Vier Männer mit dem unwiderstehlichen Charme von Bill Murray: Kraftwerk spielen ihre 3-D-Konzertreihe nun auch in der Berliner Nationalgalerie.
Gestern, am 6. Januar, wäre Syd Barrett 69 geworden. Der Tag, an dem die Sex Pistols wegen provokanter Auftritte ihren Plattenvertrag bei EMI verloren, jährte sich zum 37. Mal – und Kraftwerk spielten den Auftakt einer achttägigen 3-D-Konzertreihe in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Seit 2011 tourt die Band mit ihrem mehrkanäligen Videokonzept nicht etwa durch Multifunktionshallen, sondern durch Museen. Vielleicht hängt das mit der vagen Vermutung zusammen, die Mitglieder hätte sich schon immer gerne in der „bildenden Kunst“ verortet – oder damit, dass das Museum ein Ort ist, in dem man sich historisch mit der Frage beschäftigt, wie Menschen sich früher über existenzielle Probleme verständigt haben.
„Man sieht nur, was man weiß“ – der Satz klingt nach einer Werbung für Reiseführer, stammt aber von Goethe. Illustriert man den Satz mit Fotos von Folteropfern in Abu Ghraib, muss man wissen, dass es auf den Fotos um Folter geht, sonst hält man sie vielleicht für Dokumente sadomasochistischer Freizeitgestaltung oder eine H﹠M-Werbung.
Bilder im Museum, genauso wie Performances, zeigen keine bestimmten Tatsachen, sie werden als solche erst sichtbar, wenn wir sie interpretieren auf der Basis dessen, was man uns darüber erzählt hat und was wir uns dazu denken.
Sieht man sich 2014, mit Anfang 20, also Kraftwerk an, muss man abstrahieren, dass die Band vor 40 Jahren in Düsseldorf mit der Produktion elektronischer Musik begonnen hat, zu einer frisch von Sozialdemokratie durchfluteten Zeit, in der chauvinistische Späthippies mit fettigen Haaren auf Mopeds herumlungerten und es als Gegenbewegung zu dieser Ideologie nur Punk gab. Der wurde in den meisten Gemeinden von Ärztesöhnen in Nickipullovern repräsentiert – die hatten genug Geld, um mit E-Gitarren und Schallplatten von ihren Sprachferien aus London zurückzukehren, und hielten zuerst die The Sonics, danach Kraftwerk für eine transzendentale Offenbarung.
Ihre Feindbilder waren Mercedesfahrer und Leute, die glaubten, man müsse irre gut spielen können. Die Band vom Apothekerssohn war die Coolste, und zwar nur, weil sich gutes Spielen hier ausschließlich darüber definierte, ob man die Gitarren cool umgehängt hatte. Es ging also nicht darum, ob man etwas besonders schnell spielte oder die Gitarren gar gestimmt waren. Es ging nicht ums stichfeste Können, sondern um die Geste. Man kaufte sich ein Waschbrett oder eine Mundharmonika, dann wurde Lärm gemacht und linksradikal untermauert.
Schon 1910 hat der italienische Komponist Francesco Balilla Pratella ein Manifest für die Musik der Zukunft abgeliefert – das sich ausschließlich an „young people“ richtet und exakt die Haltung propagiert, die Anfang der Siebziger Standard wurde: Nie wieder Musikschulen, nie wieder Wert legen darauf, ob Musik „gut gemacht“ ist, jeder kann spielen, und alles, was neu ist, ist wichtiger als seine Referenzen.
Kraftwerk waren politisch nicht verortbar. Jede andere Band hätte mit einem Song, der Model heißt, kritisch die Oberflächlichkeit der Gesellschaft beleuchtet. Bei Kraftwerk ging es einfach nur darum, dass Models gut aussehen und man sie deshalb mit nach Hause nehmen soll. Grenzt an Antihaltung, und die war damals nötig. Es wurden nicht mehr Allgemeinschauplätze wie Liebe und Klassenkampf beackert, sondern das individuelle Interesse an technologischem Fortschritt, Luxus und der Ablösung der Menschheit durch Maschinen.
Diese Gesinnung wird jetzt, in einer Zeit, in der Hochglanztechnik allmählich wieder von Bio-Bauernhöfen abgelöst wird, als etwas ausgestellt, das vor vielen Jahren seiner Zeit voraus war. Vier medienscheue Männer, die körpersprachlich an Billy Murray erinnern, tragen Ganzkörperanzüge aus Naturkautschuk und stehen vor ihrer 3-D-Leinwand – die Videos sehen aus wie Computerspiele für Windows 2000, trotzdem funktioniert das hier besser als in jedem Cineplexx. Sie spielen Radioaktivität und ich will mit ihnen schlafen, sie spielen Model und ich will sie als entfernte Verwandte adoptieren, ihre Prophezeiungen haben sich bewahrheitet und sind überholt, das Museum funktioniert problemlos als Nachtclub, die Kultusministerin tanzt und versteht das alles, der Rhein geht nachwirkend als „magische Quelle“ neuzeitlicher Musik in die Geschichte ein, umso erstaunlicher ist, dass das Ganze wirklich großen Spaß macht.
Kraftwerk basteln kontinuierlich an einem Repertoire herum, das überschaubar ist und sich seit 2003 nicht mehr weiterentwickelt hat. Melodielinien erheben sich über Beats, ab und zu erschrickt man sich, weil das nach dem Vorspiel eines Rihanna-Hits klingt, die Songs sind keine Experimente mehr, sondern Pop, und alle Spielereien nur noch auf simple Ekstase ausgerichtet.
Popmusik kann persönlichkeitsbildend sein. Aber das Schönste an ihr ist, dass man sich nicht unbedingt für sie interessieren muss.