Der Flokati aus Laubbäumen ist verschwunden. Die biblische Dürre-Prophezeiung scheint wahr geworden. Werden wir bald auf rituellen Regenwegen wandern müssen?
Seit Wochen hat es nicht richtig geregnet. Die einen finden das toll, andere leiden. „Dicke Füße und schlechte Laune!“, schrieb meine Schwester mir neulich, der es eigentlich nie heiß genug sein kann. Die Hitze macht eben doch nur so lange Spaß solange sie sich zwischendurch mit genug Regen abwechselt. Doch statt Regen macht das Wort „Dürre“ die Runde. „Dürre“ klingt unheimlich, nach der warnenden Vorbotin eines Unglücks, zwei schnelle Silben mit viel Geröchel in der Mitte, auf die dann das unvermeidlich Einsilbige folgt, wenn man nicht aufpasst: „Tod“.
Ich muss wohl sieben oder acht gewesen sein, als ich zum ersten Mal von Dürre hörte. Es war in einer Geschichte aus der Kinderbibel. Während Jakobs Sohn Joseph, verleumdet von Potifars Frau, im Gefängnis sitzt, hat der Pharao einen beunruhigenden Traum. Sieben fette Kühe fressen sieben magere Kühe auf; der Traum wiederholt sich, diesmal verschlingen sieben fette Ähren sieben magere Ähren. Keiner der Zauberer und Wahrsager in Ägypten kann Pharaos Traum deuten, also wird Joseph aus dem Gefängnis geholt. Er prophezeit Ägypten eine sieben Jahre andauernde fruchtbare Phase, auf die dann sieben dürre Jahre folgen werden. Ich erinnere mich an die Illustrationen, an das vom Albtraum verzerrte Gesicht des Pharaos, an die verzierte, goldene Stütze, auf der sein Nacken lag, aber vor allem erinnere ich mich an die ausgezehrten Körper der Kühe und die vertrockneten, dünnen Ähren. Diese Ähren hatten dieselbe Farbe wie das Gras am Tempelhofer Feld dieses Jahr, wie die Wiesen in der Bonner Rheinaue oder der Schlosspark in Sacrow.
Anders als im vorchristlichen Ägypten endeten die heißen Sommertage in den 1980er– und –90er Jahren immer mit einem kräftigen Gewitter, gefolgt von nächtlichen Regengüssen. Meine Mutter liebte diese Gewitter in der Dämmerung so sehr, dass sie berauscht alle Fenster aufriss, während ich mich mit Essen und Büchern in unserem fensterlosen Badezimmer einschloss und in die Wanne legte, bis Blitz und Donner weiter gezogen waren. Deutschland war kalt und verregnet, es war irgendwie immer nass, der Bürgersteig nie richtig trocken, die Gummistiefel standen unter der Regenjacke im Flur allzeit bereit.
Die Ausmaße der Versteppung
Die Dürre näherte sich mir zum ersten Mal durchs Telefon. Meine spanische Familie in Madrid klagte Anfang der 90er über die heißen Winde, die das Landesinnere heimsuchten. Hitze waren sie im Sommer gelohnt, aber keine Temperaturen von über 40 Grad. Onkeln, Tanten und Kusinen mussten nachts von der Hitze gequält immer wieder unter die Dusche steigen, um sich Abkühlung zu verschaffen. Zum Glück leben wir dort nicht mehr, sagte meine Mutter, so als sei Krieg in Spanien. Während draußen der Regen prasselte und ich schlafend im Bett lag, sah ich im Traum meine spanische Verwandtschaft durch die madrilenische Wüste wandern, meine Kusine mit heruntergelaufenen Espandrillos, und mein Onkel mit einem bis auf die Haut durchnässten Lacoste-Hemd.
Zwar verdursten meine Verwandten in Spanien noch nicht, doch die Wüste hat sich in den letzten Jahrzehnten vom Südosten aus immer tiefer ins Landesinnere gefressen. Die Ausmaße dieser Versteppung kann man besonders gut vom Billigflieger aus sehen, den ich, anstelle des Zugs, ab der Jahrtausendwende immer öfter nahm . Der Anblick war verstörend. Spanien sah von oben aus wie ein schmutziges Stück Kreide, ein Land wie durch Tee gezogen. Je näher man hingegen Deutschland kam, desto grüner wurde es, überall Wälder, ein kilometerweiter Flokati aus Laubbäumen. Beruhigt ließ ich mich jedes Mal in meinen Sitz zurückfallen und schloss die Augen.
Abgesehen vom tiefblauen Rand sieht Deutschland derzeit von oben aus wie Spanien, davor kann niemand mehr die Augen verschließen. „Konnte eben die ersten Bilder von Mitteleuropa und Deutschland bei Tag machen, nach mehreren Wochen von Nacht-Überflügen. Schockierender Anblick. Alles vertrocknet und braun, was eigentlich grün sein sollte“, twitterte der Astronaut Alexander Gerst am 6. August von der ISS. Inzwischen sieht Deutschland nicht nur von oben aus wie Spanien, auch die alte Gewohnheit nachts zu duschen habe ich von meinen Verwandten übernommen, selbst die Nachrichten ähneln sich – Waldbrände, der Ruf nach Hitze angepassten Arbeitszeiten für Angestellte, Nothilfe für die Landwirtschaft.
Was, wenn es nie wieder regnet?
Tagsüber kann ich es bei über 30 Grad Raumtemperatur in meiner Wohnung kaum noch aushalten, deswegen flüchte ich in den Schrebergarten, wann ich nur kann. Im Garten ist es schön grün, dort gießen wir mit Havelwasser, das (noch) umsonst aus der Leitung kommt, aber die Havel steht tief wie selten, der Muschelkalk verstopft die Gartenschläuche. Meine Nachbarin strahlt. Sie bringt Pfirsiche, ihr Baum trägt, dass sich die Äste biegen. Sie schmecken süß und saftig, wie ich sie sonst nur in Spanien bekomme.
Für den nächsten Tag ist endlich Regen angesagt. Wir reden über kaum etwas anderes, wie kleine Kinder vor dem Weihnachtsabend zappeln wir herum, räumen den Sonnenschirm, die Gartenpolster weg. Es soll stürmen, und dann soll es regnen. Besorgt schaue ich auf die alte Eiche, die schräg über der Datsche wächst. Was wenn sie aufs Dach stürzt? Langsam zieht sich der Himmel zusammen, irre Blautöne wechseln sich ab mit Grau in allen Facetten. Der Insektenschutz vor der Tür klappert auf und zu. Ich kriege es mit der Angst, springe über den Zaun und klopfe bei Doris, sie hat zu später Stunde noch Besuch bekommen. Sonja, die mit dem Rad vor dem Unwetter nicht mehr nach Berlin gekommen ist. Ihr Hund sitzt hechelnd unterm Tisch.
Doris steht am offenen Fenster, genau wie meine Mutter früher starrt sie in den Himmel. Schaut euch das an, sagt sie, diese Farben. Dann zuckt ein erster Blitz am Himmel, Doris schließt die Fenster. Wir stecken die Nasen durch den schmalen Türspalt und schnüffeln nach diesem eigentümlichen Geruch, der Regen ankündigt. Glaubt ihr, dass es regnen wird, fragt Sonja. Ich zucke mit den Schultern. Donner grollt, der Wind zerrt an den Bäumen und Büschen, die Riesensonnenblumen wiegen sich, als seien sie betrunken, doch es bleibt trocken. Was wenn nicht, sagt Sonja, was wenn es nie wieder regnet?
Das, was wir Klimazerstörung nennen
Ich muss an die Ausstellung denken, die ich vor einigen Wochen in der Bundeskunsthalle in Bonn gesehen habe, über die Nazcakultur, die riesigen Geolythenbilder, die man nur aus dem Flugzeug als Bilder erkennen kann. Diese langen Figurenwege sind weder Landebahnen für Außerirdische noch astronomische Riesenkalender, weiß man inzwischen. Sie dienten als Wege für Regenprozessionen in einer Region, die immer trockener wurde und schließlich zum Aussterben der Nazcas führte. Werden wir einmal so verzweifelt sein, dass wir auf rituellen Regenwegen durch Sacrow wandern werden? Wenn ja, welchen Weg werden wir einschlagen, welches Bild werden wir beschließen von hier unten zu zeichnen, und wird der Twitterastronaut Gerst aka astro_alex ein Foto aus dem Weltraum von uns machen?
Endlich prasselt es los. Der Boden dampft, die Hitze, die er wochenlang aufgenommen hat vermischt sich mit dem Regenwasser zu Nebelkaskaden, kurz sehen unsere Gärten aus, wie Regenwald. Eine Stunde regnet es, dann ist es schon wieder vorbei. Wir atmen die kühle, feuchte Luft ein, Erinnerungen an die Kindheit kommen hoch, der Wunsch nach einem Sprung in die Pfützen. Ich laufe rüber in meinen Garten. Die Eiche steht noch, aber wie lange? Im Schlosspark liegen noch immer Dutzende umgestürzte Bäume vom letzten Herbststurm, dicke, hundertjährige Buchen und Linden. Geht das jetzt wirklich immer weiter so, und wird das Wetter, die Hitze, die Stürme, die Dürre unser Leben viel mehr bestimmen, als alles andere? Werde ich darüber schreiben, nicht nur so wie jetzt, sondern wird das Wetter und das, was wir Klimazerstörung nennen, mich wie Pharao bis in meine Träume verfolgen und alle möglichen Wege in meine Texte, meine Erzählungen finden? Wahrscheinlich ja. Denn irgendwo inmitten der Ruinen, die der Klimawandel jetzt schon hinterlässt, muss ich mir die Neugier bewahren, diesen Wandel, den Terror, den der sogenannte Fortschritts mit sich gebracht hat, nicht nur als etwas Schreckliches und Angsterregendes zu interpretieren, sondern auch als etwas Besonderes, das es zu erzählen gilt. Nur so kann ich wie ein moderner Joseph – oder noch moderner: Josefine! – Albträume deuten und Auswege erzählen.