Telefon? Lippenstift? Hilfe! Das halbe Leben verbringe ich kopfüber in meiner Handtasche. Fragen Sie nicht, was passiert, wenn im Urlaub noch die Koffer dazukommen.
Die Hälfte meines Lebens verbringe ich kopfüber in meiner Handtasche. Mal ist der Hausschlüssel verschwunden, dann suche ich in den Tiefen meiner Tasche meinen Lieblingslippenstift. Der Boden meiner Handtasche scheint in solchen Momenten an Tiefe zu gewinnen, er wird gleichsam uferlos, ein sich ausdehnender Kosmos, und ich wühle und wühle um mein Leben, aber die geliebten Gegenstände bleiben verschollen.
Auch in den Seitentaschen, wo Kaugummis, Taschentücher auf ihren Gebrauch warten: nichts. Die Sachen sind weg. Ein für alle Mal. Tränen schießen mir in die Augen, das Leben ist gemein und ungerecht …
Meistens findet sich dann doch alles, aber eben nicht immer, und dieser Moment der Panik: Was wird wiedergefunden werden? Was für immer verloren sein? Dieser Moment des gnadenlosen Unglücks ist fürchterlich.
Kurz vor den Ferien ist es besonders schlimm, weil zu der Handtasche die Koffer dazukommen. Habe ich das Sonnenöl, den Reiseführer und die leichten Sandalen eingepackt? Ich habe bestimmt die Magnesium-forte-Tabletten vergessen! Das neue Buch? Zwei Wochen ohne Lektüre und ich gebe mir die Kugel! Dort, wo wir untergebracht sind, gibt es weit und breit keine Buchhandlung und schon gar keine Bücher auf Deutsch … Kaum ist der Koffer zu, wird er wieder aufgemacht. Die schön gefaltete Kleidung wird durcheinandergebracht, bis das Sonnenöl, der Reiseführer und die leichten Sandalen wiederauftauchen. Das Buch liegt entspannt neben den Magnesiumtabletten. Natürlich. Alles da, alles an seinem Platz, abreisebereit.
Meine Hysterie überfällt die ganze Familie. Habt ihr auch alles eingepackt? Alle Ladegräte? Adapter? Ich kaufe nicht wieder ein neues Set an Adaptern für die USA, für Italien oder Großbritannien. Kümmert euch selbst drum!
Am Tag der Abreise sind dann wirklich alle ferienreif …
Meine Söhne hassen diesen meinen Zustand und noch mehr meine Handtaschen. Denn die Ferienzeit ist endlich, das Leben mit meiner Handtasche aber nicht …
Sie werden nervös, wenn ich beginne zu kramen, immer schneller und heftiger zu wühlen, um dann gänzlich in der Handtasche zu verschwinden.
„Mein Ausweis ist weg, ich kann ihn nicht finden! Eben war er noch da! So kann ich unmöglich das Haus verlassen. Und schon gar nicht ins Ausland fahren. Wir müssen hierbleiben, sagt schon mal den Flug ab! Ich bin staatenlos, ich werde festgenommen werden! Es gibt mich nicht mehr. Ich bin praktisch schon tot!“
Meine Söhne drehen sich weg, sie behaupten, mich nicht zu kennen.
„Oh. Halt. Stopp. Da ist er ja. Er war im anderen Fach. Ich habe ihn nicht dahingetan, ich schwöre. War jemand an meiner Tasche? Bestellt ruhig das Taxi, wir können los. Und warum schaut ihr so?“
So oder so ähnlich sind die Szenarien. Beliebig möglich mit den Portemonnaies oder der schönen neuen Sonnenbrille.
Was für eine Art schwarzer Magie oder hinterhältiger Anziehungskraft üben Taschen und Koffer auf geliebte Gegenstände aus? Und warum immer kurz vor Reiseantritt, wenn das Taxi vor der Haustüre wartet oder wenn die Verabredung schon drei Mal geklingelt hat? Warum verschwinden dann gerade Hausschlüssel, Lippenstifte und Mobiltelefone?
Meine Söhne verdrehen die Augen, wenn sie nur meine Handtasche sehen.
Sie können dieses enge Verhältnis nicht verstehen. Begreifen nicht, dass meine Handtasche mein Leben ist. Sie ist mein Paralleluniversum, und in ihr ist alles, aber auch wirklich alles, was ich je im Leben gebraucht habe oder brauchen könnte.
Es spielt ja auch keine Rolle, ob es die kleine Pochette ist oder der Rucksack.
Pflaster, Schweizer Messer, Tampons, Lippenpflege, Touche Éclat, Handy …
Ich könnte ewig weiter aufzählen: Kopfhörer, Handschuhe, Bonbons, der Reparaturzettel vom Änderungsschneider.
Die Bewohner meiner Handtasche haben schon überlebenswichtige Dienste geleistet, gerade auch gegenüber meinen Söhnen.
Dass sie das nicht begreifen, ist arrogant und herzlos.
Ich kann auf vieles verzichten. Aber nicht auf Espresso und meine Handtasche.
Ab jetzt werde ich mich weigern, ihre Handys, Fahrausweise, Geldbörsen zu tragen. Sollen sie sich doch selbst Taschen zulegen, um zu begreifen, was für eine innige Symbiose man mit seiner Handtasche entwickeln kann. Eine tiefe, innige Beziehung, die es so unter Menschen nie geben kann.
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