Endlich hat Deutschland eine volkswirtschaftliche Debatte, die von höchster Wichtigkeit ist: Die Lohndebatte. Der Aufschwung, den vor einem Jahr kaum jemand vorhergesagt hat, macht es möglich. Natürlich müssen die Löhne nächstes Jahr steigen – und zwar ansehnlich. Das hätten eigentlich schon dieses Jahr passieren müssen, um die Ungleichgewichte in Euroland nicht weiter zu verschärfen, um die Binnennachfrage zu stärken, bevor der Abschwung in Amerika die Exportwirtschaft erwischt. Aber besser die Debatte kommt spät als zu spät.
Ich muss schon schmunzeln, wie jetzt einige Zeitungen auf die Politiker eindreschen, die die Debatte losgetreten haben, auf Arbeitsminister Müntefering, SPD-Chef Beck und selbst die Bundeskanzlerin. Sie hätten sich gefälligst da raus zu halten. Das ist ziemlich krude. Wer, wenn nicht die Politiker, die die Unzufriedenheit im Land spüren, müssen solche Debatten anführen. Schließlich haben sich meine Kollegen in den Schreibstuben ja auch nicht aufgeregt, als die Politiker die Folgen der Globalisierung beschrieben und zur Lohnzurückhaltung und den Gürtel-enger-schnallen aufriefen. Jetzt aber weist die deutsche Wirtschaft Rekordgewinne auf und gleichzeitig sinken die Reallöhne, also die Löhne abzüglich der Inflation. Das passt ökonomisch nicht zusammen und muss korrigiert werden.
Zur Debatte: Das schöne ist, dass eigentlich niemand Lohnerhöhungen für 2007 in Abrede stellt. Das ist die Wende. Der Streit dreht sich natürlich um die Frage, wie hoch die Lohnerhöhungen ausfallen dürfen. Hierzu einige Anmerkungen:
Grundsätzlich können Volkswirte nur Ratschläge geben, denn der Lohnfindungsprozess ist in erster Linie eine Machtfrage zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Ist die Arbeitslosigkeit hoch, wird der Standort kaputtgeredet und gleichzeitig das Anspruchsniveau der Arbeitslosen durch die Politik abgesenkt, sitzen die Arbeitgeber am längeren Hebel, wie in den vergangenen Jahren. Die kräftige Umverteilung von den Löhnen in die Gewinne ist das Ergebnis. Herrscht dagegen Vollbeschäftigung und die Konjunktur läuft gut, dann ist die Machbalance genau umgekehrt. Dann können die Gewerkschaften die Lohnsteigerungen diktieren.
Welche Lohnerhöhung ist volkswirtschaftlich sinnvoll? Als gute und über Jahrzehnte bewährte Daumenregel gilt: Inflation plus Produktivitätszuwachs. Eine solche Lohnerhöhung treibt nicht die Inflation, eine solche Lohnerhöhung ist verteilungsneutral – zwischen Gewinn- und Lohneinkommen. Aber natürlich steckt der Teufel im Detail: Welche Inflationsrate soll man ansetzen? Die vergangene, die künftig erwartete, die Kernrate der Verbraucherpreise oder die Verbraucherpreise selbst? Mein Vorschlag: Die von der Europäischen Zentralbank angestrebte jährliche Preissteigerungsrate, also 1,9 Prozent. Und zwar immer, ganz gleich, ob die Inflation in einem Jahr deutlich höher oder deutlich tiefer liegt. Mit 1,9 Prozent liegt man stabilitätspolitisch richtig, erleichtert der Notenbank die Arbeit und nimmt ihr ihre fürchterliche Inflationsangst.
Bei der Produktivität stellen sich noch mehr Fragen: Soll man den Produktivitätszuwachs der Volkswirtschaft wählen, der Branche oder der Firma? Muss man die Produktivität noch um die Entlassungsproduktivität bereinigen, also um den Anstieg, der schlicht durch den Rauswurf von Arbeitnehmern zustande gekommen ist, weil deren Arbeit zu teuer geworden sei? Letztere Argumentation, die die Arbeitgeber gerne anführen, ist scheinheilig. Ein Produktivitätsanstieg geht tendenziell immer mit Entlassungen einher, denn man kann ja mit der gleichen Anzahl Arbeitnehmern mehr produzieren, beziehungsweise mit weniger Menschen den selben Output wie früher. Würde der Produktivitätszuwachs nie zu Entlassungen führen, stünden wir alle noch auf dem Feld und würden uns dort mit Traktoren gegenseitig umfahren. Produktivitätszuwachs ist permanenter Strukturwandel! Logisch!
Also welcher Produktivität sollte die Lohnentwicklung folgen? Natürlich der gesamtwirtschaftlichen. Würde man den Produktivitätszuwachs versuchen zu individualisieren, also auf die einzelne Firma herunterbrechen, dann müsste strikt zu Ende gedacht, der Lehrer und Professor heute noch so viel verdienen wie vor dreihundert Jahren und die Putzfrau soviel wie vor fünfzig Jahren, als der Staubsauger sich durchgesetzt hat. So aber funktioniert Volkswirtschaft nicht. Die produktiven Sektoren der Industrie geben den Takt vor, die anderen Jobs, in denen kaum Produktivitätszuwächse zu verzeichnen sind, ziehen nach. Schließlich gibt es in einer funktionierenden Marktwirtschaft eine Dynamik zwischen Produktivitäts-, Einkommens-, Nachfrage- und Preisentwicklung, die den Wohlstand insgesamt ansteigen lässt. Nähme man eine Produktivitätskennziffer per Branche hätte man dasselbe Problem mit Lehrern, Professoren und Putzfrauen. Hinzu kommt, dass man volkswirtschaftlich unrentablen Branchen das Überleben sichert, weil deren Lohnkosten im Vergleich zu den rentablen Branchen nicht richtig steigen. Viel besser ist es doch, wenn sich hochentwickelte Länder aus solchen Sektoren zurückziehen, um sie den aufholenden Ländern zu überlassen.
Hier eine schöne Grafik, wie hoch der Produktivitätszuwachs in der exportabhängigen Metallindustrie in der Vergangenheit war (die Idee zur Grafik habe ich der Börsen-Zeitung entnommen). Sowohl die Löhne als auch das Produktivitätswachstum sind auf die Arbeitsstunde heruntergebrochen.
Die Grafik zeigt, wie schwach die Verhandlungsposition der Gewerkschaften in den vergangenen zwölf Jahren war.
Wer es angesichts dieser hohen Produktivität als ungerecht empfindet, dass die Arbeitnehmer in der Metallindustrie sich mit dem gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwachs, der bei rund 1,5 Prozent liegt, abspeisen lassen sollen, dem sei mein letzter ZEIT-Artikel zu Investivlöhnen zur Lektüre empfohlen. Es gibt ja noch das schöne, weil flexible Instrument der Gewinnbeteiligung. Übrigens hatte der letzte Metallabschluss genau so ein Instrument für die Firmeneben gewählt.
Jedem Hardliner, der in den vergangenen Tagen meinte, die Lohnzurückhaltung sei der Hauptgrund für Aufschwung und neue Arbeitsplätze in Deutschland, wir begännen gerade erst die Früchte zu ernten und weitere Jahre Lohnzurückhaltung seien nötig, sei folgendes zugerufen: Erstens, es ist das Wachstum, Stupid! Zweitens sorgen auch Lohnerhöhungen für Wachstum, gerade nach einer Phase wie Deutschland sie erlebt hat und die Wettbewerbsfähigkeit nun über alle Zweifel erhaben ist. Und drittens, denk an den Abwertungswettlauf in Euroland!
Kurzum: Die Löhne müssen nächstes Jahr um 1,9 Prozent plus 1,5 Prozent steigen, sprich um 3,4 Prozent. Boomende Branchen dürfen gerne über flexible Lohnbestandteile mehr drauflegen.
Die Politiker sollten ihren Worten Taten folgen lassen und im öffentlichen Dienst beginnen.