
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Menschen, die unter Depressionen leiden und Suizidgedanken haben, finden bei der Telefonseelsorge online oder telefonisch unter den kostenlosen Hotlines 0800-1110111 und 0800-1110222 rund um die Uhr Hilfe. Die Beratungsgespräche finden anonym und vertraulich statt.
Angehörige, die eine nahestehende Person durch Suizid verloren haben, können sich an den AGUS-Verein wenden. Der Verein bietet Beratung und Informationen an und organisiert bundesweite Selbsthilfegruppen.
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