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Aus dem Deutschlandfunk vom14. 8. 2006:
Europakolumne von Jörg Lau.
Mag sein, dass der in London aufgedeckte Plan, zehn voll besetzte Flugzeuge durch Selbstmordattentate in die Luft zu sprengen, ein Fanal zum fünften Jahrestag des 11. September 2001 setzen sollte, der uns bald ins Haus steht.
Doch es gibt einen wichtigen Unterschied zur Attacke auf das World Trade Center. Er betrifft die vermutlichen Täter. Der 11. September war ein Angriff von Außen, von jungen Saudis, Ägyptern und Araber aus dem Maghreb. Anders die Londoner Verschwörung: Wie schon bei den Attacken auf U-Bahnen und Busse ein Jahr zuvor werden auch diesmal die Täter unter jungen britischen Muslimen gesucht. Die meisten der Verhafteten kommen aus Familien mit pakistanischen Wurzeln. Sie sind in England aufgewachsen und auch zur Schule gegangen, unauffällige Kinder aus der Mittelschicht. Die Nachbarn fallen aus allen Wolken.
Immer noch fällt es den Engländern schwer, die Wahrheit ins Auge zu fassen, dass zahlreiche junge britische Moslems ihre Heimat derart hassen, dass ihnen ein Massenmord im Namen des Dschihad gerechtfertigt erscheint. Und dies ist ja auch nicht leicht zu verstehen.
Denn kein anderes Land in Europa hat den Multikulturalismus so beherzt zur Maxime erklärt wie England. Es gibt überall Kopftücher – in den Schulen, im öffentlichen Dienst. Islamische Feiertage werden im Unterricht gefeiert. Antidiskriminierungsstellen arbeiten überall im Staatsauftrag gegen Rassismus. Es ist britische Staatsdoktrin, die Diversität der Ethnien und Religionen als Bereicherung zu feiern.
Es ist an der Zeit für eine schonungslose Revision dieser Politik: All diese Maßnahmen haben das Zugehörigkeitsgefühl der Muslime zu ihren Land nicht befördert. Vielleicht haben sie es sogar vermindert: In einer neuen Umfrage erklärten schockierende 81 Prozent der befragten britischen Muslime, sie seien zuerst Moslem, und nur in zweiter Linie Briten. Nicht einmal in Pakistan gibt es so hohe Werte für eine alles überragenden islamische Identität.
England hat radikale Hassprediger jahrelang gewähren lassen, die alles Westliche verteufeln und die Muslime als ewige Opfer darstellen. Integration ist in England zum Unwort geworden, mit dem man sich sofort als „Rechter“ qualifiziert. Zugleich wurde – als Wiedergutmachung für die Kolonial-Vergangenheit – die Herausbildung besonderer Gruppenidentitäten gefördert. Die Regierung hat versäumt, Druck auf die muslimischen Organisationen auszuüben, sich transparent, demokratisch und repräsentativ aufzustellen. Man hat die Einwanderer nicht als ganz normale britische Bürger ernst genommen, von denen man auch etwas fordern darf. Statt dessen hat man ihnen ein gemütliches Ghetto eingerichtet, in dem Wut und Opfermentalität gedeihen, verkleidet als islamische Sonderidentität.
England steht vor den Trümmern einer Integrationspolitik, die sich in Wahrheit als Desintegrationspolitik erweist. Deutschland hat keinen Grund zur Selbstgefälligkeit. Auch bei uns fühlen sich 66 Prozent der islamischen Bevölkerung zuerst als Moslems, dann erst als Deutsche. Wir brauchen in Zukunft etwas scheinbar Paradoxes: gleichzeitig mehr Gefühl und mehr Härte in der Integrationspolitik. Statt weiterer Placebos wie dem Gleichstellungsgesetz brauchen wir mehr alltägliche Durchlässigkeit der europäischen Gesellschaften für ihre Migranten. Zugleich muß überall in Europa deutlich mehr Druck auf die Moscheen und die Moslemorganisationen ausgeübt werden, aktiv daran mitzuwirken, dass ihre Mitglieder sich hier heimisch fühlen.