Marilyn Manson treibt, wie Kraftwerk, seine eigene Musealisierung voran. Auf seinem neuen Album The Pale Emperor ist der einstige Bürgerschreck salonfähig geworden.
I
Beim Konzert von Kraftwerk in der Neuen Nationalgalerie in Berlin steht Dirk neben mir und klärt mich über die Konstitutionstypen von Bandmitgliedern auf. Da gebe es den Pykniker – halslos, mittelgroß, gedrungen –, den Athletiker – kräftig, sportlich, stark –, den Leptosomen – langhalsig, schlaksig, schmalbrüstig – und Mischtypen, die keiner Kategorie klar zugeordnet werden könnten. Welcher Sänger, Gitarrist oder Schlagzeuger welchem Typen entspreche, hänge stark von der Musikrichtung ab, aber Bassisten seien, heißt es, auffallend oft Leptosome.
„Das“, sage ich, „klingt verdammt nach Rassenlehre.“
Und Dirk sagt, der Typ, der dieses System in den zwanziger Jahren entwickelt hat, war später ein Nazi, Anhänger der Ausdruckslehre, die in äußeren Erscheinungen eine symbolische Manifestation von Charaktereigenschaften zu erfassen suchte.
Dirk und ich haben zusammen Geschichte und Germanistik studiert. Während ich mich von der Wissenschaft abgewendet habe, erforscht er die Genese von Begriffen und deren popkulturelle Verwendung.
„Und diese Lehre übernimmst du einfach so?“, sage ich.
Und Dirk sagt: „Nein, ich zitiere nur.“
„Wen?“
„Das Internet, Foren, YouTube-Kommentare, Facebook-Einträge.“
Egal, ob die ideologisch aufgeladenen Zuschreibungen in einigen Fällen zutreffen mögen oder nicht, bei Kraftwerk würden alle Versuche, die Männer hinter den Stehpulten in eine physiognomische Schublade zu pressen, von Vornherein scheitern: Von außen, von vorne, von unserer Position aus ist nicht erkenntlich, wer was macht, ob überhaupt irgendeiner der vier Musiker irgendetwas macht – nur Ralf Hütter, der Übriggebliebene aus der Urbesetzung, bewegt ab und zu die Lippen und spricht ohne jede Betonung ein paar Worte in sein Headset-Mikrophon. Ich hatte nach den ersten Rezensionen Schlimmes erwartet: dicke, alte Männer in von innen illuminierten neonkarierten Neoprenanzügen. Doch die Herren haben sich erstaunlich gut gehalten.
Es ist das sechste Konzert der Kraftwerk-Reihe, die Präsentation des Albums Electric Café, das die Band später in Techno Pop umtaufte, offenbar, um ihre musikhistorische Vorreiterrolle zu unterstreichen. Nach Der Telefon-Anruf, Autobahn, Radioaktivität und Die Mensch-Maschine usw. fällt der Vorhang, und als er wieder aufgeht, stehen vier Roboter auf der Bühne, die ihre Arme von sich strecken, und aus dem Off kommt Die Roboter. Angesichts der Automaten wird uns bewusst, dass die Zeit doch nicht ganz spurlos an den Musikern vorübergegangen ist. Drei der Roboter haben volles Haar, alle sind völlig faltenfrei, und einer sieht Florian Schneider, dem anderen Gründungsmitglied, ähnlicher als seinem zwanzig Jahre jüngeren Ersatzmann. Die vier Figuren zeigen deutlich die Grenzen künstlerischer Selbstinszenierung und künstlicher Repräsentation auf: Menschen, die sich als Roboter verstehen, müssen, wollen sie ihrem Ideal nicht fremd werden, ewig jung bleiben. Konsequent wäre es daher, von Anfang an Puppen vors Publikum zu stellen. Aber womöglich würde dann niemand mehr zu den Konzerten kommen.
II
Als fünf Tage später The Pale Emperor, das neue Album von Marilyn Manson, erscheint, muss ich an einen anderen früheren Kommilitonen von mir denken, an Aiko. Vor dreizehn Jahren trafen wir uns manchmal zufällig in der Staatsbibliothek unter den Linden, die damals noch nicht umgebaut worden war. Um in den Lesesaal zu kommen, musste man durch enge, verschlungene Gänge gehen und steile Stiegen hochsteigen, und einmal, als wir in diesem Labyrinth aufeinandertrafen, erzählten wir uns, für was wir gerade recherchierten: ich an meiner Magisterarbeit über Männlichkeit im Schwarzen Korps, der Wochenzeitung der SS; er an einer Hausarbeit über die Ästhetik des Hässlichen am Beispiel des damals sogenannten Schock-Rockers Marilyn Manson.
In seinem Essay untersuchte Aiko die Dekonstruktion des menschlichen Körpers anhand von zwei von der Fotografin und Regisseurin Floria Sigismondi verantworteten Manson-Videos zu Songs aus dem zweiten Album Antichrist Superstar. Und er verglich die Texte von Deformography, Wormboy, The Reflecting God und Man That You Fear mit Friedrich Nietzsches Schrift Der Antichrist: „Gott starb: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe!“ – heißt es bei dem einen, „I went to god just to see / And I was looking at me, yeah / Saw heaven and hell were lies / When I’m god everyone dies“, bei dem anderen. Was bei Nietzsche als Selbstermächtigung und Überwindung von Theologie, Dekadenz, kulturellem Verfall etc. gedacht war, wendet Manson ins Persönliche und Nihilistische.
Schaut man sich die Videos von Tourniquet und The Beautiful People auf YouTube heute an, erscheinen Manson als Band, oberflächlich betrachtet, die Antagonisten Kraftwerks zu sein: versehrte, verschmutzte Leiber, von Prothesen und Korsetten zusammengehaltene Körper, von Spangen aufgerissene Münder, in denen Würmer und Käfer verschwinden, ein Torso auf Rädern, auf Stelzen gehende Übermenschen. Und doch haben beide Gruppen gerade in diesem unbedingten Willen zur ästhetischen Überhöhung des Menschlichen und Allzumenschlichen einen gemeinsamen Ursprung. Sie gehen bloß in ihrer Ausprägung unterschiedliche Wege: auf der einen Seite die uniformierten, funktionierenden Körper, auf der anderen die nicht voll funktionstüchtigen und in ihrem Leiden und Weltschmerz individualisierten.
Auf ihren frühen Alben sind Marilyn Manson eine ins Groteske gewendete Antithese von Glattheit, Geschlossenheit, Reinheit. Auf das neue Album The Pale Emperor trifft diese Einschätzung nicht zu. Von der Horrorfilmästhetik der frühen Videos ist nichts geblieben. In dem vom niederländischen Künstler und Designer Bart Hess verantworteten Clip zum Song Deep Six taucht zwar wieder ein Wurm auf, aber diesmal ist es ein schwarzer, computeranimierter, wuslonartiger Wurm, der sich durch einen formloses, weißes Nichts schlängelt, bis er eine nackte, intakte (aber nippellose) Frau verschlingt und sich im Prozess des Verschlingens vervielfältigt, sodass die Gliedmaßen der Frau an anderen Enden wieder herauskommen, ohne jedoch ihre Funktionsfähigkeit einzubüßen. Und in dem Video zu Cupid Carries a Gun sieht man nichts als den Umriss eines Mannes im Gegenlicht, der in Zeitlupe mit einem weißen Schal tanzt. Alles ist sauber, von Schmutz und Zerstörung befreit.
Während auf Antichrist Superstar oder Holy Wood noch blutende, geschundene Körper auf dem Cover abgebildet waren, ist Manson auf The Pale Emperor ganz in weiß gekleidet, eine verwackelte Schwarz-Weiß-Fotografie, die in ihrer Verschwommenheit und Unschärfe an Gemälde von Gerhard Richter erinnert. Kein Gothic-Style, kein Nazi-Chic mehr, stattdessen Anzüge und Trenchcoats, moderates Make-up und Kunst. Der einstige Bürgerschreck ist salonfähig geworden, reif fürs Museum. „Irgendwann in der Zukunft“, heißt es in Aikos prophetischem Aufsatz aus dem Jahr 2002, „wenn Marilyn Manson von der Bildfläche zeitgenössischer Jugendkultur verschwunden ist, wird es möglich sein, ihn als historisches Phänomen zu betrachten.“ Gut möglich also, dass, wenn die Nationalgalerie in vier, fünf oder sechs Jahren, nach der umfassenden Sanierung, wieder eröffnet, Marilyn Manson auf der Bühne stehen wird.