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Warum der neue Irak sich über Osamas Tod freut

Gestern war der irakische Außenminister Hoschyar Zebari in Berlin. Ich hatte Gelegenheit, seinen Vortrag im Haus der DGAP zu hören. Zebari, ein Kurde, der seit Beginn des Umbruchs im Irak nach der US-Intervention 2003 als Außenminister dient, sprach über „Irak und den arabischen Frühling“.

Wenn er an den Irak von damals zurückdenke, dann war das ein Land unter Sanktionen, isoliert von der Weltgemeinschaft, verhasst bei den Nachbarn. Irak hatte das Völkerrecht mehrfach gebrochen, einen Angriffskrieg gegen Iran und einen gegen Kuwait geführt, es wurde von einer brutalen Dikatur regiert, und Kurden und Schiiten konnten nur dank der vom Westen durchgesetzten No-Fly-Zones im Norden und Süden überleben. Mehr als 80 Resolutionen des Sicherheitsrates waren gegen Irak ausgesprochen worden, ein historischer Rekord.

Heute, so Zebari, vertrete er ein Land, dass in die Arabische Liga zurückgekehrt sei, ebenso in die Organisation Islamischer Staaten. Irak sei nicht mehr der Feind seiner Nachbarn, alle Sanktionen seien aufgehoben worden. Mit dem Abzug der letzten US-Truppen stehe die volle Souveränität wieder zur Verfügung. Der nächste arabische Gipfel solle in Bagdad ausgerichtet werden – wahrscheinlich etwas später als geplant wegen des arabischen Frühlungs. Zebari verleugnete keineswegs die Probleme mit Korruption, schlechter Regierungsführung, mangelnder Infrastrukturentwicklung und dem Streit zwischen ethnischen und religiösen Gruppen. Aber Föderalismus sei als Staatsprinzip anerkannt und werde nicht mehr mit Sezession gleichgesetzt (das war früher immer der Vorwurf gegen die Kurden in ihrer autonomen Region gewesen).

Der arabische Frühling, so Zebari, sei aus irakischer Perspektive keine Überraschung, sondern eine Kulmination „vieler Jahre der Verleugnung“: „Wir standen 1991 gegen Saddam Hussein auf, und dieser Aufstand wurde brutal niedergeschlagen. In der Folge wurden Interventionen des Auslands die einzige Möglichkeit, das Land zu retten.“ Zum Glück sei  das in weiten Teilen der arabischen Welt heute anders. Aber eben nicht überall:

Die Krise in Libyen, so Zebari, habe bei ihm „unangenehme Erinnerungen“ geweckt. Ein Kurde hört „No-Fly-Zone“ und denkt dabei an eine lebensrettende Maßnahme. Die arabische Rebellion sei „eine echte und authentische Bewegung der Völker“, die sich ihr Schicksal nicht mehr diktieren lassen wollen. Sie sei weder von Israel noch von den USA inspiriert (eine Botschaft an Syrien und den Iran!).

Regierungen überall, sagte er mit Blick auf den Nachbar Syrien, müssten heute „zuhören“ und dürften keine Angst vor Dissens haben: „In Bagdad haben wir tägliche Demonstrationen, und sie werden nicht unterdrückt.“

Auch interessant war Zebaris Kommentar zum Tod von ObL: „Wir waren die erste Regierung, die die Tötung von Osama bin Laden begrüßt hat. Wir wissen, wie viele Menschen seine Anhänger in den Straßen von Bagdad, Kerbela und anderen unserer Städte ermordet haben und noch ermorden. Er war eine Verkörperung des Bösen.“

Das ist etwas, was in unserer deutschen Debatte kaum gesehen wird, was aber in multikonfessionellen islamischen Staaten wie Irak und Pakistan entscheidend ist: Der Angriff der Salafi-Dschihadisten auf den binnenislamischen Pluralismus, indem sie Schiiten und Sufis ermorden und den Hass zwischen den Gruppen schüren.

Die Ideologie des Hasses, die ObL in die Welt gesetzt hat, wird nicht so bald sterben, meint Zebari, aber für seine „bösartigen, sich wie ein Krebs ausbreitenden Ideen ist der Tod des Anführers ein schwerer Schlag.“

 

Draußenpolitik

Mein Kommentar aus der Jüdischen Allgemeinen von heute (und damit ein frohes Pessach- respektive Osterfest):

Wie sieht Deutschland seine Rolle in der Welt? Bei unseren Freunden und Verbündeten ist der Eindruck entstanden, die Deutschen lebten mit zwei Be- griffen der Globalisierung, die sie bequem auseinanderhalten. Da ist einerseits die wirtschaftliche Öffnung und Verflechtung, an der prächtig verdient wird. Andererseits gibt es die »böse« Globalisierung. Die der Gefahren und der Verantwortung, in der immer die anderen zuständig sind. Die deutsche Enthaltung bei der Libyen-Resolution bestärkt diesen Verdacht.

Außenminister Westerwelle hat erklärt, warum die Bundesrepublik unter keinen Umständen an der Intervention gegen Muammar al-Gaddafi teilnehmen dürfe: Man wolle nicht auf eine »schiefe Ebene« geraten. Weniger diplomatisch ausgedrückt: Wer »Schutz der Zivilbevölkerung« sagt, wie es in der UN-Resolution 1973 heißt, meint Krieg. Und da hält sich Deutschland eben raus.

Es dauerte allerdings nur einen Monat, bis sich die unsterbliche Weisheit Herbert Wehners bewahrheitete: Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen. Um seine Partner in Nato und EU nicht vollends im Regen stehen zu lassen, hat Deutschland nun humanitäre Hilfe für Libyen zugesagt – notfalls auch militärisch abgesichert.

Diese Beteiligung soll aber in Westerwelles Worten »etwas völlig anderes als die an einem Kriegseinsatz« sein: »Humanitäre Hilfe ist neutral, sie schaut nur auf die Opfer.« Das ist bemerkenswert: Deutschland schreibt sich eine neutrale Rolle zu und »schaut nur auf die Opfer«. Neutralität gegenüber Gaddafi, der sein eigenes Volk mit Streubomben beschießt? Bei jeder Gelegenheit betont Westerwelle, dass der »Diktator« seine Legitimität verwirkt habe, als er Truppen gegen sein eigenes Volk einsetzte. Deutschlands Enthaltung will zu diesen starken Worten nicht so recht passen. Grundsätzlich gefragt: Kann ein in Europa so wichtiges Land wie Deutschland sich in Äquidistanz üben? Nachbarn und Alliierte sind zumindest alarmiert. Kehrt Berlin zurück auf den Sonderweg, der schon einmal in die Isolation führte? Das zwar (noch) nicht. Aber ein Pfad ist schon mal getreten. Und der führt ins Abseits.

Merkwürdig: Kein deutscher Chefdiplomat war je so unbeliebt wie Westerwelle, obwohl doch seine ganze Außenpolitik auf Popularität zielt: für ein konkretes Abzugsdatum aus Afghanistan, für die Abrüstung der letzten US-Atomraketen hierzulande, für einen Sitz im UN-Sicherheits- rat und gegen eine Beteiligung an der Libyen-Intervention.

Die Anfänge dieser Politik reichen zurück in Westerwelles Oppositionszeit. 2006 stritt er gegen den Einsatz der deutschen Marine vor dem Libanon, wo unter UN-Mandat verhindert werden sollte, dass die Hisbollah weiter mit Waffen gegen Israel versorgt werden konnte. Und das, obwohl sogar der jüdische Staat einen solchen Einsatz guthieß. Aus demselben Geist hat Westerwelle sich früh gegen eine Flugverbotszone in Libyen festgelegt. Nun liegt der Makel auf der deutschen Außenpolitik, man hätte dem bereits angekündigten Massaker in Bengasi zugesehen.

Es führt also eine Linie von Libanon bis Libyen. Nationalpazifismus wird offenbar wieder zur politischen Größe: Deutschland hält sich raus und zieht sich raus, wo immer es geht, im Zweifel auch auf die Gefahr hin, Freundschaften und Bündnisse zu gefährden, die bisher gerade für liberale und konservative Außenpolitiker als unverzichtbar galten.

Dabei geht es »nur« um Libyen. Das nordafrikanische Land ist in der Region nicht von vorrangiger strategischer Bedeutung – wenn der Tyrann und Terroristenfreund Gaddafi erst einmal weg ist. Gerade deshalb wird die deutsche Neupositionierung in diesem Fall zu Recht so aufmerksam beobachtet. Was bedeutet sie auf anderen außenpolitische Feldern?

Schon im Herbst könnte sich eine Lage entwickeln, die Deutschland auf eine noch viel schwerere Belastungsprobe stellt. Die Palästinensische Autonomiebehörde droht mit einer einseitigen Souveränitätserklärung. Die Planspiele laufen schon, in denen die Folgen durchexerziert werden. Früher oder später würde, wenn es so weit kommt, der Ruf nach einer internationalen Friedenstruppe laut werden.

Was wird Deutschland dann aus seinem Kapital als »ehrlicher Makler« machen, dessen es sich so gerne rühmt? Wird die Bundesregierung aus seiner Glaubwürdigkeit auf beiden Seiten des Konflikts die Pflicht zum Handeln folgern? Oder gibt es ein Nein aus dem Geist der Neutralität? Denn gefährlich und unpopulär wird auch diese Mission. Eigenartig, dass man sich ausgerechnet bei einer konservativ-liberalen Regierung über die Antwort nicht im Klaren sein kann. Nur eines ist gewiss: Eine Enthaltung wird es nicht geben können.

 

Warum Westerwelle Außenminister bleiben darf – und warum er gehen müßte

Mein Text aus der ZEIT von heute, S.4:

Es gibt Solidaritätsadressen, die bei näherer Betrachtung von Schmähungen kaum zu unterscheiden sind. Guido Westerwelle hat sie nach seinem Sturz zu erdulden: Es gebe »historische Beispiele«, ruft der zaudernde Vatermörder Christian Lindner ihm zum Abschied hinterher, »wie man Großes leisten kann in einem Staatsamt, auch wenn man nicht Parteivorsitzender« sei. So soll das Paradox übersprungen werden, dass Westerwelle zwar nicht mehr gut genug ist, die FDP zu repräsentieren – wohl aber die Bundesrepublik Deutschland.

Das historische Vorbild Genscher, auf den Lindner anspielt, ist den Liberalen dieser Tage überraschend schnell bei der Hand, um Westerwelles Verbleib im Amt zu rechtfertigen. Mit dem Vergleich tut man ihm und sich keinen Gefallen: Genscher hatte elf Jahre Entspannungspolitik vorzuweisen – die KSZE-Schlußakte mit ausgehandelt und jenes ostpolitische Netzwerk aufgebaut, dass dann mithalf, die deutsche Einheit zu gewinnen. Als er 1985 die Parteiführung abgab, war das der Preis, den Genscher für den Coup der Wende von 1982 zu zahlen hatte. Seine historische Leistung war, die Kontinuität der Ostpolitik von Schmidt zu Kohl garantiert zu haben. Seine außenpolitische Bilanz stand nie in Frage, und für Kohl blieb er koalitionspolitisch unabdingbar. Darum musste er Minister – und Vizekanzler – bleiben.
Merkel aber braucht den um Parteivorsitz und Vizekanzlerschaft reduzierten Westerwelle jetzt eigentlich nicht mehr. Er darf trotzdem Minister bleiben – als der steinerne Gast am Kabinettstisch.

Deutschland könnte einen handlungsfähigen liberalen Außenminister gebrauchen in diesen Zeiten. Das zeigte sich erst letzte Woche wieder, als Westerwelle nach China reiste, um in Peking eine von Deutschland bezahlte Ausstellung über die »Kunst der Aufklärung« zu eröffnen. Dort sagte er den schönen Satz: »Die Freiheit der Kunst ist die schönste Tochter der Aufklärung.« Aber sein Freiheistlied tönte blechern, weil er zuvor hingenommen hatte, dass der Sinologe Tilmann Spengler aus der deutschen Delegation gestrichen wurde, weil er eine Laudatio auf den verhafteten Nobelpreisträger Liu Xiaobo gehalten hatte. Damit nicht genug: Kurz nach Westerwelles Abreise wurde der Künstler Ai Weiwei verhaftet, der soeben angekündigt hatte, wegen der Repression in China in Deutschland ein Atelier zu eröffnen. Noch eine gezielte Demütigung Deutschlands – und damit auch ein beißender Kommentar zum Gewicht »wertegebundener« (Westerwelle) Außenpolitik. Erst zuhause protestierte Westerwelle gegen Ai Weiweis Verhaftung. Die chinesischen Freunde, mit denen zusammen Deutschland sich soeben in der Libyen-Frage enthalten hatte, betreiben eiskalt den Gesichtsverlust des »strategischen Partners« (Westerwelle). Willkommen in der multilateralen Welt.

Guido Westerwelle bleibt Außenminister? Man kann es auch so sagen: Außenminister, das ist nun das, was ihm bleibt.
Dabei hatte er hatte das Amt gewollt, weil er glaubte, dass es sich für den FDP-Parteichef so gehörte. Er wollte jenes Haus für die Partei zurückerobern, das einst ihre Bastion gewesen war, geprägt durch mehr als drei Jahrzehnte liberaler Außenpolitik der Scheel, Genscher, Kinkel. Nun hat die Partei ihn entsorgt, und das Amt verwandelt sich in eine Art politisches Abklingbecken, in dem Westerwelle einstweilen zwischenlagert. Das ist eigentlich gemeint, wenn die Parteifreunde sagen, er solle sich »voll auf sein Amt konzentrieren«. Als Westerwelle vor zehn Jahren seinen Amtsvorgänger Wolfgang Gerhardt besiseite schob, durfte der noch eine Weile Franktionsvorsitzender bleiben, bevor er zur Friedrich-Naumann-Stiftung weitergereicht wurde. Soll das Amt jetzt Westerwelles Naumann-Stiftung werden, mit fast 7000 Beamten der größte Thinktank der Welt?

Für die deutschen Diplomaten in der Welt und am Werderschen Markt in Berlin liegt in Westerwelles Konzentration aufs Amt eine gewisse Drohung, auch wenn sie das unter professioneller Loyalität verbergen. Die unterdrückte Enttäuschung über den zurechtgestutzten Chef wird nicht ohne Folgen bleiben. Als Parteichef und Vizekanzler brachte Westerwelle Gewicht mit. Doch bald wurde klar, dass man einen Innenpolitker bekommen hatte, für den das Außenamt immer eine abgeleitete Funktion behalten würde. Was Westerwele über Hartz 4 dachte, wußte bald jeder. Zur Eurokrise sind maßgebliche Gedanken nicht überliefert. Der Deal des Apparats mit Westerwelle hätte sein können: Du kannst von uns Glaubwürdigkeit und Seriösität bekommen – wenn Du dich beraten läßt. Kaum anzunehmen, dass das so noch gilt. Mit seinem Gewicht in der Koalition hätte er ein mächtiger Verstärker für die deutsche Diplomatie werden können. Nun aber drohen zwei Jahre Westerwelle unplugged.
Das Amt hat bisher noch jeden Chef zum Glänzen gebracht, nicht nur Selbstläufer wie Genscher und Fischer, sogar bekennende Anticharismatiker wie Kinkel und Steinmeier. Bei Westerwelle hat es erstmals nicht funktioniert. Und das ist merkwürdig: Kein Außenminister war je so unbeliebt, obwohl seine ganze Außenpolitik auf Popularität zielte: Er hat für ein konkretes Abzugsdatum aus Afghanistan gekämpft, für die Abrüstung der letzten US-Atomraketen in Deutschland, für einen Sitz im UN-Sicherheitsrat und gegen eine Beteiligung Deutschlands an der Libyen-Intervention. Die Angfänge dieser Politik reichen zurück in Westerwelles Oppositionszeit, als er 2006 gegen den Einsatz der deutschen Marine vor dem Libanon stritt, wo unter UN-Mandat (Unifil) verhindert werden sollte, dass die Hisbollah weiter mit Waffen gegen Israel versorgt werden konnte.

Es zeichnet sich eine Art liberaler Nationalpazifismus ab: Deutschland hält sich raus und zieht sich raus, wo immer es geht, im Zweifel auch auf die Gefahr hin, Freundschaften und Bündnisse zu gefährden, die bisher gerade für liberale und konservative Außenpolitiker als unverzichtbar galten. Es ist nicht so, dass Guido Westerwelle außenpolitisch keine Linie hat. Die Weigerung des Oppositionspolitikers, keine deutschen Matrosen zum Abfangen von Waffenlieferungen nach Nahost zu schicken, selbst als die Israelis das wollten, war ein Vorspiel seiner jüngsten Außenpolitik im Amt. Aus demselben Geist hat er sich nun früh gegen eine Flugverbotszone in Libyenfestgelegt. E hat ihn nicht irritiert, dass Aufständische und die Nachbarn wochenlang danach verlangten. Dass sich die engsten Verbündeten unter dem Eindruck von Gadhafis Radikalisierung von Skeptikern zu Interventionisten zu wandeln begannen, hat er offenbar nicht kommen sehen. Die Gefahr einer Isolierung zu erkennen, die Kanzlerin davor zu warnen und Gegenstrategien zu ersinnen, wäre aber die Aufgabe eines Chefdiplomaten gewesen.
Es gab durchaus, wie deutsche Diplomaten hinter vorgehaltener Hand berichten, Signale der treibenden Mächte Frankreich, USA und Großbritannien, dass man militärische Zurückhaltung der Deutschen akzeptiert hätte im Gegenzug für eine Ja-Stimme. Westerwelle behauptet aber weiterhin, Deutschland hätte sich den Forderungen nach militärischer Beteiligung nicht entziehen können und wäre auf eine »schiefe Ebene« gekommen. Mindestens so wichtig war eine innenpolitische Erwägung: durch die Enthaltung sollte eine Debatte über einen weiteren deutschen Militäreinsatz verhindert werden – kurz vor entscheidenden Wahlen. Die Debatte wurde verhindert, das Wahlkampfkalkül ist dennoch nicht aufgegangen. Und der außenpolitische Preis könnte hoch ausfallen.
Dabei schien Westerwelle im Februar endlich Tritt in seiner Funkiton zu fassen. Beherzt ergriff er das Freiheitsthema, das ihm der arabische Frühling frei Haus lieferte. Doch schnell wurde klar, dass bald war mehr vom deutschen Außenminister gefordert sein würde als Kaffeetrinken mit Bloggern in Tunis und touristische Abstecher auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Die Lage in Libyen eskalierte. Als Amerikaner und Franzosen sich angesichts des drohenden Falls von Bengasi entschlossen, den Diktator Gadhafi nicht gewähren zu lassen, kam es zur Kollision des Westerwelleschen Freiheitspathos mit seiner absoluten Entschiedenheit, sich rauszuhalten. Er nötigte seinen Beamten wider deren Ratschlag auf, sich bei der die Libyen-Resolution des Sicherheitsrates zu enthalten.

Im Oktober erst hatte er es als ersten großen Erfolg seiner Amtszeit gefeiert, dass Deutschland den nichtständigen Sitz im Weltsicherheitsrat erlangt hatte. »Warum wolltet ihr eigentlich unbedingt hier hinein? Um euch zu enthalten?« – solchen Hohn müssen sich die deutschen Diplomaten nun anhören.
Deutschland verhält sich neutral angesichts der größten Freiheitsbewegung seit 1989? Westerwelles lautes Insistieren, der »Diktator Gadhafi« (Westerwelle) müsse weg, macht die Sache nicht besser. Am letzten Freitag stand der deutsche Außenminister mit seinem chinesischen Kollegen Yang Jiechi gemeinsam vor der Presse. »Die libysche Sitiuation kann nicht durch militärische Mittel gelöst werden,« sagte er und verlangte eine »diplomatische Lösung« . Wie dieser Anspruch, ausgerechnet von Peking aus formuliert, wohl auf Franzosen, Briten, Amerikaner, Belgier und Schweden wirkt, die ihre Piloten über Libyen einsetzen, um Gadhafi in Schach zu halten? Die Vorstellung, dass sie am Ende den Deutschen das Verhandeln überlassen werden, ist abwegig.
Im Koalitionsvertrag haben sich Union und FDP zur »Idee des Westens als Grundlage und seinen Institutionen als Plattform deutscher Außenpolitik« bekannt. Der Westen müsse »zu mehr Geschlossenheit finden, um seine Interessen durchzusetzen und gemeinsame Werte zu bewahren.« Außenpolitiker der Union fragen sich unterdessen murrend, ob dieses Ziel noch gilt. Sie halten ihren Unmut gegen Westerwelle nur mühsam zurück, um den angeschlagenen Koalitionspartner nicht noch mehr in die Krise zu treiben.
Und mancher tröstet sich damit, dass Westerwelles Sturz als Innenpolitiker abermals eine Schwerpunktverlagerung der Außenpolitik ins Kanzleramt mit sich bringt. Es wird nun noch viel mehr auf die Kanzlerin ankommen.
Im Machtgefüge der Regierung war das Auswärtige Amt seit den Tagen Klaus Kinkels nicht so marginal wie jetzt. Der Unterschied: Damals konnte Deutschland sich das leisten. Die Einheit musste gestaltet werden, das Land war erst einmal mit sich selbst und der Beruhigung der Nachbarn angesichts seiner Größe beschäftigt.
Die Welt der asymmetrischen Kriege und humanitären Interventionen, der Währungskrisen und der amerikanischen Überdehnung, des Aufstiegs der Nichtwestler ist eine außenpolitische Dauerherausforderung. Heute ist Deutschland als Europas unbestrittenes Schwergewicht ständig gefordert. Es kommt darauf an, was in Berlin gedacht und entschieden wird – für Brüssel, Bengasi und Kundus.
Europa muss eine Haltung zum Aufstieg Chinas und anderer Nichtdemokratien finden – jenseits von Kotau und Überheblichkeit. Und der demokratischen Wandel in Arabien zu begleiten. Gute Themen für Liberale, eigentlich. Aber in beiden Fällen: Keine Enthaltung möglich. Außenpolitik ist heute Stresstest.
Dass Deutschland ihn mit einem entmachteten Außenminister bestehen kann, ist schwer vorstellbar.

 

Kann der Libyen-Krieg begrenzt werden?

Die Libyen-Intervention muss immer noch gegen Kritik von zwei Seiten verteidigt werden. Die einen wollen eine aggressivere Strategie inklusive Regimewechsel als erklärtem (militärischem) Ziel. Nicht überraschender Weise sind manche dieser Kritiker Architekten, Vordenker oder Verteidiger des Irakkrieges gewesen.
Die anderen kritisieren, dass man sich überhaupt auf die Sache eingelassen habe, weil man am Ende in einen „Bürgerkrieg“ hineingezogen werde und die Verantwortung für ein weiteres Desaster vom Typ Afghanistan/Irak/Somalia übernehmen werde müssen.
Ich kann beidem nicht folgen.
Das Ziel Regimewechsel hätte niemals eine UN-Resolution mit der de facto Duldung durch Russen und Chinesen bekommen. Dies bedeutet deren Enthaltung: eine Ermöglichung der Intervention, denn sie hätten ja ein Veto einlegen können. Aber auch Russen und Chinesen wollten diesmal nicht als Zuschauer eines Massakers gelten. Die deutsche Enthaltung hat dem gegenüber in Wahrheit den Charakter eines Nein, weil Deutschland die Vetomacht fehlt.

Darauf zielte Obamas Bemerkung in seiner Rede, andere Nationen mögen es über sich bringen, einem Massaker zuzuschauen, Amerika sei anders. Auch die wichtige Unterstützung der arabischen Nachbarn hätte man mit einer offenen Regimewechsel-Politik nie bekommen. So kann man nun die Weichen für einen Regimewechsel stellen, ohne ihn militärisch und gar durch Besatzungstruppen durchzusetzen. Ob das gelingt, weiß niemand. Immerhin gibt es die Hoffnung, wie die jüngsten Desertionen wichtiger Figuren aus Libyen zeigen.
Es ist zweitens nicht auszuschließen, dass Libyen politisch instabil bleiben wird, dass es zu Stammeskämpfen kommen kann etc. Aber notwendig ist das keineswegs. Und wiederum ist es auch nicht notwendiger Weise so, dass aus der Intervention gegen Gadhafi folgt, dass der Westen die Verantwortung für den Nationenaufbau nach einem hoffentlich baldigen Ende der Feindseligkeiten übernimmt. Vielleicht werden UN-Peacekeeping-Truppen notwendig werden, aber die sollten von den Nachbarn oder von anderen islamisch geprägten Ländern aufgestellt werden (die Türkei ist schon humanitär sehr aktiv im Land).
In anderen Worten: Es ist alles andere als zwangsläufig, dass diese Intervention nicht begrenzt werden kann. Und es war gut und richtig, sie von vornherein so anzulegen.
David Brooks fasst zusammen, wie auch ich es sehe:

President Obama took this decision, I’m told, fully aware that there was no political upside while there were enormous political risks. He took it fully aware that we don’t know much about Libya. He took it fully aware that if he took this action he would be partially on the hook for Libya’s future. But he took it as an American must — motivated by this country’s historical role as a champion of freedom and humanity — and with the awareness that we simply could not stand by with Russia and China in opposition.

(…)

As president, of course, one also has to think practically. The president and the secretary of state reached a hardheaded conclusion. If Col. Muammar el-Qaddafi is actively slaughtering his own people, then this endeavor cannot end with a cease-fire that allows him to remain in power. Regime change is the goal of U.S. policy.

There are three plausible ways he might go, which inside the administration are sometimes known as the Three Ds. They are, in ascending order of likelihood: Defeat — the ragtag rebel army vanquishes his army on the battlefield; Departure — Qaddafi is persuaded to flee the country and move to a villa somewhere; and Defection — the people around Qaddafi decide there is no future hitching their wagon to his, and, as a result, the regime falls apart or is overthrown.

(…)

All of this is meant to send the signal that Qaddafi has no future. Will it be enough to cause enough defections? No one knows. But given all of the uncertainties, this seems like a prudent way to test the strength of the regime and expose its weaknesses.

It may turn out in the months ahead that we simply do not have the capacity, short of an actual invasion (which no one wants), to dislodge Qaddafi. But, at worst, the Libyan people will be no worse off than they were when government forces were bearing down on Benghazi and preparing for slaughter. At best, we may help liberate part of Libya or even, if the regime falls, the whole thing.

It is tiresome to harp on this sort of thing, but this is an intervention done in the spirit of Reinhold Niebuhr. It is motivated by a noble sentiment, to combat evil, but it is being done without self-righteousness and with a prudent awareness of the limits and the ironies of history. And it is being done at a moment in history when change in the Arab world really is possible.

 

Polenz: Deutschland muss das Waffenembargo gegen Gadhafi mit durchsetzen

Ruprecht Polenz (CDU) ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages. Er hat noch nie gescheut, auch gegen die Linie der eigenen Partei Stellung zu beziehen. Zuletzt hat davon sein Buch „Besser für beide. Die Türkei gehört in die EU“ Zeugnis abgelegt. Polenz hatte auch bereits im Bundestag die Position der Regierung in der Libyen-Frage kritisiert. Ich habe ihn für die morgige Ausgabe der Zeit befragt über Deutschlands Möglichkeiten, den entstandenen Schaden in den Bündnissen zu reparieren – und über die historische Bedeutung der UN-Resolution:

DIE ZEIT: Herr Polenz, das Flugverbot für Gadhafis Truppen ist in Kraft. Hätte Deutschland für die Intervention stimmen sollen?

Ruprecht Polenz: Ich habe immer gesagt, dass zwei Voraussetzungen für einen Einsatz erfüllt sein müssen: eine Resolution des Sicherheitsrats als völkerrechtliche Grundlage und zweitens eine sichtbare Beteiligung von Staaten der Region. Das letztere um zu vermeiden, dass der Eindruck entsteht, es gehe dem Westen ums Öl und nicht um humanitäre Gründe.
Deutschland hätte zustimmen sollen, als beides gegeben war. Das hätte nicht zwangsläufig bedeutet, sich auch militärisch zu beteiligen. Wir sind durch unser Engagement in Afghanistan, auf dem Balkan und am Horn von Afrika schon an der Grenze unserer Möglichkeiten. Eine Zustimmung hätte schon deshalb nicht automatisch die Verstrickung in einen weiteren Konflikt bedeutet.

ZEIT: Eben das aber war die Position des Außenministers und der Kanzlerin: Weil man deutsche Soldaten in Libyen ausschließen wollte, habe man sich nur enthalten können.

Polenz: Da stimme ich mit der Auffassung der Bundesregierung nicht überein. Bodentruppen wären durch die Resolution 1973 ohnehin nicht gedeckt. Russland und China würden sofort von ihrem Vetorecht Gebrauch machen, um deren Entsendung zu verhindern. Auch Obama hat deutlich gemacht, dass die USA auf keinen Fall Bodentruppen einsetzen werden. Wer dennoch berechtigte Sorgen vor Weiterungen einer solchen Mission hat, kann sich auch ausklinken, wenn es so weit ist. Nun ist aber der Eindruck entstanden – wenn auch unbeabsichtigt – dass Deutschland nicht zu seinen Verbündeten steht. Das hätte man vermeiden müssen.

ZEIT: Hat Deutschland sich isoliert?

Polenz: Nein, so weit ist es noch nicht. Wir können dem Eindruck entgegensteuern, wenn wir jetzt in der Nato in den Stäben weiter mitarbeiten, die die Flugverbotszone und die anderen militärischen Aktionen in Libyen planen. Es wird auch über die Frage zu sprechen sein, ob sich Deutschland nicht doch an der Überwachung des Waffenembargos im Mittelmeer beteiligt.

ZEIT: Aber die Bundesregierung hat doch soeben die dazu fähigen Schiffe aus der Nato-Mission Active Endeavour im Mittelmeer zurückgezogen?

Polenz: Das war nicht anders möglich, denn deren Mandat war für den Antiterrorkampf ausgelegt. Aber der Verteidigungsminister scheint mir offen dafür zu sein, dass die Deutschen sich an der seeseitigen Kontrolle des Waffenembargos beteiligen. Ich fände das richtig. Deutschland hat in der Libyen-Resolution Nummer 1970 im UN Sicherheitsrat einem solchen Embargo zugestimmt, da läge es in der Konsequenz, auch an der Durchsetzung dieser Maßnahme teilzunehmen. Es ergibt keinen Sinn, einem Embargo zuzustimmen, dann aber seine Überwachung abzulehnen. Darüber müssen wir jetzt diskutieren.

ZEIT: Außenminister Westerwelle verteidigt die Enthaltung im Libyenkonflikt als Überzeugungstat, die im vollen Bewußtsein der bündnispolitischen Konsequenzen erfolgt sei. Ein deutscher Sonderweg ohne die traditionellen westlichen Verbündeten als neue Doktrin, ausgerechnet unter Schwarz-Gelb?

Polenz: Es gehört zu den Prinzipien der deutschen Außenpolitik, eine enge Zusammenarbeit mit Frankreich innerhalb der europäischen Union zu pflegen. Und die deutsche Außenpolitik muss in eine gemeinsame Außenpolitik der EU eingebettet bleiben. Sicherheitspolitisch sind wir Mitglieder der Nato mit Rechten und Pflichten. Wir müssen darum nicht bei jedem Einsatz an vorderster Front dabei sein. Man kann seinen Beitrag auch an anderer Stelle bringen. Aber wir sollten schon darauf achten, dass wir nicht wie jene Länder wahrgenommen werden, mit denen wir jetzt gemeinsam gestimmt haben – Russland, China oder Indien.

ZEIT: Über Frankreich wird in Berlin derzeit sehr schlecht geredet. Sarkozy habe nur aus Profilierungssucht gehandelt.

Polenz: Frankreich will sicher auch in Libyen nachholen, was es in Tunesien versäumt hat: Empathie für die arabische Revolte. Als Sarkozy vorpreschte, waren die Bedingungen für eine erfolgreiche Intervention nur auf dem Papier erfüllt. Eine sichtbare Beteiligung der Araber haben wir bis heute nicht. Das ist wichtig, damit es nachher nicht heißt, der Westen mische sich imperialistisch ein. Al-Dschasira muss das filmen können. Aber wir sollten zurückhaltend sein mit Kritik an den Franzosen. Deren schnelles Eingreifen hat in Bengasi Schlimmstes verhütet.

ZEIT: Die Franzosen hingegen sind entsetzt, dass die Deutschen durch ihr Abstimmungsverhalten dokumentiert haben, dass sie einem Massaker in Bengasi zugeschaut hätten.

Polenz: Das ist ungerecht. Wir hätten ohnehin nur begrenzte Kapazitäten gehabt, um in Libyen mitzutun. Zum einen wären es unsere Awacs-Überwachungsflugzeuge gewesen, die zu Feuerleitstellen über dem Mittelmeer geworden wären. Weil das nach der deutschen Enthaltung nicht möglich ist, werden die jetzt über Afghanistan die Nato entlasten. Zweitens wären die deutschen ECR-Tornados gefordert worden, die besondere Fähigkeiten haben, feindliche Radaranlagen auszuschalten. Aber das war’s denn auch schon.

ZEIT: Nun hat die Nato das Kommando über die Libyen-Intervention übernommen – und die Deutschen stehen abseits?

Polenz: Nein. Das gibt den Deutschen die Möglichkeit, durch die Mitarbeit in den Nato-Stäben zu zeigen, dass unsere Enthaltung keine Abkehr vom Bündnis bedeutet.
ZEIT: Dürfen wir denn da konsequenter Weise mitmachen, nachdem wir der Resolution unsere Zustimmung verweigert haben?
Polenz: Wir brauchen in Deutschland kein Mandat des Bundestages, wenn ein ohnehin schon bestehender Stab eine solche Aufgabe erfüllt. In dem Moment, wo für eine spezielle Aufgabe neue Stäbe zusammengestellt werden, brauchen wir ein neues Mandat des Bundestages. Und die Bundesregierung sollte den Nato-Partnern signalisieren, dass sie dies auch bekommen würde. Deutschland darf sich jetzt nicht wegen der Mandatsfrage einen Knoten ins Bein machen.

ZEIT: Kritiker der Intervention sagen, die Bombardierung in Libyen gehe längst über das hinaus, was in der UN-Resolution vorgesehen ist, nämlich Schutz der Zivilbevölkerung. De facto agierten die westlichen Piloten als Luftwaffe der Rebellen, die jenen den Weg nach Tripoli freischießt.

Polenz: Das Mandat der Uno-Resolution geht sehr weit. Es schließt eigentlich nur Besatzungstruppen am Boden aus. Völkerrechtlich hat die Resolution erstmals das Prinzip der Schutzverantwortung für die Zivilbevölkerung beherzigt, die „responsibility to protect“. Das ist ein historischer Schritt, der noch nicht genügend gewürdigt wird. Aber man muss doch vor allem die politische Bedeutung der Resolution würdigen. Denn was ist in der arabischen Welt zwischen Oktober 2010 und März 2011 passiert? Die Araber haben keine Angst mehr. Wenn Gadhafi sich mit brutaler militärischer Gewalt durchgesetzt hätte, dann wäre die Angst wiedergekommen. Darum steht hier politisch mehr auf dem Spiel als nur Libyen. Der Militäreinsatz hat jetzt schon dazu geführt, dass Gadhafi sich in Libyen nicht mehr durchsetzen kann. Und damit ist ein ganz wesentliches Ziel auch hinsichtlich der Nachbarländer erreicht: keine Wiederkehr der Angst. Wie lange der Diktator sich jetzt noch halten kann, hängt an der Entwicklung der Kräfteverhältnisse im Land.

ZEIT: Also geht es doch um Regimewechsel?

Polenz: Das ist eine Frage, die die Libyer am Ende unter sich zu klären haben werden.
ZEIT: Wie lange kann der Einsatz noch dauern? Obama hat „eher Tage als Wochen“ in Aussicht gestellt.
Polenz: Das kann auch so kommen: Wenn Gadhafis Truppen sich nicht mehr bewegen, muss man auch nicht mehr eingreifen. Dann ist es ein Zustand intensiver Beobachtung und Kontrolle. Ziel ist, dass die Libyer selber entscheiden können, wie es weitergehen soll.
ZEIT: Macht sich, wer so interveniert, nicht zur Geisel der Aufständischen? Was, wenn die nun Vergeltung wollen und selber Massaker begehen?
Polenz: Das ist eine Gefahr. Aber wer Gadhafis Truppen hindert gegen Zivilisten vorzugehen, reduziert auch Anlässe für Vergeltung. Wird man das hehre Prinzip der Schutzverantwortung – „responsibility to protect“ – nun immer und überall durchsetzen können? Sicher nicht. Aber es ist ein Fortschritt deutlich zu machen, dass staatliche Souveränität, wie wir sie seit 1648 verstanden haben, nicht beinhaltet, dass ein Diktator mit seinen Bürgern machen kann, was er will.

 

Die Obama-Doktrin und das Totalversagen der deutschen Diplomatie

Obama hat gestern abend begründet, warum die USA in Libyen interveniert haben. Zugleich bietet diese Rede so etwas wie den Rahmen der Obama-Doktrin.

Mir hat es einen Stich versetzt, als er die engsten Alliierten der Vereinigten Staaten aufzählte, darunter Dänemark, Norwegen und Italien und die Türkei ! – und eben nicht Deutschland. Er sagte:

„To brush aside America’s responsibility as a leader and -– more profoundly -– our responsibilities to our fellow human beings under such circumstances would have been a betrayal of who we are.  Some nations may be able to turn a blind eye to atrocities in other countries.  The United States of America is different.  And as President, I refused to wait for the images of slaughter and mass graves before taking action.“

Die Deutschen waren bereit, auf diese Bilder zu warten. Turn a blind eye: das war Westerwelles Position trotz seines vorhergehenden Geredes über „wertegebundene Außenpolitik“. Merkel, die einmal als Transatlantikerin galt und in Amerika zig Preise für dieses unbestätigte Gerücht kassiert hat, unterstützt den isolationistisch-radikalpazifistischen Kurs ihres Vize.

Obama sprach parallel zu der Kommandoübernahme durch die Nato über die Operationen in Libyen. Deutschland hat sich letzte Woche aus der Durchsetzung eines Waffenembargos durch Nato-Kräfte zurückgezogen. Unfassliche Konsequenz der Enthaltung im Weltsicherheitsrat: Deutschland hat Schiffe aus Missionen abgezogen, die seit dem 11. September zwecks Antiterror-Kampf im Mittelmeer unterwegs waren. Warum? Weil es nun dazu kommen könnte, dass beim Aufbringen libyscher Schiffe Gewalt angewendet werden muss.

Um diese Schande auszuwetzen, schicken wir nun Awacs-Mannschaften nach Afghanistan (wogegen vor Monaten noch seitens der Regierung agitiert wurde). Ein Tiefpunkt deutscher Außenpolitik.

Obamas Rede zielt daheim gegen Isolationisten und regime-change-Advokaten zugleich. Er macht klar, warum es im Interesse der Vereinigten Staaten war, in Libyen nicht dem Sieg Gadhafis zuzuschauen: Die arabische Freiheitsbewegung darf nicht durch das Signal geschwächt werden, dass brutale Tyrannei nun doch wieder hingenommen wird. Ein Flüchtlingsdrama soll verhindert werden. Am stärksten aber ist der Appell an die amerikanischen Werte: Es wäre ein Betrug an ihnen, sagt Obama, wenn man hier, wo man eingreifen kann, davor zurückschreckt.

Daraus folgt nicht, dass demnächst überall eingegriffen werden müsse, wie die Gegner der Intervention argumentieren. Hier aber gibt es passende Voraussetzungen: Ein legitimer Ruf von innen, ein Beschluss des Sicherheitsrats, willige Alliierte (auch aus der Region), einen Notstand und die Chance, ohne massive eigene Verluste Schlimmes zu verhindern.

Eben um diese Legitimität nicht zu gefährden, folgt daraus nicht, dass man gleich „all the way“ gehen und Gadhafi militärisch stürzen muss. Das sollten die Libyer alleine erreichen, geschützt und gestützt durch die internationalen Truppen, die Gadhafis Chancen, ein Massaker anzurichten, reduzieren. Westliche Bodentruppen würden den legitimen Aufstand in eine weithin abgelehnte Besatzung verwandeln. Es ist falsch zu sagen, meint Obama, wer nicht bereit sei, bis zum Ende zu gehen (wie im Irak?), der solle gleich gar nichts tun.

Es ist klug und richtig, dass Obama die Rolle der Amerikaner darin sieht, eine möglichst breite Koalition zu ermöglichen und sich dann so weit wie möglich aus der militärischen Führung zurückzuziehen. Nordafrika ist vor allem eine Sache der Nachbarn und der Europäer. Einige Europäer scheinen das zu begreifen.
Sollte Gadhafi sich in Tripolis verschanzen, nachdem sein Militär die Möglichkeit eingebüßt hat, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren, beschränkt sich die Rolle der Koalition auf die Überwachung des Luftraums und der Bewegungen schweren Geräts am Boden. Durch eine Unterstützung der Rebellen, durch konsequente Embargos und die diplomatische Unterstützung des Wandels könnte dann ein Regimewechsel passieren, ohne dass Libyen besetzt und die Opposition diskreditiert wird – und ohne dass bei den Nachbarn den Argwohn genährt wird, es handele sich um ein neokoloniales Abenteuer.

Die Obama-Doktrin fasst Aaron David Miller in der New York Times so zusammen:

Aaron David Miller, a State Department Middle East peace negotiator during the Clinton administration, said Mr. Obama described a doctrine that, in essence, can be boiled to this: “If we can, if there’s a  moral case, if we have allies, and if we can transition out and not get stuck, we’ll move to help. The Obama doctrine is the ‘hedge your bets and make  sure you have a way out’ doctrine. He learned from  Afghanistan and Iraq.”

Ich halte es für ein Totalversagen der deutschen Diplomatie, dass wir diese begrüssenswerte Wende nicht unterstützen.

 

Die neue Stärke der Muslimbrüder

Wie weiter mit den Muslimbrüdern? Die Frage stellt sich heute anders und  dringender als noch vor Monaten. Nach einem Bericht der NYTimes gibt es Anzeichen für einen Deal der alten Regierungspartei NDP und des Militärs mit den MB in Ägypten. Bei dem erfolgreichen Referendum vor einigen Tagen konnte man diesen Deal in Kraft sehen. Statt einer grundlegenden Verfassungsreform haben die Menschen in Ägypten für eine Reparatur einiger Artikel gestimmt, die eine schnelle Parlamentswahl ermöglichen soll.

Alle diese Kräfte haben ein Interesse an einem schnellen Übergang zu Wahlen. Das Militär will raus aus der Verantwortung für das Land, ohne seine Pfründe zu verlieren. Die Mubarak-Leute wollen weiter in Verantwortung bleiben und ebenfalls ihre Pfründe retten. Und sie wollen die Demokratiebewegung in Schach halten. Die MB will die Weichen für einen Staat nach ihrem Geschmack stellen, und will ebenfalls die säkularen Kräfte der Demokratiebewegung auf die hinteren Plätze verweisen. Sehr irritierend ist die teilweise demagogische religiöse Propaganda für das Referendum, von der Michael Slackmann aus Ägypten berichtet:

The amendments essentially call for speeding up the election process so that parliamentary contests can be held before September, followed soon after by a presidential race. That expedited calendar is seen as giving an advantage to the Brotherhood and to the remnants of Mr. Mubarak’s National Democratic Party, which have established national networks. The next Parliament will oversee drafting a new constitution.Before the vote, Essam el-Erian, a Brotherhood leader and spokesman, appeared on a popular television show, “The Reality,” arguing for the government’s position in favor of the proposal. With a record turnout, the vote was hailed as a success. But the “yes” campaign was based largely on a religious appeal: voters were warned that if they did not approve the amendments, Egypt would become a secular state.

“The problem is that our country will be without a religion,” read a flier distributed in Cairo by a group calling itself the Egyptian Revolution Society. “This means that the call to the prayer will not be heard anymore like in the case of Switzerland, women will be banned from wearing the hijab like in the case of France,” it said, referring to the Muslim head scarf. “And there will be laws that allow men to get married to men and women to get married to women like in the case of America.”

A banner hung by the Muslim Brotherhood in a square in Alexandria instructed voters that it was their “religious duty” to vote “yes” on the amendments.

Die Säkularen sind noch sehr schwach organisiert. Sie können nur große Demos veranstalten, haben aber keine Organisation und vielleicht auch keinen ausreichenden Konsens für ein regelrechtes Parteiprogramm (oder gleich mehrere davon).

Sandmonkey, den ich auf Twitter angefleht hatte, endlich wieder regelrecht zu bloggen, hat dies dankenswerter Weise getan. Hat sicher nicht allein mit meinem Flehen  zu tun: Die Selbstverständigung der jungen Revolutionäre über die Zeit nach der Revolution lässt sehr zu wünschen übrig. Sandmonkey macht wichtige Vorschläge, wie die Bewegung sich in eine ernstzunehmende politische Kraft verwandeln kann.

Darunter dieser, nur scheinbar widersprüchliche:

I once suggested that we need to reach to Imams and Priests in order to get them on our side, and I was hissed at for wanting to mix Politics with Religion. Well, as much as I agree with that sentiment and truly wish we live in a country where people don’t vote based on religion, ehh..welcome to Egypt. We are religious people, and whether we like it or not, Imams and Priests are community leaders. We have to engage them, get them on our side and have them help us with the hearts and minds of their flock. An easy place to start are the individual churches and the Sufi festivals (Fun Fact of the Day: the Sufis are 16 million in Egypt. I KNOW!), get those two groups, and then focus on all the local imams that are in your area. If you manage to convince 1 Imam in every 5, you already caused them to lose a sizable part of their base.

Das ist richtig. In einem religiösen Land wie Ägypten darf die Moschee nicht der MB überlassen bleiben.

Aber wie soll der Westen nun mit der MB weiter vorgehen? Zurückhaltung oder Austausch? Ich habe in den letzten Tagen sehr unterschiedliche Signale von zwei Experten bekommen, die ich beide schätze und die ich beide nicht für verblendet oder ideologisch halte.

Ian Johnson, dessen Buch „Die Vierte Moschee“ ich in Leipzig vorgestellt habe, ist sehr skeptisch. Er rät ab, die MB durch offizielle Kontakte aufzuwerten. Er hält es für falsch zu glauben, man könne die MB politisch beeinflussen und gar für die Zwecke einer Politik im Dienste der Werte einer pluralistischen, säkularen Gesellschaft einspannen. In seiner Sicht ist die religiöse Agenda am Ende immer der Trumpf, der alles sticht. Und er hat gute Beispiele in seinem Buch.

Die MB zu Gast bei Präsident Eisenhower, 1953. Rechts außen mit Bart: Said Ramadan. Foto: Ian Johnson

Parag Khanna, den ich heute in der amerikanischen Botschaft zu einem Gespräch treffen konnte, hält die diplomatische Zurückhaltung gegenüber der MB für völlig falsch und für eine westliche Selbstüberschätzung. Gruppen, die man „isoliert“, werden dadurch nicht notwendiger Weise geschwächt. Und der Westen müsse sich schlichtweg fragen, ob man eines Tages einer neuen ägyptischen Elite gegenüber treten möchte, die man schlicht nicht kennt.

Und dann ist da noch die dritte Position von dem klugen Ray Takeyh, der einige der besten Bücher über Iran geschrieben hat. Er meint, Amerika und der Westen müssten sich eindeutig zugunsten der Säkularen positionieren:

Islamist parties can be counted on to similarly menace an inexperienced democratic order. Their deputies are extremely likely to press discriminatory legislation; their religious leaders will stimulate passions against women’s rights groups and nongovernmental organizations; and their militias will threaten secular politicians and civil society leaders who do not conform to their template. Such agitations may not garner absolute power but could still provide an opportunity for national militaries to end the region’s democratic interlude in the name of stability and order.

The answer, then, is not to exclude Islamist parties from political participation. A genuine democratic system will have to include all contending voices, however ill-intentioned and radical they may be. Washington’s challenge is to make certain that the region’s political transition does not culminate in the assumption of power by another military clique. So the United States and its allies must strengthen the political center and the democratic regimes that are coming to power in the midst of economic crisis and without the benefits of mature institutions.

A massive package of economic assistance to countries such as Egypt and Tunisia would tether these nations to the United States and would allow Washington to be clear that extremism in any guise will cause cessation of support. Even in an age of budgetary constraints, Washington may be able to generate substantial sums by channeling military aid to civilian pursuits and by collaborating with the European Union, the World Bank and the International Monetary Fund. The United States may not be able to determine the outcome of the Mideast uprisings, but it can still impose conditions and offer incentives that diminish the appeal and potency of militant actors.

Beyond such measures, Washington has the moral obligation of political partiality. During the Cold War, it did not remain passive as the forces of democracy battled the communist parties that sought to exploit post-World War II dislocation to advance sinister designs. The United States actively and at times covertly aided noncommunist forces throughout Europe, ensuring the defeat of powerful communist parties in France and Italy. In the context of the Middle East today, this means standing with emerging secular parties and youth activists as they seek to reinvent the region’s politics and finally push the Middle East into the 21st century.

The notion that America’s interventions in the Arab world have made it a toxic agent that should stand aside is a presumption of the Western intelligentsia — and one rejected by Arab protesters, the majority of whom have not uttered anti-American slogans. The springtime of the Arab world offers the United States an opportunity to reclaim its values and redeem its interests. America has a stake in the future of the Middle East and should not shy away from cultivating the nascent democratic movements sweeping the region.

 

Das deutsche Nein zum Libyen-Krieg

Mein Text aus der ZEIT von morgen, 24.3.2011, S.10:

Ein paar Wochen lang schien Deutschland am Mittelmeer zu liegen. Die deutsche Außenpolitik stand im Februar nach erstem Zögern plötzlich im Bann der arabischen Revolten. Es waren die Deutschen, nicht die Franzosen oder die Italiener, die zuerst die Chance im demokratischen Wandel der südlichen Nachbarschaft erkannten. Die Eskalation in Libyen und das deutsche Nein zum Flugverbot haben nun alles wieder gedreht. Und auf einmal ist das Mittelmeer wieder sehr breit.
Dabei war dem Außenminister, der lange mit dem Amt fremdelte, durch den Aufstand in Arabien unversehens ein Thema serviert worden: die Freiheitsliebe – welch ein Geschenk für einen Liberalen. Er trank demonstrativ Kaffee mit Bloggern in Tunis und badete in der Menge auf dem Kairoer Tahrir-Platz. Mehr als das: Deutschland preschte voran mit Hilfsangeboten für die Demokratiebewegungen und drängte auf Sanktionen gegen Despoten, während Frankreich beschämt beiseite stand wegen der Tyrannen-Kuschelei seiner Minister. Man werde die alte Arbeitsteilung in der EU – Deutschland ist für die östliche Nachbarschaft zuständig, Frankreich für den Süden – nicht mehr akzeptieren, verkündete Westerwelle auf der Höhe seiner Begeisterung. »Wir stehen an der Seite der Freiheitsbewegungen in der arabischen Welt«, deklamierte er in Kairo.
Doch vier Wochen später steht Deutschland an der Seite von Russland und China, Brasilien und Indien, mit denen es sich im Sicherheitsrat einer UN-Resolution zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung vor dem »Diktator Gadhafi« (Westerwelle) verweigert hat. Hat Deutschland sich damit in der EU, der Nato, den Vereinten Nationen und gegenüber den arabischen Staaten isoliert? Westerwelle und Merkel bestreiten es vehement, wenn auch wenig überzeugend. Ihre Bedenken gegen den Einsatz in Libyen würden von vielen Regierungen geteilt. Das mag sein. Doch noch nie hat Deutschland sich gegen alle seine wichtigen westlichen Partner gestellt. Wie ist es dahin gekommen?
Sehr früh hat Deutschland sich darauf festgelegt, eine Flugverbotszone in Libyen abzulehnen. Bei seinem Besuch in Kairo Ende Februar nannte Westerwelle sie immerhin noch eine »Option«. Aber damals schien sie nur eine sehr entfernte Möglichkeit. Skeptische Äußerungen des amerikanischen Verteidigungsministers ­Gates bestätigten die deutsche Diplomatie in ihrer Ablehnung: ein Flugverbot bedeute nichts anderes als Krieg. Man schraubte die Forderungen hoch: Die Arabische Liga müsse das Flugverbot unterstützen und sich aktiv daran beteiligen. Auch brauche es einen UN-Beschluss, um den Eindruck vom westlichen Imperialismus einer neuen Koalition der Willigen zu vermeiden. Man dürfe dem Aufstand nicht die Legitimation nehmen und dem Diktator keinen Vorwand für Propaganda liefern. Weil es unwahrscheinlich schien, dass sowohl die Araber sich einigen als auch Russen und Chinesen im Sicherheitsrat auf ihr Veto verzichten könnten, rechneten die Deutschen nicht damit, dass ihr Nein zum Flugverbot getestet würde.
Das hat sich als fatale Fehleinschätzung erwiesen: Es fing damit an, dass die Arabische Liga Anfang März erstmals einem Tyrannen aus ihren Reihen nicht mehr die Hand reichte, sondern Gadhafi zunächst ausschloss und dann ein Flugverbot forderte, um die Aufständischen zu schützen. Statt diese historische Wende zu würdigen und die Araber beim Wort zu nehmen, begann Berlin Zweifel an deren Entschlossenheit zu säen. Man verwies auf die Ambivalenz der arabischen Forderung: Flugverbot ja, Intervention nein. Das sahen die Deutschen als eine Falle: Wenn es schiefgeht, ist der Westen schuld. Unbegründet ist das nicht, wie die arabischen Absetzbewegungen nach den ersten zivilen Opfern der Luftschläge zeigen.
Doch die Forderung der Araber, wie zweideutig auch immer, setzte eine Dynamik in Gang, die Deutschlands Kalkül überrollte. Als schließlich Gadhafis Vernichtungsdrohungen gegen die Opposition in Bengasi die Weltgemeinschaft vor die Frage stellten, ob man nach Bosnien und Ruanda noch einmal einem Blutbad zusehen würde, kippte die Debatte. Hilary Clinton ließ sich von der libyschen Opposition überzeugen, und der irrlichternde Sarkozy sah plötzlich ein Chance, Frankreichs ramponiertes Ansehen bei den Arabern aufzubessern – zunächst durch Anerkennung der Opposition, dann durch diplomatischen Druck zu einer Resolution. Damit war Deutschland de facto in die unangenehme Lage gekommen, auf ein russisch-chinesisches Veto hoffen zu müssen, damit es nicht zum Schwur kommen würde. Doch so kam es am letzten Donnerstag. Die Enthaltung der beiden Vetomächte war de facto eine Zustimmung zur Intervention – ein historischer Schritt für die Gralshüter der Nichteinmischung. Deutschlands Enthaltung hingegen war in Wahrheit ein Nein.
Hätte Deutschland nicht aus Bündnissolidarität mit Ja stimmen und doch eine militärische Beteiligung ausschließen können? Westerwelle verneint diese Möglichkeit entschieden: Man wäre ohne Zweifel in die Verantwortung genommen worden. Da man aber auf keinen Fall deutsche Soldaten schicken wollte, sei nur die Enthaltung geblieben. Dies sei eine schwere Entscheidung gewesen, hart, aber richtig, und sie sei im vollen Bewusstsein der Konsequenzen gefällt worden, heißt es in Diplomatenkreisen. Wird aus einem diplomatischen Unfall jetzt auch noch eine neue Doktrin destilliert? Hätte Deutschland wirklich einem Blutbad in Bengasi zugeschaut? Oder glaubte man, sich im Zweifelsfall auf andere verlassen zu können – um nur ja eine unangenehme Kriegsdebatte im Wahlkampf vermeiden zu können? Dafür spricht, dass Angela Merkel die Unionsabgeordneten händeringend darum gebeten hat, jede öffentliche Äußerung im Hinblick auf den Wahltermin am Sonntag zu unterlassen. Schwarz-Gelb fällt damit zurück auf den Debattenstand vor der schmerzhaften rot-grünen Entscheidung, im Kosovo mitzutun.
Das Kompensationsgeschäft, das die Bundesregierung jetzt anbietet, zeigt die paradoxe Lage: Man wird deutsche Soldaten in Awacs-Flugzeugen zur Luftraumüberwachung nach Afghanistan schicken. Ende November letzten Jahres hat dieselbe Bundesregierung ebenjene Mission noch hintertrieben, die sie nun Hals über Kopf durch Kabinett und Parlament peitschen will. In Afghanistan mehr tun, weil man gegen Ga­dha­fi nicht mitmachen will? Der offizielle Grund lautet, man wolle die Nato entlasten. Mindestens so sehr aber will die Regierung sich selbst entlasten. Der Awacs-Einsatz ist ein verteidigungspolitischer Ablasshandel. Aber das ist nur ein kleines diplomatisches Desaster im Großen.
Die Regierung, sagt Heiner Geißler, »hat mit der Weigerung, sich an der Luftüberwachung Libyens zu beteiligen, unser Land in die Kumpanei mit Russland und China und in die Isolation gegenüber den arabischen Staaten und unseren westlichen Verbündeten geführt. Kein Außenminister vor Westerwelle hat es so weit kommen lassen. Selbst bei der Ablehnung des Irakkrieges durch Gerhard Schröder hatte Deutschland Frankreich an seiner Seite.«
Westerwelle beruft sich auf große Vorbilder: Schröder und Fischer
Ironischerweise sieht Westerwelle das deutsche Nein von heute in der Linie der bis heute populären rot-grünen Kriegsverweigerung von 2003. Er sieht aufseiten der heutigen Koalitionäre die gleiche Leichtfertigkeit bei der Entscheidung zum militärischen Eingreifen am Werk wie damals im Lager der Bushisten. Und er wird nicht müde zu betonen, dass sich auf eine »schiefe Ebene« begebe, wer heute in Libyen mit Luftschlägen eingreife. Soll heißen: Am Ende werden auch hier Bodentruppen in einem blutigen Bürgerkrieg stehen.
Doch der Irak-Vergleich ist eine Mogelpackung: Bushs Irakkrieg war ein mutwilliges, ideologisch gesteuertes Unternehmen, gestützt auf fabrizierte Beweise, ohne Resolution des Sicherheitsrats. Es geht heute aber nicht um regime change von außen à la Bush, sosehr auch alle Welt Gadhafis Abgang ersehnt. Ziel der Resolution ist Schutz eines Aufstands von innen, dessen blutige Niederschlagung unmittelbar bevorstand.
Die spezielle Ironie bei Westerwelles Irak-Analogie liegt darin, dass er seinerzeit selber Schröder und Fischer vorgeworfen hatte, »schäbig und unseriös« einen »Kriegsangst-Wahlkampf« zu  führen. Damals klagte Westerwelle, Schröder und Fischer seien dabei, »Deutschland zu isolieren« und forderte »zügige Neuwahlen«.  Vielleicht erklärt das, warum Joschka Fischer  jetzt mit der traditionellen Zurückhaltung eines Amtsvorgängers bricht: Westerwelle starre bei seinen Entscheidungen auf »Provinzwahlen« und  setze deutsche Interessen aufs Spiel.
Aber was heißt hier Provinz? Die Landtagswahlen am kommenden Wochenende sind unversehens nicht nur zum Referendum über eine neue Atompolitik, sondern auch über eine neue Außenpolitik geworden.

 

Warum Deutschland die Flugverbotszone unterstützen sollte

Der „Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokraten“ kritisiert die Haltung der Bundesregierung in der Libyen-Krise und lotet die Chancen des arabischen Aufstands aus:

„Mit Entsetzen nimmt der Arbeitskreis Jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten das deutsche Abstimmungsverhalten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu Kenntnis. Die Entscheidung Deutschlands sich bei der Frage der Einrichtung und Überwachung der Flugverbotszone über Libyen zu enthalten, ist skandalös genug. Noch skandalöser ist die Tatsache, dass der deutsche Außenminister nach Presseberichten versucht haben soll, weitere Mitglieder des höchsten Gremiums zur Verhinderung der Resolution zu bewegen.

Durch ihre Weigerung, die arabische Demokratiebewegung auch militärisch zu schützen, verweigert die Bundesregierung verzweifelten Menschen den Schutz vor Folter und Mord. Neben humanitären Folgen hat die Entscheidung auch Konsequenzen für die gesamte Lage im Nahen Osten, denn sie stärkt einen grausamen Gewaltherrscher, der seit Jahren aggressiv den Nahostkonflikt anheizt, Feindbilder schürt und Terroristen unterstützt.
Die Risiken eines Einsatzes über Libyen sind allen Beteiligten bewusst. Doch es gibt keinen Schutz für Menschenleben und keine Verteidigung von Menschenrechten, die ohne Risiken auskommen. Gerade im Lichte der ausgesprochenen Unterstützung seitens der arabischen Liga und weil die Entscheidung durch den multilateralen Rahmen der Vereinten Nationen legitimiert ist, bleibt das Vorgehen der Bundesregierung in dieser Frage kaum nachvollziehbar.
Erst vor kurzem ließ sich der deutsche Außenminister von der Menge auf dem Kairoer Tahiri Platz feiern. Nun kehrt er den Freiheitsaspirationen im Nachbarland Libyen den Rücken zu. Indes sind Freiheitsbestrebungen der Menschen in arabischen Staaten für sie selbst ein Anspruch und für uns alle – eine Chance. Ihren Freiheitsanspruch müssen wir begrüßen, unsere Chance müssen wir nutzen.
Weil diese Menschen einen Anspruch auf Freiheit haben, dürfen wir nicht aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen einen Schulterschluss mit Diktatoren suchen oder rechtfertigen. Einer Stabilität der Mubaraks und Ben Alis dürfen wir nicht nachweinen, stattdessen müssen wir Demokratie als natürlichen Zustand aller Völker, auch derer im Nahen und Mittleren Osten, anerkennen. Wir teilen nicht das Unbehagen unter einigen Vertretern der jüdischen Organisationen oder unter israelischen politischen Eliten angesichts der Volksaufstände in arabischen Staaten.
Wir sind der Meinung, dass die Freiheit von Menschen nicht zugunsten der regionalen Stabilität oder der Sicherheit für Nachbarstaaten geopfert werden darf. Mehr noch: Wir sehen durch die arabischen Demokratiebewegungen eine große politische und menschliche Chance: endlich könnte es möglich sein, die festverankerte Stabilität der Feindbilder und der Hetze, die seit Jahrzehnten zu Krieg und Terror im Nahen Osten führen, aufzubrechen. Gerade die Despoten der arabischen Welt haben den Frieden mit Israel durch Hetze und Unterstützung von Terrorgruppen schwerer gemacht, als er ohnehin ist. Der Konflikt mit Israel diente allen Despoten als zusätzliche Legitimation ihrer Machtansprüche. Es ist kein Zufall, dass die Hamas nach den ersten westlichen Angriffen auf die Gaddafi-Truppen aus Solidarität mit Gaddafi über Raketen auf Israel abgeschossen hat.

Wir hingegen hoffen, dass es durch demokratische Staaten mit Verfassungen, die die Menschenrechte ernst nehmen, in Israel zu einem anderen Bild von arabischen Staaten und in der arabischen Welt zu einem Umdenken gegenüber dem Westen und Israel kommt. Despoten brauchen Feindbilder zur Manipulation des Volkes. Demokratien sind zwar nicht an sich friedfertig, aber nur in einer Demokratie, wo es Meinungsfreiheit, freien Zugang zu Informationen und freie Meinungsbildung gibt, besteht die Chance, Feindbilder zu hinterfragen. So hat der Frieden eine Chance, wenn die Demokratie, bei allen Schwierigkeiten politischer und militärischer Art, eine reale Chance erhält.
Keiner kann mit Sicherheit voraussehen, ob diese Entwicklung gelingen wird, aber kaum jemand kann rechtfertigen, wenn wir aus Mutlosigkeit eine solche Entwicklung im Stich lassen. Deutschland hat die einzigartige Chance verpasst, sich als verantwortungsbewusste internationale Macht zu positionieren. (…)“