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Meine Ohrwürmer (4): Carl Gottlieb Hering, „Der Kaffee-Kanon“

 

„C-a-f-f-e-e…“ – unser Autor hat sich einen Dresdner Ohrwurm eingefangen, der ihn in den Wahnsinn treibt. Pausenlos singt der vom „Türkentrank“ und kranken Moslems.

Beschreibung: Kaum nötig, schließlich gehört das Stück zu den populärsten deutschen Kinderliedern. Zudem beschreibt es in den ersten beiden Takten auf überraschend moderne, selbstreferenzielle Weise seine eigene Form: „c-a-f-f-e-e, trink nicht so viel Kaffee!“ Der Rest des Textes ist dann schon deutlich weniger zeitgemäß: „Nicht für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven, macht dich blass und krank. Sei doch kein Muselmann, der ihn nicht lassen kann!“

Vorkommen: Seit etwa einem Monat, vor allem montagabends.

Bedeutung: Zunächst glaubte ich tatsächlich, der Ohrwurm wolle mich vor unmäßigem Kaffeegenuss warnen. Vor allem vor dem Zubettgehen; vor allem am Wochenbeginn, wenn der Koffeinbedarf naturgemäß etwas höher ist als an anderen Tagen. Dann bemerkte ich, dass der Wurm einen sächsischen Akzent hatte – kein Wunder, dachte ich, der Komponist Carl Gottlieb Hering kommt schließlich aus Schandau im Elbsandsteingebirge. Dann hörte ich dem Ohrwurm bis zum Ende zu, und als er wieder von vorn begann, wurde er mir zunehmend unheimlich.

Natürlich: Das Lied stammt aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, als der gute deutsche Filterkaffee sich noch nicht als Grundnahrungsmittel etabliert hatte und „Muselmänner“ in Sachsen ein noch seltenerer Anblick gewesen sein dürften als heute. Und man muss nicht jedes alte Kinderlied auf Teufel komm raus den veränderten sozialen und kulturellen Gegebenheiten anpassen. Aber: Dass noch vor wenigen Jahrzehnten, also zu meiner Schulzeit, ein solcher Kanon im Musikunterricht gelehrt (und damit als Ohrwurm-Ei gelegt) wurde, ohne dass auch nur am Rande darauf hingewiesen worden wäre, unter welchen historischen Bedingungen er entstanden ist, und dass er womöglich auf Mitschüler muslimischen Glaubens beleidigend wirken könnte, erscheint mir heute unfassbar.

Als Herr Hering seinerzeit den Kaffee-Kanon komponierte, wurde das Osmanische Reich als „Kranker Mann am Bosporus“ verhöhnt − entsprechend karikiert das Lied die Türken als blasse, nervenkranke Koffeinjunkies. Heute ist es genau umgekehrt, Muslime gelten in rechtsextremen Kreisen als hyperviril, todesmutig, gewalttätig. „In den Muslim“, so der Philosoph Luca Di Blasi, „wird eine intakte Männlichkeit projiziert, in deren Spiegel der multikulturalistische Mann als entmännlicht wahrgenommen wird.“ Anders gesagt: Die Schlappschwänze von der Pegida sind insgeheim ein bisschen neidisch auf die Pappkameraden, gegen die sie allmontäglich zu Felde ziehen. Inzwischen sind sie die blässlichen Lattematschatotrinker.

Abgesehen davon hat sich leider nicht viel geändert: Die Dresdner Christstullen verfügen über ein Weltbild aus der Frühen Neuzeit. Ihre Äußerungen haben das Niveau eines Kinderlieds. Und wie bei einem Kanon singen sie nur nach, was jemand vor ihnen gesagt hat. „C-a-f-f-e-e“, fängt mein Ohrwurm zum ungefähr achtzehnten Mal an zu singen. „Kannst Du bitte, bitte, BITTE endlich damit aufhören?“, frage ich. „Sonst schreibe ich einen Text über Dich.“ „Lügenpresse“, zischt der Wurm, und: „Das wird man wird ja wohl noch singen dürfen.“