Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Wiederholt sich das Schulden-Deflations-Szenarium von Irving Fisher?

 

„Stock prices have reached what looks like a permanently high plateau“ glaubte Irving Fisher noch im Jahr 1929. Der gestandene Ökonom und Yale-Professor, nach dem der sogenannte Fisher-Effekt und die Fisher’sche Verkehrsgleichung benannt sind, musste sich schon bald eines Besseren belehren lassen. Nur zwei Wochen nach seiner Äußerung brach der amerikanische Aktienmarkt ein, die Große Depression nahm ihren Lauf.

Dieses Ereignis veranlasste Fisher, die Ursachen, den Verlauf und die Wirkungsmechanismen der Krise eingehend zu untersuchen und zu erklären. Das Ergebnis hat er in dem berühmten Econometrica-Artikel „The Debt Deflation Theory of Great Depressions“ von 1933 zusammengefasst.(1) Bereits Thomas Attwood(2) und Henry Thornton (3) hatten sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem Phänomen der Deflation und deren Auswirkungen beschäftigt. Fisher aber war es, der die Interdependenz von Schulden und Deflation aufzeigte. Für ihn ging es vor allem um die Frage, wie es überhaupt zu einer Deflation kommen kann.

Was kennzeichnet den Schulden-Deflations-Prozess, welche Parallelen existieren zur aktuellen wirtschaftlichen Situation und welche relevanten Schlüsse folgen daraus?

Zwei Umstände müssen gegeben sein: zum einen eine hohe Verschuldung oder gar Überschuldung, zum anderen sinkende Preise von Waren und Dienstleistungen. In einer solchen Situation werden sich Firmen und Konsumenten bemühen, ihre Schulden zurückzuzahlen. Dieser Rückgang der Ausgabenneigung führt zu sinkender Nachfrage und weiteren Preisrückgängen. Eine Abwärtsspirale mit negativen Folgen wird in Gang gesetzt.

Was für einen überschuldeten Haushalt oder ein überschuldetes Unternehmen die angemessene Strategie ist, ist für die Volkswirtschaft insgesamt jedoch schädlich. Geht die Gesamtnachfrage zurück, sinken die Preise immer stärker und die realen Kosten des Schuldendienstes erhöhen sich. Das erschwert nicht nur die Rückzahlung, sondern verstärkt auch den Druck, die Schulden noch weiter abzubauen. Ein Teufelskreis.

Verlaufsmuster der Schulden-Deflations-Theorie

Hauptbestandteile der Schulden-Deflations-Theorie von Irving Fisher sind neun Faktoren:

1) Die Rückzahlung von Schulden führt zu Notverkäufen, welche
2) eine Kontraktion des Buchgeldes auslösen und zur Verlangsamung der Zirkulation des Geldes führen, was wiederum
3) einen Rückgang des Preisniveaus zur Folge hat.
4) Wenn der Rückgang der Preise nicht durch reflatorische Maßnahmen eingedämmt werden kann, hat dies Vermögensverluste zur Folge.
5) Dies führt in einem kapitalistischen System zu einem Rückgang der Unternehmensgewinne und zur Angst vor Verlusten.
6) Dadurch kommt es zu einem Rückgang in der Produktion, im Handel und bei der Beschäftigung. Konkurse und steigende Arbeitslosigkeit bewirken
7) einen Vertrauensverlust; Pessimismus macht sich breit.
8) Das Horten von Geld und Gütern sowie Zurückhaltung bei wirtschaftlichen Transaktionen führen zur Verlangsamung des Güter- und Geldumschlags.
9) Die acht vorangegangenen Faktoren haben Auswirkungen auf die Zinsen. Nominal gesehen fallen sie, real aber steigen sie, da die Inflation in den Minusbereich rutscht. Die reale Schuldenlast nimmt zu.

Irving Fisher beschreibt auch das Umfeld, welches den Nährboden für einen Schulden-Deflations-Prozess bildet. Immer wieder gibt es Zeiten, die von den Menschen als Beginn einer neuen Ära gedeutet werden. Erfindungen werden gemacht, die neue Investitionsmöglichkeiten eröffnen und außerordentliche Gewinne versprechen. Ein überbordender Optimismus macht sich breit, die Verschuldung steigt. Es kommt zu Übertreibungen und zu einer Kreditblase. Wie das so ist mit Blasen – am Ende platzen sie immer.

Welche Parallelen sind zur aktuellen Situation erkennbar?
Nach der Ära des Internet und dem Platzen der TMT-Blase wurden zu Beginn des neuen Millenniums die Zinsen weltweit gesenkt. Es folgten einige Jahre mit hohem Wirtschaftswachstum und steigenden Immobilienpreisen. Dies verführte viele Menschen – in den USA, Großbritannien, Spanien, aber offenbar auch in China und Russland – dazu, sich zu verschulden und in Immobilien zu investieren, die sie sich eigentlich nicht leisten konnten. Durch Überkapazitäten und den darauf folgenden Rückgang der Immobilienpreise sind viele Käufer plötzlich überschuldet und müssen zwangsverkaufen. Dies hat negative Auswirkungen auf andere Vermögenswerte, vor allem auf Aktien.

Das setzt die Schulden-Deflations-Spirale in Gang, aus der es nach Fisher nur zwei Auswege gibt, entweder „laissez faire“, dass heißt Konkurse und Zusammenbruch der Wirtschaft, oder Reflation. Irving Fisher hält Letzteres für das kleinere Übel und vertritt die Meinung, dass das Schlimmste verhindert werden kann, wenn nur rechtzeitig reflatorische Maßnahmen ergriffen werden.

Pest oder Cholera?

Auch die heutige Politik setzt auf Reflation.

Im Prinzip ist es richtig, dass die Staaten alles tun müssen, um der Kreditkrise Herr zu werden und das Vertrauen der Bürger in das Wirtschaftssystem aufrecht zu erhalten. Nur so können die deflatorischen Effekte zumindest eingedämmt werden. Dass dies selbst von konservativen Staaten so gesehen wird, zeigen die Zinssenkungen der Eidgenossen; die jüngste war mit einem Prozentpunkt die bei weitem größte seit der Fokussierung der SNB auf Inflationsziele. Auch die EZB hat die Zinsen in den letzten Monaten um einen Prozentpunkt gesenkt, allerdings in zwei Schritten à 50 Basispunkte.

Das größte Übel an der Deflation ist, dass Schulden in Kaufkraft gerechnet de facto steigen. Dem kann der Staat entgegenwirken durch die Entwertung des Geldes. Keiner dürfte dies besser wissen als der aktuell amtierende US-Notenbankchef Ben Bernanke, der sich jahrelang mit der Großen Depression und deren Folgen(4) auseinander gesetzt hat und bereits 2002 eine Blaupause(5) für das richtige Vorgehen in einer Krise wie der heutigen entwarf .

Als mittelfristige Folge dieser Aktionen ist jedoch mit einer anderen unangenehmen Erscheinung zu rechnen – steigenden Inflationsraten. Bei der Rettungsaktion des „Patienten Weltwirtschaft“ wird dies bewusst in Kauf genommen. Erst einmal lautet die Diagnose „Deflation“. Sie zu überwinden ist schwierig genug. Wie das Beispiel Japan zeigt, ist es bei der Reflationierung nicht mit halbherzigen Maßnahmen getan.


Fußnoten:

1) Irving Fisher (1933): The Debt-Deflation Theory of Great Depressions, Econometrica, Vol. 1, pp. 337-357 (zurück zum Text)

2) Thomas Attwood (1817): Prosperity Restored; or Reflections on the Cause of the Present Distresses and on the Only Means of Relieving Them, London. (zurück zum Text)

3) Henry Thornton (1802): An Enquiry into the Nature and Effects of the Paper Credit of Great Britain, London: George Allen and Unwin (1939) (zurück zum Text)

4) Ben S. Bernanke (2000): Essays on the Great Depression, Princeton, N.J.: Princeton University Press (zurück zum Text)

5) Ben S. Bernanke: Deflation: Making Sure „It“ Doesn’t Happen Here, November 21, 2002 (zurück zum Text)

Ulrich Voss ist Mitglied im Asset-Allokation-Team bei Flossbach & von Storch (FvS)