Im Minutentakt wird heute alles bilanziert. Aber was wir verlernt haben: unsere Fehler zu bedauern. Dabei ist diese Fähigkeit nicht nur der Ursprung aller Literatur.
Neulich auf einem Fest unter Literaten, bei flackerndem Kerzenlicht, sprach man über große Themen, die früher ausgiebig behandelt, heute aber in der Literatur nahezu verschwunden sind. Zum Beispiel die Reue. Wo gibt es noch das seitenweise Klagen über die eigenen Verfehlungen, das Grübeln über die eigene Unzulänglichkeit, über Gut und Böse, und dann den Schrecken, dass es vielleicht zu spät ist für eine Wiedergutmachung? Wie soll Reue vorkommen, wenn Selbsteingeständnisse und echtes Bedauern fehlen, warf ein Kollege ein. Das wurde heftig diskutiert. Es gibt ja auch andere Erzähltechniken, fragmentarisch, das Bedauern kommt schon noch vor, fragmentarisch eben, oder etwa nicht? Man bedenke hingegen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die immer schnell, im Takt der neuen Medien, alles bilanziert und optimiert, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Eine Zurschaustellung der eigenen Fehler wirkt in diesem getakteten Alltag eher geschmacklos. In der Literatur hingegen wird sie immer wieder exerziert, wenn auch meist nur aus Effekthascherei und Marktschreierei, als falsches Bekenntnis und in der Wolle gefärbte Eitelkeit. Echtes Bedauern wäre da ein zu leises Gefühl – und damit in der Kunst wirkungslos.
Auf dem Nachhauseweg dachte ich, dass es ganz bestimmt ein Bedauern war, das mich zu meinen ersten Geschichten gebracht hat: nicht spontan reagiert, nicht die richtigen Worte gefunden zu haben. Diese kamen mir immer erst im Nachhinein in den Sinn, und dann auch gleich mit einer ganzen Geschichte. Eben der, wie es hätte anders kommen können.
Meinen Arm gefasst, die Augen glänzend
Wie gerne ich Bücher lese, in denen um die richtigen Worte gerungen wird! Dieser Aha-Effekt, endlich in einem gelungenen Ausdruck etwas Gespürtes erfasst zu haben, ist mein Zugang zur Lektüre. Immer noch merke ich mir ganze Textpassagen, die mir gefallen, auch Gedichte.
Niemand kann mehr Gedichte rezitieren, hieß es vor zwei Jahren im Schweizer Fernsehen. Ein Fernsehteam hatte Besuchern eines Literaturfestivals das Mikrofon hingehalten, und keiner von ihnen mochte ein Gedicht rezitieren. Letztes Jahr hat das Schweizer Fernsehen übrigens mich angehalten, mit einem Literaten-Literaturquiz. „Wo befinden sich Dürrenmatts Chemiker?“ „In der Psychiatrie.“ „Falsch! Das sind die Physiker!“
Aber zurück zu den Gedichten. Gleich nach jenem Festival, vor zwei Jahren, als in mehreren Schweizer Medien verkündet wurde, dass niemand mehr Gedichte kennen würde, bin ich auf Lesereise nach Sibirien geflogen. Es war meine erste Russlandreise und gleich eine ziemlich lange. In Moskau stieg ich auf einen kleinen Flieger in Richtung Tjumen um. Wir waren eine Handvoll Leute an Bord. Als ich zu meiner Sitznachbarin blickte, war mir, als hätte ich eine Zeitreise getan: Die ältere Dame trug einen rot-blauen Pullover mit Schulterpolstern und eine Vokuhila-Frisur, die weißen Haare mit violettem Schimmer.
Es stellte sich heraus, dass sie Deutsch sprach, und als sie hörte, dass ich für Lesungen nach Sibirien fahre, klatschte sie in die Hände und konnte daraufhin ihre Begeisterung kaum bändigen. „Ich liebe die deutsche Sprache!“, rief sie laut und begann gleich, Gedichte zu rezitieren: „Ich ging im Walde / So für mich hin, / Und nichts zu suchen, / Das war mein Sinn.“ Sie sprach mit Pathos, hatte meinen Arm gefasst und drückte ihn, die Augen glänzend. „Diotima! edles Leben!/ Schwester, heilig mir verwandt! / Eh ich dir die Hand gegeben, / Hab ich ferne dich gekannt.“ Ich muss wohl mit offenem Mund dort gesessen haben, denn die Frau schob mir hin und wieder ein Wort hin und drosselte ein bisschen den Rhythmus, auf dass ich mit einsteige in die Rezitation. Dann drückte sie meinen Arm noch fester. „Bist Du so müd? Ich will Dich leise leiten / Aus diesem Lärm, der längst auch mich verdross, / Wir werden wund im Zwänge dieser Zeiten. / Schau, hinterm Wald, in dem wir schauernd schreiten, / Harrt schon der Abend wie ein helles Schloss.“
Vergessene Peripherie
Der Steward rollte das Essen an uns vorüber, er hielt nicht einmal an, wollte nicht stören. Das kleine Flugzeug füllte sich mit lichtem Dampf, der an Kohlrouladen, knackige saure Gurken und andere heimische Köstlichkeiten denken ließ. Wir aber blieben in den höheren Sphären der Dichtung hängen. „Und über uns im schönen Sommerhimmel / War eine Wolke, die ich lange sah / Sie war sehr weiß und ungeheuer oben / Und als ich aufsah, war sie nimmer da.“
Der Frau liefen nun Tränen über die Wangen, und ich hielt ihren Arm ebenfalls fest. In allen Gedichten spürte man ein Bedauern über die Vergänglichkeit und gleichzeitig einen milden Trost, der von der Formvollendung des Ausdrucks ebendieses Leides rührte. Nach fast drei Stunden verabschiedeten wir uns mit einer Umarmung, und ich schritt hinaus in das fremde Tjumen mit einem unerwarteten Gefühl der Vertrautheit.
Ich habe noch nie so eine kaputte Stadt gesehen. Vor der Reise hatte ich mir Luftbilder im Internet angeschaut, zur Vorbereitung, aber von unten sieht alles anders aus. Es ist eine Ruinenstadt, alles bröckelt, Gehsteige, Treppen, Gebäude, die Proportionen stimmen nicht – die Häuser sind gedrungen, die Statuen riesengroß –, und ganz breit ist auch die Hauptstraße, vierspurig, obwohl kaum einer auf ihr fährt. Die Stadt war menschenleer, vergessene Peripherie, alles still, und dennoch gab man mir für das Hotel vier Schlüssel – für den Eingang, den Etagengang, für die Zimmersektion und schließlich für mein Zimmer. Als ich die Tür hinter mir schloss, war sie eine Handlänge kürzer als die Türschwelle und ließ so einen großen Balken Licht von draußen in mein Zimmer. Das Fenster indes war schmal und vergittert.
Man hätte sich in einem Tarkowski-Film wähnen können, aber ich ging lieber durch die Stadt, ich ging spazieren, als einziger Spaziergänger, und hatte im Ohr noch die Gedichte aus dem Flugzeug. Gedichte, die, wie mir jetzt schien, in ihrer allgemeinen Gültigkeit doch auch diese Gegend hier mitgemeint haben mussten.
Petersilie und viel Eingelegtes
Meine Lesungen in Tjumen waren ein großer Erfolg. Die Säle an der Universität jedes Mal prallvoll, die Audienz elegant, mit Schals und hochgesteckten Haaren, die Männer mit Anzug und allerlei Abzeichen vom Debattierclub, vom Schachclub und vom Intellektuellenclub, alle Gäste in höchster Aufregung. Auf Russisch vorgelesen wurden sehr deskriptive Passagen aus meinem Roman Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit, Betrachtungen während eines Spaziergangs. Mitten in der ersten Lesung stand eine Frau auf, mit gerecktem Zeigefinger, und rief: „Das … ist … Literatur!“ Worauf das Publikum beherzt applaudierte.
Wie groß war mein Staunen, als anschließend Fragen aus dem Publikum zugelassen wurden und keine dieser Fragen aus dem Repertoire der bequemen Fragen gestellt wurden, die ich sonst so kenne, sondern ernsthafte Exkurse durch die Weltliteratur, Fragen zu Stilistik, zu meinem künstlerischen Weltbild, zum Glauben, Fragen, die aufs Ganze abzielten.
Schließlich lud die Veranstalterin dazu ein, hinabzusteigen in den Keller, und wir stiegen alle hinab, auf einer bröckelnden Treppe, geduckt, unter allerlei notdürftig befestigten Rohren und Leitungen, wobei die Herren galant den Arm anboten und gekichert wurde und gejauchzt, wenn jemand ausrutschte oder sich in eine Spinnwebe oder sonst was Klebriges tastete. Wir kamen in einen größeren Raum mit niedriger Decke, der wohl der Heizungsraum war und wo für ein Apéro gedeckt war, mit Samowar und belegten Brötchen, alles liebevoll dekoriert mit Petersilie und viel Eingelegtem.
Die Ansprachen waren tief empfunden und hielten lange an, es wurde dabei auch rezitiert und gesungen, und meine Moderatorin hatte mir viel zu übersetzen. Dann wurde über die russische Literatur geredet, wieder einiges rezitiert, anwesend war ja auch eine Delegation der Beat-Poeten der Region, und schließlich fragte jemand, ob ich umarmt werden dürfte zum Abschied. Ich sagte: Ja klar, warum nicht – worauf sich alle Anwesenden in die Reihe stellten für die herzliche Umarmung. Ich umarmte jeden von ihnen – sowohl bei dieser ersten Veranstaltung als auch bei den folgenden. Die Veranstalterin muss wohl allen gesagt haben, dass ich auch umarmt werden dürfte, denn die Leute stellten sich jedes Mal auf.
Plötzlich fiel er auf die Knie
Wieder durch die leere Stadt spazierend, kamen mir die Ereignisse bei den Lesungen unwirklich vor, wie aus einem Film im London unter dem Bombenhagel, als einige Londoner ausschweifende Bunkerpartys feierten. Ich spazierte an blauen Häusern mit geschnitzter Fassade vorbei, die seitlich in die Erde einsanken, und an kleinen klobigen Bauten, die bröckelten. Alles war verstaubt, auch die kleinen Bäume, die so aus Plastik zu sein schienen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es ist, von hier zu sein und hier zu leben, in dieser Ödnis, und sich so sehr angesprochen zu fühlen von der Literatur. Woran spannt sich die emotionale Landkarte an so einem Ort auf? Mit welchem Blick schaut hier ein kunstsinniger Mensch um sich, jeden Tag, was ist ihm lieb? Und überhaupt: Warum rüstet uns die Kunst nicht dazu aus, unseren Schöngeist auch hinauszutragen und unsere Umgebung zu verändern? Vermag die Kunst etwas nur im Privaten zu bewirken, uns nur im engen Kreis zu rühren und zu trösten? Und was ist dann mit unserem Gewissen?
Vor einigen Jahren spazierte ich in Paris mit einem russischen Kollegen abends die Seine entlang, als er plötzlich auf die Knie fiel und inbrünstig auf Russisch rezitierte. Ich verstehe kein Russisch, aber sein Pathos vermochte mich zu bewegen. Nur rezitierte er und rezitierte und hörte nicht mehr auf. Touristen begannen uns schon zu fotografieren, und ich versuchte den Kollegen hinaufzuziehen auf die Beine, aber er blieb kniend und steigerte sich noch in seinem Pathos, fast weinte er. Nichts Derartiges in unserer kollegialen Beziehung hatte auf so einen Ausbruch hingedeutet. Ich lächelte, ein bisschen abgewandt von der Straße und den Leuten, und wartete ab. Es tat mir sehr leid, dass ich nicht zu reagieren wusste, dass ich nichts von den Klagen verstand, die immer lauter wurden und wehleidiger. Ab und zu nickte ich dem Kollegen zu. Irgendwann stand er auf, erstaunlich aufgeräumt, und wir liefen weiter die Bouquinisten entlang, als wäre nichts gewesen. „Was war das eben?“, fragte ich ihn. „Puschkin!“, sagte er, amüsiert über die Frage.
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