Zu Hause wurde der ostpreußische Dialekt der Mutter geübt. Auf dem Spielplatz in Rheinhessen aber hörten wir andere Mundarten. Das Eigene und das Fremde mischten sich miteinander.
Dies ist nicht die Entwicklung eines geschlossenen poetologischen Systems, sondern vielmehr ein Lokaltermin: Wo entspringt „das Schreiben“, „die Stimme“, „der Stoff“. Schreiben kommt niemals ohne das Wissen, die Erfahrung, die Gesellschaft der anderen, des anderen aus. Nur Einzeller vermehren sich über Parthenogenese; beim Erzeugen eines literarischen Texts hingegen ist das Hinzukommen von Fremdem unerlässlich. Erst die Vermischung von Eigenem und Fremdem, eigentlich eine Verunstaltung, bringt die Gestalt hervor.
Ich möchte den folgenden Überlegungen ein Zitat aus Max Frischs vor wenigen Jahren erschienenem Band Entwürfe zu einem dritten Tagebuch vorausschicken:
Allgemein beneide ich jedermann, der eine Denkschule durchlaufen hat, gleichviel welche; ob als Jesuit oder Protestant oder Marxist oder Kabbalist; auch wenn später einer seine Position ändert, er bewegt sich in einem Koordinaten-System. Wenn ich mich in Begrifflichkeit einlasse, so schwimme ich und fühle mich als Schwätzer, wobei es mich nicht erleichtert, wenn der andere auch ein Schwätzer ist, und das kommt vor. Ich bin auf Erfahrungen angewiesen, die mich begrifflich hilflos machen und von daher narrativ. Was sich nicht umsetzt ins Anschauliche, bleibt bei meiner Anlage immer uneigen.[1]
Roland der Riese vorm Rathaus zu Bremen
Am Wochenende wird gebügelt. Das sperrige Brett im Kinderzimmer aufgebaut, der Wäschekorb, randvoll, auf das Bett der ältesten Schwester gestellt. Das Einsprengen der steifen Wäschestücke mit der Sprühflasche ist, nachdem meine Zwillingsschwester diese auseinandergefaltet hat, meine Aufgabe, meine ältere Schwester behält die Übersicht.
Nach den Vorarbeiten nehmen wir Aufstellung neben der Mutter, die das dampfende Eisen auf die Wäsche niedersausen lässt wie ein Verhängnis.
Im Chor intonieren wir: Roland der Riese vorm Rathaus zu Bremen. Die Mutter hebt das Eisen, sagt „noch mal“ und lässt es zischen.
Wir, von vorn: Roland der Riese vorm Rathaus usf.
So verliefen, jeden Samstag, unsere Ostpreußisch-Stunden; im Mittelpunkt stand immer das ostpreußische „r“. Tief in der Kehle zu bilden, nicht wie das italienische oben am Gaumen, mit der gegen die obere Zahnreihe gedrückten Zunge: rosso, rischio, rancore, amore.
Ähnlich wie beim Gurgeln mit Medizin oder Mundwasser verschluckten wir uns regelmäßig an diesem tückischen mütterlichen Buchstaben; heraus kamen Rolands, Riesen und Rathäuser ohne Musik, ohne Geschichte und ohne frisches Haff. Das frische Haff war eine Landzunge, soviel wussten wir, eine Zunge, für die das ostpreußische „r“ kein Zungenbrecher war.
Der Singsang des rheinhessischen Gebrabbels
Das „r“ hatte mit der Großmutter, der Mutter und den Tanten im Januar 1945 die Flucht über das zugefrorene Haff bis Pillau überlebt, das „r“ war, anders als der Koffer mit den letzten Schätzen, nicht in einer der eisfreien Rinnen untergegangen. Deshalb leuchtete es zunächst ein, dass wir das „r“ gut behandeln mussten, es war mit knapper Not entronnen und war nun in Oberlahnstein am Rhein bei einem falschen Zungenschlag im Exil. Die anderen Kinder hatten mit dem „r“ kein Problem, besonders diejenigen nicht, die im Ahlerweg wohnten. Der grenzte zwar, wie die eigene Straße, die Nordallee, auch an den von einer hohen Mauer umgebenen Park der von Roehls, blieb aber gleichwohl unerreichbar. Der Ahlerweg war weiter weg als das Memeldelta, der Ahlerweg war weiter weg als die kurische Nehrung.
Der dämliche Ikea-Slogan der letzten Jahre bringt es auf den Punkt: Wir wohnten zwar in Oberlahnstein, aber wir lebten nicht dort.
Ein Spielplatz machte der eigenwilligen mütterlichen Geografie ein, zwei Jahre später einen Strich durch die Rechnung: Seine drei Zugänge öffneten sich demokratisch ausgewogen zum Ahlerweg, zur Nordallee und zum Park. Das Recht auf den Spielplatzbesuch war unbestreitbar, und es kam, wie es kommen musste: zur Aufweichung, zum Kontakt, zur Vermischung. Im Singsang des rheinhessischen Gebrabbels gingen die Unterschiede baden, das ostpreußische „r“ verschwamm und das norddeutsch-steife „s-t“ der von Roehls betrank sich zum Vollmundigen „scht“. Vom Balkon aus konnte die Mutter den Spielplatz einsehen, aber nichts hören. Im neuen konspirativen Idiom, die Beine zur besseren Tarnung im Sandkasten eingebuddelt, murmelten wir einander die neuen Codes zu, hoschrze mo, Partisanenparolen statt Gehorsamsrallye am Bügelbrett. Im Spiel stellte sich heraus, dass es eine Wahl gab. Im Spiel desertierten wir allen Befehlshabern.
Wie frisch die Luft war.
Natürlich gab es Ausrutscher; bei den Mahlzeiten vor allen Dingen. Dann wurde die Aussprache korrigiert oder, schwerwiegender, das Wort selbst verbannt. Erst nachts im Bett, in der geteilten Mansarde, ging der Aufstand weiter. Ich erinnere mich an kein bestimmtes Wort oder an ungewöhnliche Ausdrucksweisen; das Aufregende, ja, auch das Unflätige an diesem Reden lag in der völligen Abwesenheit vom Buchhalterischen: Die Sprache des Ahlerwegs, der Eisenbahnbähnerkinder, wie meine Mutter sie nannte, war köstlich ephemer, sie hielt einen Tag, schnappte am nächsten etwas auf, entließ am übernächsten schon wieder lauter neue Bastarde. Im Dialekt ist das wichtigste Ferment nicht das konservatorische (das gibt es auch), sondern das vitale, also das verderbliche. In beiderlei Sinn des Worts.
Die Tüte mit dem Pfefferminzschokolinsen
Ein Vorfall brachte ein einziges Mal die beiden Welten in Kontakt: Ich hatte eine handgestrickte Jacke mit dicken Bommeln bei der Rutsche liegen lassen, sie kratzte am Hals, ein verhasstes Kleidungsstück, das die gefühlte und erwünschte Verwegenheit torpedierte.
Ein Kind vom Ahlerweg hatte sie mit nach Hause genommen und war dann von seiner Mutter beordert worden, sie dem rechtmäßigen Eigentümer zurückzubringen. Das Mädchen stand auf der Schwelle zu unserer Wohnung, die Jacke in der Hand, meine Mutter vor sich, an den Wörtern würgend, die nicht über die Zunge gehen wollten. Der Blick auf die untere Türhälfte gerichtet, als ließe sich dort der einstudierte Text ablesen.
Meine Mutter nahm die Jacke, sagte „das ist aber sehr nett von dir“ und schüttelte dem Kind die schlaffe Hand. Dann schickte sie mich in die Küche, um aus der Dose mit Süßigkeiten die Tüte mit den rosa und weißen Pfefferminzschokolinsen zu holen. Sie bat das Mädchen, ihre Hand aufzuhalten und schüttete ein paar Linsen hinein.
Ich schämte mich für den abgezählten Dank und erst recht dafür, dass meine Mutter, als das Kind stumm abgedreht war, die Jacke sofort in den Korb mit der schmutzigen Wäsche steckte. Und am meisten schämte ich mich dafür, dass ich kein Wort für das Mädchen eingelegt hatte. Kleinlaut statt vorlaut gewesen war. Erst als ich in unserer Mansarde auf dem Nachtspeicherofen saß, dessen rotes Licht zuverlässig Interesse signalisierte, traute ich mich, zu protestieren: Roland, der Depp vorm Deppenstall zu Bremen.
Eine gewünschte Veränderung
Spät habe ich begriffen, dass die unsinnigen, tyrannischen und rührenden Versuche meiner Mutter bei ihren Töchtern das ostpreußische „r“ gewissermaßen einzulegen – so wie man um der Haltbarkeit willen Gurken sauer einlegt –, nicht nur einem Dünkel entsprang, sondern eben auch dem Wunsch, ihre Kindheit, ihre Vergangenheit, ihre Beheimatung der nachfolgenden Generation als konkurrierende Wirklichkeit in den Mund zu legen. Umso mehr, als Krieg und Flucht diese abgebrochen hatten; so blieb sie paradoxerweise gültig, jedem zeitlichen Korrektiv entrückt, im Formalin der Erinnerung erstarrt. Die Folge dieser Übertragung war für das Kind eine Virtualisierung der eigenen (unspektakulären) Gegenwart, alles Eigentliche, alles Wichtige spielte sich nach Maßgabe der Mutter nicht in den Flussniederungen der Lahn ab, sondern im importierten, verlorenen Ostpreußen.
Wenn die Wirklichkeit nicht galt, dann folgte daraus, quasi automatisch, eine wundersame Aufwertung der Erfindungen. Als Kind wurde diese Lizenz zum wilden Geschichtenerzählen ausgenutzt, zum Erfinden von Brüdern, vom heimlichem Übertritt zum Katholizismus, Entführung in den Süden (genauer musste ich es nicht wissen, Nicht-Osten, das reichte) durch einen Züchter von Arabern. Pferde, genauer gesagt Araber, waren nicht nur mein Aufgebot gegen die übermächtige Konkurrenz der ostpreußischen Trakehner, sondern fesselten mich auch, weil ihre Fohlen schwarz auf die Welt kommen und im Laufe der Zeit weiß werden – einfach so, von allein! Nicht nur eine vorgesehene, nein, auch eine unbeanstandete, nicht beargwöhnte, eine gewünschte Veränderung. Das gab es also.
Selbstredend ist das ostpreußische „r“ noch eine der hübscheren Indoktrinierungen, die übrigen, für die die Schule, Hormone und andere Botenstoffe sorgten, setzen sich nicht minder ausdauernd im Gewebe fest und eignen sich weniger für Anekdoten.
Vermutlich war aus diesem Grund die Erfahrung so triumphal, die ich mit der neuen Textur, dem Geschriebenen nämlich, machte: Im Gesponnenen ist alles noch enthalten, als Unreinheit, als Aufgerautes, als mehrfach Geflicktes und Verblichenes. Aber es lässt sich ver- und bearbeiten, anders färben, es mausert sich zu neuen Mustern, es verknüpft sich mit Neuem und Fremdem. Das schwarze Fohlen wird weiß. Im Geschriebenen ist, wie im Dialekt, nichts fixiert, nur der Handschrift verhaftet, einer Handschrift, die Vereinbarungen gehorcht und sie doch ganz anders ausspricht. Auch hier ein Spielplatz, auch hier viele Stimmen, im Wispern liiert, auch hier Subversion und hybride Wechselbälger, sandgeboren, die den Zensoren, auch den inneren, entgehen, Camouflage-Genies.
Echte Mundart hinterlässt ein Kunststück
Wie wächst einem der Schnabel als Erwachsener? Nein, nicht ostpreußisch und auch nicht rheinhessisch. Dialekt ist die Summe aus Region und Person. Ich habe den Dialekt verlernt; eine ausgesprochen merkwürdige Erfahrung. Zugunsten einer Fremdsprache und eines Auslands, der Schrift, dem Schreiben. Bereits zuvor habe ich erfahren – in Italien, in Amerika – dass ich mich in die fremden Sprachen einfühlen, sie mir anverwandeln kann, meine Zunge ist in fremden Kehlen ein geübter blinder Passagier, sie macht sich, wenn sie spricht, nicht verdächtig – aber Dialekt, irgendeinen oder den meiner Kindheit: nein. Es geht nicht mehr. Das hat wohl mit Freiheit zu tun, mit einer Freiheit, die ihre Herkunft aus der Unfreiheit, aus dem Diktat nicht vergisst, aber nun die Souffleure entlassen oder einsetzen kann fast nach Belieben.
Ich schreibe nun, wie mir der Schnabel gewachsen ist; vielmehr: Er wächst mir beim Schreiben. Das Schreiben ist meine Mundart. In der Mundart bildet sich die Stimme, die Mundart erhebt Einspruch gegen die dominanten Drehbücher, die vorgeschriebenen Libretti, die Riesen und die Rolands. Auch indem sie sie verschluckt; zu Leibeigenen macht. Das „r“ rumort weiter, aber den Wortlaut entscheide ich. Die Mundart entspringt dem Körper, das heißt, sie ist lebendig und verderblich wie das längst verhallte Kindergewisper im Sandkasten und wie der Körper, dem sie entkommt. In diesem Entkommen aber, in der Entäußerung und in der Entbindung vom Körper liegt ihre Autarkie und ersteht ihre Fremdheit aufs Neu. Echte Mundart hinterlässt ein Kunststück. Im Glücksfall in der Muttersprache des Lesers.
[1] Max Frisch, Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2010, S.176.
_______________
Sie möchten keinen Freitext verpassen? Es gibt einen Newsletter. Hier können Sie ihn abonnieren.