Als Kind schlich ich mich heimlich in die Kulisse der Bukarester Oper. Hier lernte ich, wie Kunst uns zu empathischen Wesen macht. Gilt das umso mehr für die Künstler?
Ich öffnete die Tür und wusste gleich, dass ich nicht hineindurfte, aber ich trat dennoch ein, schritt durch dieses Dunkel, worin ich erst nach und nach die Dinge wahrnehmen konnte, den Tisch da, die Stühle dahinter, die Kleiderständer. Ich vernahm die Atemzüge der Künstler, die zum Licht eilten, zur Bühne. Ich stieß mich nirgends, ging schnurstracks auf die linke Seite der Bühne, gleich neben den samtenen Vorhang und natürlich von diesem verdeckt, den Kopf stützte ich an der dicken Kordel ab, mit der der Vorhang festgezurrt war; ich lehnte mich so weit in den gerafften Vorhang vor, dass ich mich in seinen Falten unsichtbar wähnte. „Wenn du in die Kulisse willst, musst du selbstbewusst tun und geschäftig, dann hält dich niemand auf“, hatte mir ein Mädchen gesagt, mit dem ich, zwei Stockwerke höher, den Kinderballettunterricht in der rumänischen Staatsoper Bukarest besuchte. Von da an lief ich nach dem Unterricht die Treppe hinunter und stahl mich durch die verbotene Tür in die Vorstellung.
Und weil das klappte, wurde ich immer dreister, ich erschien jeden Tag, an dem Vorstellung war, in diesem Hintereingang, und zwar weit vor Beginn der Vorstellung, und begann, die Opernmitarbeiter, an denen ich mich zuvor noch angsterfüllt vorbeigeschlichen hatte, zeremoniös zu grüßen. Alle grüßten zurück, äußerst freundlich, manche tätschelten mir, dem Schulmädchen, den Kopf. Ich war sicher, dass sie mich verwechselten, dass sie also dachten, ich sei das Kind von jemand Wichtigem, die Nichte des Direktors – oder auch nur die Tochter des Repetitors.
Wir wohnten in Bukarest gleich gegenüber der rumänischen Staatsoper, von der mich nur eine große, damals allerdings nur sehr schwach befahrene Straßenkreuzung trennte und der kleine Park, der nachts spärlich beleuchtet und der für mich jener gefährliche Märchenwald war, in dem Hexen, Menschenfresser und Securitate-Agenten mit gezückten Bajonetten lauerten. Dort war es am besten, einer Gruppe von Passanten dicht zu folgen. Im Dunkeln aber fanden das die meisten unangenehm und drehten sich oft nach mir um. Also tat ich am Parkeingang so, als würde ich mich gemächlich und nichtsahnend auf einen Spaziergang begeben, nur um von einem bestimmten Punkt an im Zickzack zu rennen, so schnell ich nur konnte, hin zum beleuchteten Operneingang.
Eine lang vermisste Harmonie
Wie hässlich ich schon damals die Basreliefs auf der Fassade fand, die muskulösen Gestalten mit der finsteren Miene, die doch Sänger und Tänzer repräsentieren sollten, in Wahrheit aber Abgesandte des kommunistischen, kunstverachtenden Kollektivs waren! Ich lief um das Gebäude herum, dorthin, wo ich den Hintereingang wusste und endlich aufatmen konnte, wenn mich die Portière herzlich begrüßte. „Beeil dich, es fängt gleich an!“, rief sie mir zu.
Ich öffnete also die große Tür und trat routiniert in die vertraute Dunkelheit der Kulisse, wo ich alles kannte, den Tisch, die Stühle, die Kleiderständer; hin und wieder umging ich einen großen weißen Schrank oder drei Gartenbüsche auf Rädern, die später in die Szene geschoben werden sollten.
Beim Vorhang hatte man mir einen kleinen Stuhl hingestellt. Ich setzte mich und wartete freudig auf den ersten Ton, vernahm vorerst nur die große Stille, den Anlauf und dann, dumpf, wie aus der Ferne, durch den dicken Vorhang: die Ouvertüre, die mich von allen Seiten umwehte wie eine letzte Erkenntnis: „Jetzt erkenne ich‘s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“ Ich gab mich der Musik hin.
Eine meiner Lieblingsopern war damals schon Lucia di Lammermoor von Gaetano Donizetti. „Verranno a te sull’aure“ – bei dieser Arie atmete ich als Kind flach und genauso als Jugendliche, als käme die Musik aus mir, aus meiner Ergriffenheit. Überhaupt erklang es in mir ebenso harmonisch, belcanto, im Duett, Terzett, Quartett, Quintett, wie im Chor, wie eine Erinnerung an eine lang vermisste Harmonie.
Die Geschichten vergaß ich immer wieder, aus den Libretti waren mir nur einzelne Arien erinnerlich und eben das Ganze, sehr allgemein. Die meisten Handlungsbögen fand ich plump, wie für mich gemacht, den blutigen Laien, der eine Musik im reinen Zustand, als wundervollstes Destillat der Stille, nicht aufzunehmen vermocht hätte.
Die Erhabenheit ihres Gesichts
Während sich die Handlung immer weiter verstrickte und alles auf der Bühne endlich in Blut und Wahnsinn versank, die Sänger händeringend und mit von Tragik verzerrtem Gesicht ihr sinnbildlich übertriebenes Schauspiel hinlegten – das für ein Publikum von heute nur noch erheiternd wäre –, trug die Musik alle höheren Erkenntnisse mit sich: die Sehnsucht des Menschen, Wagnis, Reue und immer wieder das Trachten nach dem Wahren und Guten, nach der Liebe.
Hingegen konnte ich die Opera buffa desselben Donizetti, etwa Don Pasquale, die ständig ins Programm rückte, nicht auf Anhieb schätzen. Die Musik trug eine Unruhe in sich, die meine eigene, schlummernde, in Wallung brachte. Mit den Blechbläsern und den Pauken, den ganzen Schlaginstrumenten, zog in schnellem Tempo eine Welt an mir vorbei, die so ganz anders war als die starre Welt der kommunistischen Diktatur, in der ich als Jugendliche lebte; die Musik nahm mich nicht mit, sie ließ mich in dem Bedauern zurück, etwas ganz Großes verpasst zu haben. Mag sein, dass das Libretto dem ortsansässigen Kulturkanon gefällig war – der reiche Geizkragen Don Pasquale wird von seinem Neffen und dessen mittelloser Geliebten Norina hereingelegt –, die galoppierende Musik aber, die wie nach vorne geneigten Streichinstrumente, transportierten viel mehr, eine Freiheit und eine gewitzte Leichtigkeit, die mir völlig fremd waren. Ich war im Begriff, sie an mir vorbeiziehen zu lassen, endgültig und unumkehrbar.
In den Pausen blieb ich sitzen und schaute dem Kulissenwechsel zu, Seile schwangen hinab, Bodenluken öffneten sich, hinten wurden große Panoramabilder hineingetragen. Manchmal kam die Souffleuse vorbei und nahm mich mit in die Kabinen, meist in das der Chorsängerinnen, in dem viel geraucht wurde und mit spitzen Tönen gelacht: „Haha, hört auf, hört auf, ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich sterbe vor Lachen.“
Vor allem die eine Chorsängerin mochte ich, sie hatte lachende Augen, auch wenn sie nicht lachte, und denselben übermäßig gelockten Pony, egal ob sie eine Zigeunerin in Carmen war oder in Nabucco im Sklavenchor sang. Ihr lachendes Gesicht strahlte eine Erhabenheit aus, die für mich auch der Musik innewohnte. In der Kabine erzählte sie einmal vom Tod ihres Vaters; sie habe nie gedacht, dass sie ihn überleben würde, aber sie habe ihn überlebt, wie, das könne sie sich selbst nicht erklären.
Die Souffleuse wurde oft bei den Chorsängerinnen gesucht. „Entschuldigt, ihr Damen, ich komme mit geschlossenen Augen hinein“, sagte der schöne Tenor und er wurde zur Souffleuse geführt, der er dann beide Hände küsste.
Am Ende stets Demut
Der Gong – sobald er ertönte, flatterte es in alle Richtungen, „schnell auf deinen Platz!“, sagte mir die Souffleuse und schickte mich durch den mit Kleiderständern vollgestellten Gang zurück in die Kulisse. „Tz tz, wieder habt ihr hier geraucht, Kinder!“, beschwerte sich der Sopran, eine korpulente Dame, die immer in flauschigen Hausschuhen ging und erst bei meinem Stuhl am Bühnenrand in die unbequemen Schuhe mit dem gehörigen Absatz schlüpfte. Wie anmutig sie war auf der Bühne, als Cio-Cio-San und als Floria Tosca, „vissi d’arte, vissi d’amore„. In Giacomo Puccinis Musik entdeckte ich mich, ja, genauso fühlte ich, wie es da klang.
Wie ich mich für den Sopran freute, wenn sie einmal die unbequemen Schuhe in der Kulisse lassen und barfuß auf die Bühne gehen durfte zu ihrer Sterbeszene. Und wie schön sie sterben konnte – als Traviata, Leonora, Luisa, Julia, als zarte Mimi und als Manon. Ich weinte mit, auch für den schönen Tenor, der von der Trauer überwältigt auf die Knie fiel und mit biegsamer Stimme klagte. Ich war bezwungen von der Erkenntnis, dass am Ende stets diese große Demut stehen müsse.
Ich bin der festen Überzeugung, dass uns die Kunst wandelt und dass sie uns, über den Augenblick der Kunsterfahrung hinaus, auch im Alltag zu sensitiven, alerten, ja emphatischen Menschen macht. Wer sich von der Musik tragen lässt, mit der verbannten Manon Lescaut gestorben ist und mit Des Grieux getrauert hat, ist – zumindest für diesen Moment – geläutert. Das ist schon viel. Umso glücklicher müssten dann die Künstler selbst sein, dachte ich.
Nur wurde vor zwei Jahren die Bukarester Oper von einem großen Skandal erschüttert, über den auch die internationale Presse berichtete. Bei einem Führungswechsel wurde der Leiter des Balletts, der dänische Ballettstar Johan Kobborg heruntergestuft, vergrämt, seine Inszenierungen wurden boykottiert und er erhielt schließlich, zusammen mit seiner Verlobten, der rumänischen Balletttänzerin Alina Cojocaru, die in vielen Fachzeitschriften als die beste Ballerina der Gegenwart gilt, Zutrittsverbot in der Bukarester Oper. Das internationale Corps de Ballet, das in Bukarest unter Kobborgs Leitung formiert wurde und eine beachtliche Anerkennung gefunden hatte, löste sich auf. Den ortsansässigen Künstlern der Staatsoper Bukarest, die eine Festanstellung bis zur Pensionierung innehaben, waren die besser bezahlten internationalen Stars ein Dorn im Auge.
Vor dem Operneingang, zwischen den Basreliefs mit den muskulösen Künstlern, stimmten sie den Sklavenchor an und skandierten schließlich: „Raus mit den Ausländern!“ Darunter erkannte ich auch meine einst so geliebten Sänger, den früher so schönen Tenor, den Sopran mit den flauschigen Hausschuhen, die Souffleuse, die Chorsänger, ein paar Musiker aus dem Orchester und auch die Portiere vom Künstlereingang. Wie alt sie alle geworden waren!
Dana Grigorcea, 1979 in Bukarest geboren, ist eine schweizerisch-rumänische Schriftstellerin. Ihre Romane wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Soeben erschienen: „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ (Novelle, Dörlemann Verlag). Grigorcea organisiert seit 2015 monatliche Benefiz-Lesungen für Flüchtlinge im Tanzhaus Zürich, schreibt die Kolumne für das Zürcher Opernhausmagazin und betreibt mit ihrem Schriftsteller-Ehemann Perikles Monioudis den Literaturblog www.neue-telegramme.ch. Dana Grigorcea schreibt auch Kinderbücher. Sie lebt mit Mann und den beiden Kindern in Zürich.
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