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Eine fünf Zentimeter breite Leuchtaura

 

Aufgewachsen ist sie in einer Belgrader Arbeitersiedlung. Dann entstand der neue Turm, in dem sie nun lebt: Eagle Hills. Hier ist jede Frau schön und jedes Kind gesund.

Eagle Hills: Eine fünf Zentimeter breite Leuchtaura
(c) Julia Gaisbacher/Bildrecht Wien

1.

Preston-Fleck vom neunundzwanzigsten Stock liegt noch in ihrem frisch gemachten Bett. Seit dreieinhalb Jahren wohnt sie weit oben in den Eagle Hills. Sie ist in Belgrad aufgewachsen, in einer Arbeitersiedlung namens Labudovo brdo. Sie hatte ein heiteres Wesen, etwas Berufsglück und doppeltes Heiratsglück, zuerst mit Fleck, dann mit Preston. Sie konnte besser leben. Sie konnte hinauf, aber sie wusste nicht, wohin. Zufällig wuchs zur gleichen Zeit der neue Turm aus der niedergewalzten Armensiedlung vom Fluss hinauf und zum Himmel empor.

Symbole der Macht kündigen Fortschritt an. Eagle Hills.

Sie geht zum Tischlein, öffnet den Brief und sieht sich das leere Blatt an. Sie atmet die Leere ein, die Ruhe gehört zum Stil. Eine weiße Kaffeetasse hält sie in der linken Hand. Buchstaben sind Schmutz auf Papier. Weniger ist mehr.

Bezaubernd hohe Fenster. Eagle Hills.

Etwas Banales passiert: Sie schüttet Kaffee aus. Dann will sie eine Küchenrolle aus dem Putzraum am Gang nehmen und findet in der Ecke eine Walnuss. In den Eagle Hills feiert man keine religiösen Feiertage, zumindest nicht in Gruppen. Die Nachbarn sind unsichtbar und pflegen keine lokalen Beziehungen. Nur das Servicepersonal wirft zu Weihnachten heimlich ein paar Nüsse in versteckte Ecken des Wohnkomplexes.

Strenge und Effizienz. Eagle Hills.

Der Kaffeefleck wird schnell weggewischt. Swiff.

Überraschende Formen, das muss man gestehen. Eagle Hills.

Selten gehen die Einwohner der Siedlung in die abgefuckte Stadt. Zumindest sieht es auf den ersten Blick so aus, als würden sie dort nichts zu suchen haben, weil sie in der Siedlung über bessere Aufenthaltsräume und Einkaufszentren verfügen. Aber Preston-Fleck sah manche dann doch auf Partys, wo sie sich an die anderen Körper schmiegten und heimlich an den Menschen rochen. In den Eagle Hills hat sonst jeder seinen Raum. Um jeden breitet sich eine fünf Zentimeter breite Leuchtaura aus und es kommt so gut wie nie zum Kontakt. Preston-Fleck umarmt sich selbst, so tief, wie sie kann, in ihrem flauschigen weißen Pullover. Sie interessiert sich nicht für Politik, sie hasst niemanden, sie liebt vor sich hin und hat Sehnsucht nach unbestimmten Dingen. Hat sie jemals gedacht, dass sie so weit oben in Belgrad leben wird? Nein, aber sie findet es gut.

Einfach reinzoomen, wenn Ihnen etwas gefällt. Eagle Hills.

Wenn das zweijährige Kind des Hausmeisters von Eagle Hills hustet, kriegt es sofort ein billiges Antibiotikum und wird für immer geschwächt, die Entwicklung seines Immunsystems ganz zu Beginn verhindert. Das ist der Unterschied zwischen einer Käuferfamilie und der Hausmeisterfamilie. Die Käuferfamilie nimmt lange Globuli, bevor sie zu Antibiotika greift. Weniger ist mehr.

Der Rest der Stadt ist zu niedrig, um reflektiert zu werden. Eagle Hills.

Keines der erfolgreichen, blonden Kinder, die mit ihren Golden Retrievern auf der perfekt geschorenen hellgrünen Wiese hin und her laufen (und dabei hysterisch lachen), hat jemals etwas anderes als gepressten Bioorangensaft getrunken. Die Mütter aus den höheren Etagen können unten auf der Spielwiese nur gelbe Punkte sehen, aber GPS zeigt ihnen relativ genau an, welchen Punkt sie meinen, wenn sie mein Sohn sagen.

Fitness überall. Eagle Hills.

 

Eagle Hills: Eine fünf Zentimeter breite Leuchtaura
(c) Julia Gaisbacher/Bildrecht Wien

2.

Preston-Fleck muss lachen, weil sie eigentlich in einem Stock wohnt, der nur für Ausländer reserviert war. Die internationalen, freien Ausländer, die Reichen oder die Außerirdischen aus den Emiraten. Manche sind nie in ihre Wohnungen eingezogen. Manche sind keine Menschen, sondern Agenturen. Preston-Fleck ist die Einzige aus ihrer Schulklasse von Labudovo brdo, die das schlichte Leben in den Eagle Hills erreicht hat, und sie ist so angenehm blondiert, dass man die Haare essen möchte, weil der Farbton an Vanillekuchen erinnert. Sie sieht viel jünger aus, als sie ist. Sie ist schöner als ihre ehemaligen Klassenkameradinnen. In den Eagle Hills ist es klar, dass sich jeder automatisch ausreichend Zeit für Depilationen, Rasuren, Massagen und Friseurinterventionen nimmt.

Liebe Grüße aus Abu Dhabi. Eagle Hills.

Vielleicht liegt es am Orangensaft, dass alle Kinder blond sind. Jetzt hat ihr Sohn jedenfalls vor dem Lehrpersonal erzählt, dass er vom kleinen dunklen Mädchen träumt, und deshalb muss er intensive Einzeltherapie machen. Preston-Fleck ist dadurch vorsichtig geworden und erzählt niemandem von ihrem eigenen Alptraum. Sie hat geträumt, dass sie einen Brief bekommt, der nicht leer ist. Plötzlich sind ihre Hände dunkel und die Haare schwarz und sie ist das Roma-Mädchen und wird an den Stadtrand gebracht.

Das moderne Leben. Eagle Hills.

Der nächste Tag. Ihr Mann, Preston, bringt von der Geschäftsreise noch zehn Platten mit nach Hause. Er gehört zu der internationalen Gemeinschaft der The-Who-Sammler. Er hat alle Erstpressungen und alle wichtigen Konzerte und seltene und seltsame Platten, er war auf Privatshows und hofft, eines Tages die Musiker selbst kaufen zu können. Er hat empfindliche Ohren und bevorzugt leise Restaurants. Die Wohnungstür schlägt zu und Preston bekommt einen Anruf von seinem Fahrer, der verzweifelt um eine Bewertung bittet. Und noch einen Anruf. Das Hotel, in dem er übernachtet hat, möchte bewertet werden. Eagle Hills schickt eine Nachricht, der Wohnkomplex braucht ebenfalls Prestons monatliches Urteil. Eine gute Bewertung ist gut auch für die Bewohner. Inzwischen ist das ein Job geworden, sagt Preston und lacht genervt. Aber er hat recht.

Mehr Luft, mehr Licht. Eagle Hills.

Jede Frau ist schön in den Eagle Hills, so viel ist klar. Jede Frau ist verheiratet. Jede Frau hat gute Zähne. Jedes Kind ist gesund, blond oder Albino. Jede Familie hat zumindest einen kompakten Golden Retriever mit null Prozent Hundehaarausfall. Jede Person trinkt aus papierdünnen Tassen. Jede Frau bekommt einen leeren Brief und sieht ihn kurz an. Jedes Kind träumt vom schwarzen Mädchen. Jede Hochzeit war ein Traum. Jede Hochzeit war der glücklichste Tag im Leben der jeweiligen Braut, die wunderschön ausgesehen hat, und das Kleid wurde nie wieder verwendet. Jeder Mann ist alpha. Jeder Mann trägt gern Anzüge. Jeder Mann ist schön und braun gebrannt. Jeder Mann hat ein Boot gekauft. Jede Freundschaft ist eine schöne Erinnerung. Jede Mahlzeit ist gesund. Willkommen in Eagle Hills. Mitten in Belgrad! Jede Uhr tickt. Jeder nimmt am Wettlauf teil. Alle Hemden sind gebügelt. Alle Pläne werden umgesetzt.

Positiver Einfluss auf die Umgebung. Eagle Hills.

 

3.

Die Siedlung wird eines Tages plötzlich versinken. Preston-Fleck fragt sich, ob das stimmt. Die Gebäude sind so schnell aus dem Boden gewachsen und haben Belgrad um eine Ebene hinaufgehoben und die Belgrader um eine Klasse hinuntergetreten. Man wartet die ganze Zeit auf eine Reaktion, aber was soll schon passieren. Vielleicht wird es Proteste geben.

Wirklich sehr hoch. Eagle Hills.

Preston-Fleck fragt sich Folgendes noch: Stimmt es, dass inzwischen alle in die Welt aus Werbeplakaten wechseln wollen, damit sie dort mit ihren strahlend weißen Socken im grünen Gras sitzen können – mit Sekt, karierter Decke, Glück und allem? Stimmt es, dass alle Freundschaften Geschäftsbeziehungen sind – auch über die Hills hinaus, auch bei den Armen? Stimmt es, dass „jeder für sich“ ist?

Unsterbliche Liebe. Eagle Hills.

Preston-Fleck fragt sich, wie sie den Tod erkennen würde.
Noch etwas. Sie erinnert sich plötzlich, wie sie an einem Frühlingstag auf einer schütteren ausgetrockneten Wiese gesessen ist, von Blumen und Plastikmüll umgeben, neben ihr ein Partisanendenkmal, und wie sie, obwohl sie vor Heuschnupfen fast nicht mehr sehen konnte, in ihrem romantischen Teenage-Buch weitergelesen hat, weil es so spannend war. Dann hat sie zum Denkmal hinaufgeschaut. Auf dem Sockel stand geschrieben: „Sind wir nicht stärker als die Reichen?“ Diese Erinnerung trifft sie wie eine Ohrfeige.

Leben mit Schwung. Eagle Hills.

Preston-Fleck nimmt den Schlüssel. Sie drückt den Liftknopf. In der Ecke liegt wieder eine Nuss. Die Nuss rollt. Wie eine Kakerlake. Ihr Kehlkopf zieht sich zusammen. Sind wir nicht stärker als die Reichen? Preston-Fleck weint im Lift.

So hoch. Eagle Hills.

Preston-Fleck kauft Smoki in der Stadt und isst es auf einer Bank. Ihre Hände sind fett vom Kindheitssnack, die weiße Hose sicher nicht mehr sauber, Mascara fließt die Wangen hinunter. Sie hofft, dass sie von niemandem erkannt wird. Der gelegentliche Schwindelanfall gehört dazu in den Eagle Hills.

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Eine Foto-Text-Ausstellung von Barbi Marković und Julia Gaisbacher ist derzeit in der Akademie Graz zu sehen:

JULIA GAISBACHER UND BARBI MARKOVIC

ONE DAY YOU WILL MISS ME

Mittwoch, 15. März 2018

Beginn: 18:00 Uhr

http://www.akademie-graz.at/cms/cms.php?pageName=2&terminId=463

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