Die europäische Krise reicht bis an den eigenen Arbeitsplatz. Um das zu merken, muss man nur die Verordnungen zum Arbeitsschutz lesen. Dann nimmt der Irrsinn seinen Lauf.
Europa, Krise und kein Ende. In Griechenland hat sich jetzt eine linksradikale Partei mit einer rechtspopulistischen zusammengetan, um gemeinsam gegen das EU-Spardiktat zu rebellieren. In Italien muss der linksdemokratische Premierminister Matteo Renzi mit niemand Geringerem als Silvio Berlusconi paktieren, um das Land durch die nötigen Reformen zu treiben. In Spanien, in Portugal, in… ach, lassen wir das. Besonders gut sieht es da auch nicht aus.
Nun aber Deutschland. Land der Ideen, Land der Dichter und Denker, der Agenda 2010 und des funktionierenden Arbeitsmarktes. Doch auch Deutschland hat Probleme und die finden sich, ebenso wie in Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und… ach, lassen wird das, sie finden sich an den Arbeitsplätzen.
Deutschland wäre nicht Streber der Krisen, wenn es hier nicht schon Abhilfe geschaffen hätte, besser gesagt hat es jetzt die „Verordnung zur Änderung von Arbeitsschutzverordnungen“. Unterpunkte: „Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) in Artikel 1 und die Arbeitsschutzverordnung zu künstlicher optischer Strahlung (OStrV) in Artikel 2. Die Inhalte der Bildschirmarbeitsverordnung (BildscharbV) werden in die ArbStättV übernommen.“
Um einen Staat zu beurteilen, hat Leo Tolstoi einmal festgestellt, müsse man seine Gefängnisse von Innen besehen. Um Deutschland zu verstehen, muss man seine Verordnungen verinnerlicht haben – das hat Tolstoi zwar nicht gesagt, es stimmt aber trotzdem. ArbStättV. OStrV. BildscharbV. Das hat Anarchie. Das rockt, als wäre man betrunken über die Tastatur gerutscht.
Allerdings, hinter der Anarchie steckt mehr, nämlich Menschenliebe. „Die Änderung der ArbStättV dient der Verbesserung der Sicherheit und des Schutzes der Gesundheit der Beschäftigten beim Einrichten und Betreiben von Arbeitsstätten.“
Selbst für mich als Autorin, die geraume Zeit an ihrem „Telearbeitsplatz“, also vor ihrem Computer zu Hause verbringt, hat dieses ArbStättV Beglückendes erdacht. „Da der Arbeitgeber prinzipiell eine gesetzliche Fürsorgepflicht“ hat, wird bald mein Verleger vor meiner Wohnungstür stehen, um zu kontrollieren, ob mein Schreibtisch groß genug ist. Ich weiß nicht, wie es in Griechenland und Italien gehandhabt wird, aber in Deutschland müssen die Handballen beim Tippen aufliegen und zwar auf der Tischplatte, so setzt es die ArbstättV fest. Anarchie und Trunkenheit an den Tasten bleiben der Verwaltung vorbehalten.
Nur die überkorrekten Schweizer haben an dieser prima Idee etwas auszusetzen. „Der Arbeitgeber wird bei Heimarbeit also quasi dazu aufgerufen, die Privatsphäre des Mitarbeiters auszuforschen“, bemerkte die NZZ letzte Woche. Ja, wissen die Eidgenossen überhaupt, was Eurokrise heißt? Die haben ihren Franken, klar, da können sie tippen, wie sie wollen. Um den Euro zu retten, braucht es hingegen ein paar Reglementierungen, Stichwort Tastentroika.
Aber was ist das eigentlich, ein Computer? In Absatz 6 wird das glücklicherweise erklärt: „Funktionseinheiten, zu denen insbesondere Bildschirme zur Darstellung von visuellen Informationen“ gehören. Aber Obacht! „Der eigentliche Bildschirm zur Darstellung visueller Informationen“, erfahre ich, ist „in der Regel nur ein Teil eines Bildschirmgerätes.“ Diese nämlich „setzen sich in der Regel aus mehreren Funktionseinheiten zusammen (z.B. Bildschirm, Zentraleinheit [Computer, oder Rechner], Tastatur, Maus, Drucker, Scanner etc.).“
Was nur verbirgt sich hinter dem Etc.? Und möchte ich das überhaupt wissen? Will ich nicht lieber den Kopf einziehen und darauf warten, dass alles gut wird in Europa?
Jedenfalls, „diese Differenzierung ist sinnvoll und praxisgerecht.“
Ja!
„…da von anderen Bestandteilen von Bildschirmgeräten weitere Belastungen und Gefährdungen am Arbeitsplatz ausgehen können.“
Oh je!
„Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang z.B. die zusätzliche Wärmeentwicklung und mögliche Lärmbelastungen durch die Lüfter zur Kühlung der Komponenten im Computergehäuse oder im Netzteil sowie zum Beispiel Emissionen aus Druckern in die Luft am Arbeitsplatz.“
Bislang habe ich mich von den Dackelschritten in der Wohnung über mir gestört gefühlt, aber seit ich durch die ArbStättV sensibilisiert bin, also wahrnehme, was tatsächlich los ist in der Krise, belästigt mich die Kühlung der Komponenten meines Computergehäuses viel mehr. Ich habe das Kabel aus der Steckdose gezogen, doch es will keine Ruhe geben. Es saugt. Es atmet. Es stöhnt. Ich möchte sagen: Es schreit! Mir ist, als säße ich mitten in einem Swingerclub. An Erholung ist nicht mehr zu denken. Mein Telearbeitsplatz scheint ein geradezu garstiger, gefährlicher, ja sittenwidriger Ort zu sein und sein Lärm wird mich bis in die Nacht, bis in mein Schlafzimmer hinein verfolgen, Rigipswand hin oder her. Das ist Untergang. Das ist Sodom und Gomorrha.
Ich lese von „ungenügend gestalteten Arbeitsplatz- und Arbeitsumgebungsbedingungen (z.B. Lärm oder störende Geräusche, schlechtes Raumklima, räumliche Enge, unzureichende Wahrnehmung von Signalen und Prozessmerkmalen, unzureichende Ergonomie und Softwaregestaltung, schlechte Beleuchtung)“. Das Raumklima sackt in mein Inneres ein. Es wird mir alles zu eng. Ich kann mich nicht nach links, nicht einmal nach rechts kann ich mich mehr drehen. Ich nehme keine Signale wahr. Bin ich wach, schlafe ich noch? Ich stehe auf, spritze mir im Bad Wasser ins Gesicht, trinke einen Kaffee. Ich aktiviere diverse Funktionseinheiten meines Telearbeitsplatzes neu. Mein Bildschirmgerät sendet mir visuelle Informationen. Vor meinen Augen flimmert die „unzureichende Softwaregestaltung“ und die „schlechte Beleuchtung“ über mir hat schon lange „psychische Erkrankungen“ in mir wach gehalten. Burn-out, Perspektivlosigkeit, Liebeskummer, das waren Probleme aus besseren Zeiten. Woran ich heute kranke, das ist die 200-Lumen-Energiesparlampe.
Aber es gibt Auswege, erinnere ich mich. Schnell blättere ich noch einmal in der Änderungsverordnung zurück, Punkt B, Unterthema „Lösung“. Da taktiert man nicht lange herum, sondern schreibt es in einem einzigen Satz frei heraus: „Änderung der ArbStättV und Zusammenfassung mit der BildscharbV sowie Änderung der OStrV.“ Wenn Lösungen so klingen, wie mag dann das Problem gelautet haben? Ich weiß es nicht und konzentriere mich jetzt lieber auf die Alternativen, die gibt es unter Punkt C und sie sind präzise: „Keine“. Da steckt aufrichtige Disziplin in der Formulierung, sogar das Satzzeichen hat man eingespart. Also bitte, Griechenland, nimmt Dir ein Beispiel: In Zeiten der Eurokrise kann man sich eben nicht alles leisten.