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Freiheit vom Liberalismus!

 

Das Gerede von der Freiheit hat dasselbe Problem wie die französische Revolution und Scientology (und die meisten Religionen): Seine Anhänger sind entweder Betrüger oder naiv. Ich schreibe in der Hoffnung, dass letztere überwiegen – sonst hätte es gar keinen Sinn zu schreiben.

© .marqs/photocase.de
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Kollegin Nora Bossong schrieb also letztens in der Mitte ihres Berichts über eine Dreikönigsgesellschaft einige leidenschaftlich klingende Sätze über den Liberalismus. Unter anderem erwähnte sie die bekannte liberale Definition der zulässigen Freiheit: Man sei Liberale(r), „Wenn man daran glaubt, dass es besser ist, dem erwachsenen Menschen so viele Entscheidungen wie möglich selbst zu überlassen, solange sie nicht mit der Freiheit eines anderen in Konflikt geraten.“

Diese Formel ist, glaube ich, deswegen so beliebt, weil sie jedem, der sie liest, schmeichelt. Der Liberalismus traut jedem viel zu und erzeugt eine berauschende Gründungsatmosphäre. Yes, we can! Man bekommt Lust, sich verantwortungsvoll und erwachsen zu benehmen und fühlt sich dank diesem Zutrauen auch unendlich kompetent dazu.

Für Pessimisten und Menschenhasser ist der Liberalismus freilich so anziehend wie ein Smileyface. Die Pessimistin traut gerade dem entfesselten Selbstvertrauen, der in den Worten der Liberalen schmatzt, großes Unheil zu.

Auch in der Wirtschaft wird bei den Anfängen groß und zuversichtlich und voller Selbstvertrauen geredet. Zweifel sollen schweigen, Bedenken gusch. Die Praxis, die Probleme, alle Schattenseiten, alle kleinen und großen Verbrechen, die gerade beim Versuch, scheiternde Unternehmen zu retten, oft begangen werden, sollen möglichst nicht in den Fokus kommen. Im Gerede des Liberalismus funktioniert alles besser als sonst, und freiwillig. Sie schlagen einfach die perfekte Welt vor, und deuten nur vage an, dass die, die das skeptischer sehen, einfach nicht so toll sind wie sie (und daher vielleicht auch besser entfernt oder nicht reingelassen werden sollten – aber es ist besser man spricht nicht über sie. Es geht um Wirtschaftswunder, nicht KZs). Insofern setze ich mich vielleicht in die Nesseln, wenn ich äußere:

In Wirklichkeit sind wir von der potentiell unendlichen Menge von Entscheidungen, die uns überlassen werden, ohnehin schon komplett überfordert. Was ist, wenn ich mit all diesen Entscheidungen so beschäftigt bin, dass mir gar nichts auffällt, was mir nicht als Entscheidung aufgetischt wird? Ich halte mich in guter amerikanischer Tradition nicht für bescheuerter als meinen Nachbarn, und doch treffe ich täglich in meinem schriftstellerisch freien Alltag sehr viel mehr falsche Alltagsentscheidungen als er, der täglich ins Büro muss – in den harmlosen, aber auf Dauer für mich nicht konsequenzenlosen Bereichen meiner Freiheit, die da heißen Zeitpunkt von Schlafengehen und Aufstehen, Ernährung, Kleidung, Zeiteinteilung, Lektürewahl, Satzbau, und was ich im Netz poste. Ich pointiere noch mal: uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit für mich = uneingeschränkte Chancen zu falschen Entscheidungen. Das ist der Haken, der im gründungsamerikanischen Weltbild nicht vorkommt: Tocquevilles Mensch, wie der der meisten amerikanischen Philosophen insbesondere des Positivismus, scheint unfähig zum kontraproduktiven, irrigen oder ambivalenten Verhalten. Er trifft magischerweise die für ihn und die anderen maximalst richtige Entscheidung – auch wenn zugestanden wird, dass er sich theoretisch irren kann, findet diese Tatsache keinen Eingang ins Gedankengebäude. Das kennzeichnet eben die Anfänge systematischen Denkens: Die Möglichkeiten von Irrtum, Unentschiedenheit etc. verlangen fast schon einen Computer. Deswegen hat man sie immer weggelassen und ist vom Idealmenschen ausgegangen, hoffend, die reale Unschärfe hält sich einfach in Grenzen. Das war sehr, sehr optimistisch und verlangt bis heute von Amerikanern das Leben und Denken in einer künstlichen Version der Wirklichkeit.

Ich glaube also, bei den Entscheidungen ist Qualität wichtiger als Quantität. Um gute Entscheidungen zu treffen, vor allem über wichtige Dinge, muss man sehr viel Energie aufwenden. Es ist wirklich ein Vollzeitjob. Liberale spekulieren entweder damit, dass die meisten Bürger keine Zeit haben, alles zu entscheiden, sich aus den meisten Angelegenheiten heraushalten und bei den großen Geschäften nicht stören. In der Praxis, so ihre Hoffnung, werden sie selbst und ein paar betuchte Rentner-Aktionäre, die sich die Pacht der Weisheit leisten können, die Welt nach ihren Interessen gestalten, weil die, die anderer Meinung sind, malochen und die Naiven die ganze Zeit Start-ups gründen. Das Phänomen der ignoranten, leicht nasführbaren Wähler ist ja schon bekannt.

Oder aber die Formulierung mit der maximalen Anzahl von Entscheidungen für jeden ist etwas unüberlegt.

Der andere Punkt ist, ob beim Entscheiden die richtigen Entscheidungen im Sinn einer nachhaltigen Gemeinschaft getroffen werden.

Falsche Entscheidungen, die mich selbst betreffen, interessieren den Staat ja jetzt schon nicht. Die meisten Dinge, die von Regierungen geregelt werden, betreffen Dinge, bei denen man nicht realistisch erwarten kann, dass jeder sie richtig einschätzt. Die Politik ist dazu da, unbeliebte Maßnahmen, deren Durchsetzung langfristig für ein angenehmes Zusammenleben wichtig sind, zu erzwingen. Hundetrümmerl aufsammeln, Aufnahme von Flüchtlingen, Unterstützung von Arbeitslosen, Einbau von Abgasfiltern JETZT, und so weiter. (In manchen Dingen, wie dem von Bossong beanstandeten Colaverbot in Bibliotheken, agieren Regelwerke sogar ein bisschen freundlich-erzieherisch – beweg dich ein bisschen, mach, wenn du Erfrischung brauchst, kurze Pause draußen; im Übrigen ist Leitungswasser zum Glück dem Menschen zumutbar.) Gesetze sind notwendig, um diese Notwendigkeiten unabhängig zu machen von den Entscheidungen all der kleinen Entscheider da draußen. Ich will vielleicht keine Autobahnausbesserungen finanzieren, der hingabevolle Autofahrer sicher keine Literaturveranstaltungen. Das ist ja genau die Idee von Regierung, dass es gewissermaßen Profis gibt, die mit Palästen und großen Gehältern in eine möglichst interessenlose Situation gebracht werden, sodass sie sich ganz der schwierigen Aufgabe widmen können, diese Art von Entscheidungen zu treffen. Die Bildung von Parteien ist ein wohl notwendiges Übel, die Stellung der Wirtschaft dabei heikel. Sie bindet ja viele fähige, kluge Köpfe und ist sicherlich essentiell für das Blühen von Talenten – die starke Seite vom Liberalismus. Zugleich ist völlig klar, dass man nicht damit zu rechnen braucht, dass Entscheidungen, die die Protagonisten der Wirtschaft treffen, gerecht, unparteiisch und selbstlos, also objektiv sind. Ganz besonders nicht jetzt, wo der Informationsfluss, der bloß künstlich gebremst und getaktet wird (die Metapher vom leak sagt eigentlich schon alles über ihre bedrohliche Physik), einen potentiell unendlichen Druck auf Betriebe ausübt, der sie zu immer kurzfristigerem, also desperaterem Denken treibt. Wer zum Teufel soll in die Art von Sachen investieren, die lange halten und für alle da sein sollen, wie Infrastrukturen, Bildung, Natur? Wollen schon, aber was sind die Prioritäten? Die Zuweisung von Verantwortlichkeit für Schaden an Mitmenschen, die Bossong vorschlägt, klingt nur auf der Oberfläche nach einer Lösung – zu groß sind die bereits vorhandenen Schäden, die Widerstände, die Unmöglichkeiten – und das Geheul, das losginge. Solche Regeln fallen niemals, wie vorgeschlagen, einfach und nicht überbordend aus, aus dem Grund, dass alle sich mit den irrsten Mitteln zu entziehen versuchen, man betrachte nur die Steuervermeidungskultur.

Es bleibt der blanke Fakt, man kann nicht mit Profit wirtschaften und dabei alle Pflichten als nachhaltiger, anderen nicht schadender Bürger erfüllen. Der Profit ist genau der Anzeiger des Schadens, den man anderen zufügt. Nur, wenn jeder Betrieb die Gesamtheit seines Profits der Umwelt und dem Gemeinwohl spendete, könnte man von einem Ausgleich der Schuld sprechen. Wie aber Freunde des Kapitalismus gut wissen und eh andauernd sagen, ist übermäßiger Profit ein wichtiger Antrieb für Fleiß, Kreativität, Einsatz, Risikobereitschaft und so weiter. (Freilich, manche machens eher für den Ruhm, aber dieser Gedanke riecht verdächtig nach Normerhöhungswunschdenken. Sogar im Kommunismus musste man mit Prämien arbeiten.)

Man sehe sich aber das völlig dysfunktionale Eisenbahnnetzwerk Südenglands an, um zu sehen, wie gut privatisierte Infrastrukturen funktionieren. Eine Negativspirale von Nachfrage und Angebot. Es braucht in Wirklichkeit nicht nur die ehrgeizigen Talente und die verantwortungsfreudigen Gschaftlhuber, sondern auch die Art von Leuten, denen es Freude macht, jahrzehntelang für ein niedriges, aber sicheres Gehalt eine kaum benutzte Bahnstrecke zu fahren, damit die Welt nicht verengt. Dass das möglich ist, ist eine Freiheit, die erst durch ein staatliches Denken künstlich hergestellt werden muss. Keine Firma wird je solche Aufgaben übernehmen.

Den Liberalismus gibt es nicht. Der Liberalismus ist eine Chimäre, ein naiver und altmodischer Traum. Prinzipielle Phrasen des Liberalismus – reine Propaganda. Den Liberalismus gibt es nicht. Auf konkreter Ebene kann wer möchte ja diskutieren, welche Angelegenheiten geregelt gehören und welche nicht, wie man gesunde Zwänge baut, damit nicht alle Ananasbesitzer in Steueroasen abwandern, kann seine Meinung auf einer Skala zwischen Reformbürokratismus und Anarchismus fein justieren. Den Liberalismus gibt es nicht.

Offensichtlich gibt es ihn ja leider noch. Ich möchte anregen, ihn unverhohlen mit dem Gemüt zu rezipieren, wie auch Bossong sicher gemacht hat: Es sind hübsche, erbauliche, Kooperationen stiftende Worte. Vor der Politik, die in seinem Namen gemacht wird, kann man nicht entschieden genug warnen.

P.S.: Die Selbstentscheide-Ideologen erinnern an die Kommentierer hier auf dieser Seite. Genau die, die ihren Post für postenswert halten, sind die, deren Entscheidung zu posten überdurchschnittlich oft eine zweifelhafte ist (Sie werden das in Bezug auf die jeweils anderen abnicken). Die Leute mit dem angemesseneren Urteil, es sei nicht unbedingt notwendig, zu posten, bleiben unwahrgenommen. Ich bin überzeugt, dass auch sie denken und handeln. Ihnen einen lieben Gruß.