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Das Leben der Kinder

 

Warum fragst du, ob wir gern lesen? Warum wohnst du nicht hier? Wieso willst du wissen, ob ich mich fremd fühle? Eine Woche zu Besuch bei Grundschülern in Anklam

© Piron Gillaume/https:unspash.com

 

Ich bin in Anklam. Eine Woche lang werde ich mit Grundschulkindern arbeiten. Das Thema: Wann fühle ich mich fremd.

Tag eins

Ich wohne in einem Hotel im Stadtkern. Mein Zimmer ist in freundlichen Rottönen gehalten, es gibt einen riesigen Fernseher, ein riesiges Badezimmer und ein riesiges Bett. Auf dem Kissen liegt das Neue Testament. Das ist gut. Beim Blättern stoße ich auf ein Stichwortverzeichnis mit dem Titel Wo findet man Hilfe. Ich schlage unter Erschöpfung nach und lande bei Psalm 90: Wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz steht da und Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagtest. Zum Stichwort Trübsal finde ich: Aber er sprach zu ihnen: Wer ist unter euch, der sein einziges Schaf, wenn es ihm am Sabbat in eine Grube fällt, nicht ergreift und ihm heraushilft?
Ich mache den Fernseher an. Hape Kerkeling spricht über sein Coming-out. Hat er das nicht schon in den Neunzigern getan? Ich schalte den Fernseher wieder aus. Ich bin nervös. Ich habe Angst vor Kindern. Ich schlage nach unter Entscheidung, Jakobus 1: Ein Zweifler ist unbeständig auf all seinen Wegen. Nein, ich zweifle nicht.

Tag zwei

Das Frühstück ist üppig. Ei, Apfelschnitzchen, Wurst und Käse, Joghurt mit Schokostreuseln, zwei Brötchen, ein dunkles und ein helles. Alles gut?, fragt die Dame, die nur für mich aufgestanden ist. Alles gut. Die Brötchen sind vom Bäcker. Danke. Wo kommst du her? Aus Berlin. Aha, und was machst du hier? Mit Kindern arbeiten. Kinderarbeit? So was, ja. Aha – noch Kaffee? Ja. Man schließt hier alles. Was denn? Das Schwimmbad zum Beispiel, da fragt keiner, das wird einfach beschlossen. Wer? Behörden. Welche? Die Kinder haben nun kein Schwimmbad mehr, und so geht es mit allem, noch Kaffee? Ja. Du trinkst aber viel Kaffee. Ja. Und Berlin? Da kann man schwimmen. Siehst du. Ja. Seit fünfunddreißig Jahren bin ich hier. So lange schon? DDR. Ja. Immer habe ich gearbeitet, du auch? Nee. Ich habe sogar in Österreich gearbeitet. Ach. Aber die Mentalität ist dort anders. Wo? Na, in Österreich. Wie? Anders. Ach so. Hier, direkt nebenan, am Steintor, wurden Menschen geköpft. Oh. Noch Kaffee? Ja. Schmeckt’s? Sehr. Es steht viel in der Zeitung über unsere Stadt. Was? Wir haben keinen guten Ruf. Mist. Kompliziert. Ja.

Nach getaner Kinderarbeit schlendere ich durch die Stadt. Ich zähle sechs Apotheken, einen Buchladen, drei Schuhgeschäfte, vier Pflegeeinrichtungen, fünf Baustellen, vier Fußpflegesalons und fünf Kirchen. Der Marktplatz von Anklam ist eigenartig groß. Die Nikolaikirche ist neben der älteren Kirche St. Marien eines der markantesten Gebäude im Stadtbild. Benannt ist sie nach Nikolaus von Myra, einem äußerst vielseitigen Heiligen, der nicht nur vorweihnachtlich mit der Rute droht, sondern unter anderem Schutzpatron ist von Seefahrern, Binnenschiffern, Dieben, Apothekern, Gefängniswärtern, Fuhrleuten und Salzsiedern, Pilgern und Ministranten. Die Hansestädter in Anklam hatten vermutlich vor allem die Schutzfunktion für Fischer und Seefahrer im Sinn, als sie ihm die Kirche weihten. Der Kirchturm ist nur noch ein Stumpf. Nach einer Legende hat der Teufel persönlich sich den Pastor greifen wollen, um ihm das Genick zu brechen, weil dieser das Wort Gottes so überzeugend verkündete, dass niemand mehr Böses tat. Er griff daneben und verdrehte die Kirchturmspitze statt das Genick des Pastors. Die verdrehte Spitze hätte ich gerne gesehen, aber deutsche Truppen haben wenige Tage vor Ende des letzten Weltkrieges das Teufelswerk vollendet und höchstselbst den Kirchturm heruntergeschossen.

Die Fragen der Kinder gehen mir durch den Kopf. Warum fragst du, ob wir gern lesen? Warum wohnst du nicht hier? Wieso willst du wissen, ob ich mich fremd fühle? Wann fühlst du dich denn fremd, Frau Katerina?
Jetzt fühle ich mich fremd. In einem Drogeriemarkt kaufe ich Nüsse. Vor der Fahrschule stehen fünf Jugendliche zusammen. Einem fehlt ein Bein. Sie rauchen. Sie haben gelbe Gesichter. Sie hören Musik und ich höre, Scheiße, Scheiße, Scheiße. Nein, ist nicht alles Scheiße, will ich sagen, aber ich halte lieber den Mund.
Nach fünf ist kaum noch jemand auf der Straße. Es ist dunkel. Meine Schritte hallen durch die Straßen. Mischa, ein Junge aus der Ukraine, der seit einem Jahr in Anklam lebt, sagte: Ich habe Mischa. Das heißt, ich heiße Mischa, flüsterte ihm seine Tischnachbarin zu. Mischa stand auf und ging aus dem Klassenzimmer. Ich habe auf die Uhr gesehen, er blieb fast fünfzehn Minuten weg. Als er wiederkam, nahm er einen schwarzen Stift und malte einen Planeten. Daneben schrieb er: Auf Planet alle gut, Tiere gut, auch Menschen gut, Straßen gut und Monster auch gut. Seine Wangen röteten sich und am Ende des Vormittags erzählte mir seine Lehrerin, Mischa gehe immer viel zu spät ins Bett, das sei so üblich in der Ukraine, das sei schwierig, da prallten Welten aufeinander.

Im Gasthof bestelle ich Anklamer Fischsuppe. Kommt noch jemand? Nein. Kein Problem. Die Suppe wird mit Toast serviert. Die Kellnerin hat etwas Florales auf ihren Arm tätowiert. Ich öffne mein Notizbuch, hinter der Zeile Frauen in Anklam mit Blumentattoo auf dem Unterarm mache ich einen dritten Strich. Es schmeckt. Ich fühle mich etwas einsam und bestelle mehr Toast. Sollte ich mit den Gästen am Nebentisch ins Gespräch kommen? Ich beuge mich langsam in ihre Richtung. Könnte ich bitte das Salz haben, kommen Sie aus Anklam? Ja. Sie alle? Nein, auch von Usedom. Ach, da war ich zur Kur, sage ich. Wo? In Trassenheide, orthopädische Reha, schön da. Und nun? Nichts. Die Kellnerin bringt Schweinerippchen für die Herren und Huhn für die Damen. Guten Appetit. Danke.

Wieder im Hotel, versuche ich zu arbeiten. Irgendjemand hat mir ein Buch über Leonardo da Vinci auf den Tisch gelegt. Ist das ein Zeichen? Es handelt sich um ein besonders großes Taschenexemplar. Auf der Fensterbank steht das Modell eines Segelschiffs. Ich sehe in den dunklen Abend und sehe nichts. Im Neuen Testament schlage ich unter dem Stichwort Dankbarkeit nach. Hebräer 13: Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Morgen werde ich Mischa fragen, was er zu später Stunde tut.

Tag drei

Mischa hat mir eine Blume aus Papier gefaltet. Schüchtern stand er vor mir und wartete auf meine Reaktion. Ein wenig zu überschwänglich bedankte ich mich. Ich fragte ihn nicht, was er zu später Stunde noch tut. Vielleicht sieht er mit seinen Eltern fern. Vielleicht sind seine Eltern aus Stroh. Vielleicht sind sie mit vier Koffern aus Donezk gekommen. In Anklam sollt ihr nun leben, hat man ihnen gesagt, denn hier ist Platz. Vielleicht sitzt seine Mutter abends am Küchentisch und lernt deutsche Wörter. Hafen. Vermächtnis. Quelle. Vielleicht häkelt sein Vater einen Schal. Vielleicht ist sein Vater über alle Berge. Oder es ist ganz anders. Ich weiß nichts.
Während ich Aufgaben verteilte und mir Spiele ausdachte, habe ich Mischa beobachtet, wie er blass und mit unruhigen Augen zwischen den anderen Kindern saß und versuchte, einzelne Wörter zu verstehen. Zwischendurch gab er auf, holte Luft, sah aus dem Fenster, dann sammelte er sich, und der Kampf begann aufs Neue. Am Ende des Vormittags ging ich zu ihm und sagte, ich weiß, wie du dich fühlst. Als ich nach Deutschland kam, war ich ungefähr in deinem Alter, ich erinnere mich gut daran, wie es ist, nichts zu verstehen. Er sah mich an und sein Gesicht verfinsterte sich, mir ist gut, sagte er. Er nahm seine Jacke und ging. Ich hätte meinen Mund halten sollen.

Die Sonne scheint. Sogar das Ensemble aus KiK, Aldi, Famila und Futternapf sieht freundlich aus. Endlich sehe ich das erste Hakenkreuz, es ist an die Wand eines Wohnhauses gesprüht. Ich mache ein Foto. Eine Frau mit vollgepackten Einkaufstüten in beiden Händen bleibt stehen, schüttelt den Kopf und geht weiter. Worüber sie den Kopf geschüttelt hat, weiß ich nicht. Entweder über die Schmiererei oder über mich. Dabei trage ich heute gar nicht meinen Federhut. An der Peene angeln Männer. Im Abstand von fünf Metern stehen sie nebeneinander und warten auf die Fische. Fast wie am Bosporus. Ich mache ein Foto. Einer der Männer stellt sich in Pose. Er trägt Tarnkleidung und aus seiner Jackentasche lugt Die deutsche Jagdzeitschrift mit dem Aufmacher Sauen Lockjagd – Grunzend zur Beute.

Und, Fische gefangen?, frage ich. Willste mal sehen, zwei Zander! Oh, so große. Die Peene ist der Amazonas des Nordens, ob du willst oder nicht. Ich habe nichts dagegen. Siebenunddreißig Fischarten haben wir hier, auch Raubfische verirren sich manchmal. Ach. Was, ach? Das mit den Raubfischen. Was machst du hier in Anklam, oder besser: Was machen Sie hier in Anklam? Ein Projekt von der Akademie der Künste. Aha, und weiter? Ich arbeite mit Kindern, hier gibt es ja nicht so viele Angebote für Kinder. Wer sagt das? Das ist doch bekannt. Ich habe gefragt, wer sagt das? Studien. Was für Studien, sagen deine Studien auch, dass ich mit meinen Kindern jedes Wochenende zum Angeln gehe, dass der Kleine schon einen Fisch und einen Hasen ausnehmen kann? Er zündet sich eine Zigarette an und sagt gedehnt, ihr geht mir alle auf den Sack.
Ich hätte natürlich noch fragen können, wen er mit alle meinte, aber ich verabschiede mich. Vielleicht hätte ich meinen Mund halten sollen.

Im Chinesischen Restaurant China schwimmen fette Goldfische im Aquarium. Raubfische? Es gibt ein Buffet. Huhn süß-sauer, Suppe süß-sauer, Krebsfleischröllchen frittiert, panierter Fisch, gebackene Banane. Ich bestelle Pflaumenwein. Am Tisch rechts neben mir sitzt ein junges Paar. Sie hat keine Blumen auf den Unterarm tätowiert, dafür aber im ausrasierten Nacken ein nicht allzu putziges Hundegesicht. Sie hält seine Hand, und er hat mehrmals den Impuls, die Hand wegzuziehen, damit er besser essen kann, aber er scheint sich nicht zu trauen. Am Tisch zu meiner Linken sitzt eine Vierer-Frauengruppe, alle haben raspelkurze Haare mit blonden Strähnchen. Sie stoßen auf ein zwanzigjähriges Jubiläum an. Drei trinken Spezi und eine Pflaumenwein – wie ich. Sonst ist das Lokal leer. Das junge Paar ist still. Sie sind verliebt. Sie müssen nicht sprechen. Sie lässt seine Hand los und holt ihm eine zweite Portion gebackene Banane. Mit der Rechnung bekommen sie zwei Glückskekse. Du bist klüger als du denkst, steht bei mir, sagt sie. Er steckt seinen Keks ungeöffnet ein und sie verlassen das Lokal. Die Damen am Nebentisch sprechen über Heidelbeerkuchen bei Netto, der soll gut sein. Ich esse drei Portionen, Huhn süß-sauer, gebackenen Fisch, Suppe. Beim Buffet kann ich mich nie zurückhalten. Sie werden weit reisen, steht in meinem Glückskeks. In der Bibel werde ich heute nicht lesen.

Tag vier

Mein letzter Tag in Anklam. Heute wieder Rührei zum Frühstück? Lieber ein gekochtes Ei. Ach, aber Ei schon? Ja, ein Ei. Hart oder weich? So dazwischen. Zehn Minuten später bringt sie mir ein hartes Ei und beobachtet, wie ich es esse. Ganz schön trocken, was? Ja. Als ich gehe, zwinkert sie mir zu. Ich zwinkere zurück. Hast du das Buch gefunden? Leonardo? Ja. Danke für das Buch. Schon gut, dachte, es könnte dir gefallen. Hat mir gefallen. Ist aber kein Geschenk, das Buch. Weiß ich doch. Gut.

Die Kinder hatten schon drei Stunden Unterricht und mussten eine Mathe-Arbeit schreiben. Das Leben von Kindern ist grausam zu Kindern. Sie haben mich schon erwartet. Ich bin gerührt. Schnell verteile ich Gummibärchen. Wir lesen die Geschichte, die wir zusammen erfunden haben: Günther und Anastasia sind beste Freunde. Günther lebt im Hochhaus, Anastasia mit Eltern und einem grünen Mops im Reihenhaus. In den Ferien besuchen Ananas, so der Spitzname von Anastasia, und Günni, so der Spitzname von Günther, die Großeltern von Anastasia. Dort steht auf dem Dachboden eine Truhe mit einem leuchtenden Viereck. Durch dieses Viereck fallen Ananas und Günni auf den Planeten der Aluschins. Sie erleben allerhand Abenteuer, und am Ende wollen sie gar nicht zurück. Es gibt eine Party und einen ersten Kuss. Als wir zum Kuss kamen, verkrochen sich einige Kinder kreischend unter die Tische und hielten sich die Ohren zu. Andere riefen, weiter, wie schön! So ist das. Als ich mich verabschiedete, kam Mischa noch mal zu mir. Er gab mir die Hand und sagte, aber es gibt doch keine grünen Möpse. Aber wenn wir sie zusammen erfinden, gibt es sie.

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