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Sderot, eine Stadt im Raketenhagel

Kobi Harush ist der Chef des Sicherheisdienstes von Sderot, der südisraelischen Stadt am nördlichen Ende des Gazastreifens. In einem früheren Leben war er der persönliche Fahrer Ariel Scharons. Er ist ein ziemlich harter Kunde, ein lakonischer Kettenraucher. Aber seine Zeit hier hat ihn sichtbar mitgenommen. Denn die Sicherheit, für die er zuständig ist, gibt es in Sderot nicht, außer in den ubiquitären Bunkern. Sie prägen das Stadtbild. Jede Bushaltestelle hat einen Bunker, jeder Kinderspielplatz. Jede Wohnung sowieso. Die Schulen haben alle schußsichere Verglasung.

Kobi Harush vor der Kulisse Sderots   

Wir treffen ihn zusammen mit Motti Numan, dem zuständigen IDF-Kommandeur der Region. Die beiden erwarten uns auf einem Hügel westlich der Stadt, von dem aus man weit in den Gaza-Streifen hinein schauen kann. Nur einen Kilometer weit entfernt verläuft die Grenze.

Sderot ist das einfachste Ziel für Raketen- und Granatenangriffe. Nachts ist die Stadt, in der etwa 20.000 Menschen leben, leicht mit bloßem Auge zu sehen. „Die schießen einfach in die Richtung des Lichts“, sagt Motti Numan. „Die Raketen sind sehr ungenau, aber es geht auch mehr um die Terrorwirkung als um konkrete Treffer.“ Ein Viertel der Bewohner hat Sderot verlassen. Übrig bleiben die, die es sich nicht leisten können, anderswo hinzuziehen.

Die Terrorwirkung des Raketenbeschusses hält weiterhin an. Kobi Harush spricht von 8.400 Angriffen auf Sderot in den letzten 10 Jahren. Besonders schlimm war es nach dem Rückzug aus Gaza, als Hunderte Raketen in einzelnen Monaten gezählt wurden. Heute ist Sderot ein vergessener Ort, selbst in Israel. Man hat sich daran gewöhnt, dass immer wieder Raketen die Stadt bedrohen. Es ist kaum noch eine Medlung wert. „Mit Ausnahme der Woche, in der die Shalit-Verhandlungen zuende gingen, haben wir keine Pause gehabt. Damals wollte die Hamas den Abschluss nicht gefährden. Seither geht es wieder auf niedrigem Niveau weiter.“

Der Bombenterror reicht, um die Stadt im steten posttraumatischen Zustand zu halten, bleibt aber unterhalb der Schwelle, ab der die Armee eingreifen und zurückschlagen müßte.  Die Vorwarnzeit für die Bewohner liegt bei 15 Sekunden vom Sirenenklang bis zum Einschlag. Kinder werden regelmäßig trainiert, innerhalb von 15 Sekunden von der Toilette in den Bunker zu rennen.

„Für uns gibt es kein Posttrauma“, sagt Kobi Harush, „nur Dauertrauma. Zwei Drittel der Kinder hier sind in einer Form therapeutischer Behandlung.“ Kein anderes Land würde sich so etwas gefallen lassen, sagt er resigniert. Dass der Beschuss nach dem Rückzug weiterging, spricht für ihn dafür, dass Hamas auch Sderot „befreien“ will, wie ganz Israel.

Hinter dem Hügel beginnt Gaza.                Fotos: J.Lau

Kobi erzählt von seinem palästinensischen Freund Said, den er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat. Während der israelischen Militäraktion „Gegossenes Blei“ hatte er sich gefragt, wie es Said wohl ginge. Er hatte noch eine Nummer, also rief er an. Said war am Telefon, er sei unversehrt. Weil er weder zu Hamas noch zu Fatah gehörte, ginge es ihm allerdings schlecht. Kobi veranstaltete unter Freunden eine Sammlung für Said, man übergab ihm das Geld am Checkpoint Eretz: „Wir sind früher in Gaza einkaufen gegangen, oder zum Baden an den herrlichen Strand – einen der schönsten Strände in der ganzen Region. Wieso machen die nichts draus? Das könnte ein Paradies sein.“

Motti Numan ergänzt verschmitzt, Juden hätten an den Strand längst ein Casino gebaut: „Aber diese Leute schießen mit Raketen sogar noch auf das Kraftwerk in Ashkelon, das Strom auch für sie erzeugt – weil es mit seinen Kaminen ein gutes Ziel abgibt. Das ist doch irre.“

 

Israel im „perfekten Sturm“ – ein Gespräch mit einem Oberst

Knapp eine Woche war ich in Israel und der Westbank unterwegs, um mit besatzungskritischen NGO’s, Ex-Soldaten, Offizieren und Intellektuellen über die Lage im Lande zu sprechen. Eine größere Reportage wird folgen.

Hier werde ich in loser Folge einige Notizen von meinen Gesprächen veröffentlichen. Den Anfang macht Colonel Avi Gil, den ich vorgestern treffen konnte. Dank an den IDF-Sprecher Arye Sharuz Shalicar, (der eine eigene Story verdient hätte), dies ermöglicht zu haben.

Zwanzig Grad im südlichen Israel, ein herrlicher Sonnentag Anfang Februar, als wir die Kaserne im Herzen von Beer Sheva betreten – anderthalb Autostunden südlich von Tel Aviv. Avi Gil, ein drahtig–athletischer, nicht sehr großer Mann mit einem graugesprenkeltem Bürstenhaarschnitt, leitet von der Wüstenstadt aus das Südliche Kommando der Israelischen Streitkräfte.
Der Oberst – noch keine vierzig Jahre alt – hat seit seinem Eintritt in die Armee 1990 eine steile Karriere gemacht, die sicher noch nicht am Ende ist: Fallschirmjäger, Kompanieführer in der Offizierschule, Kommandeur der Spezialkräfte während der Operation „Defensive Shield“ in der West Bank (während der Terrorwelle der Zweiten Intifada), zwischenzeitlich Verbindungsoffizier zu den Marines in den USA, schließlich ab 2009 Brigadekommandeur in der West Bank – in anderen Worten: er war damals so etwas wie der heimliche Herrscher in den besetzten Gebieten.
Die Koordination der Armee mit der Palästinensischen Autonomiebehörde war dort sein tägliches Brot. Er habe über die Jahre gelernt, den meisten auf der anderen Seite zu trauen, sagt er. „Den meisten!“, betont er. Nach dem Blutbad der Zweiten Intifada habe es ein gemeinsames Interesse an Sicherheit und Stabilität gegeben, das bis heute bestehe. Er zeigt mir in seinem Büro eine Bildcollage, die man ihm zum Abschied aus der Westbank mitgegeben hat. Da sieht man Avi Gil Tee Trinken mit palästinensischen Sicherheitskräften, Politikern, Beamten – bei allen möglichen Gelegenheiten wie Einweihungen und sonstigen Feiern: „Hätten Sie mich vor zehn Jahren gefragt, ob so etwas möglich ist, hätte ich Sie für verrückt gehalten.“
Die Lage habe sich in der Westbank sehr verbessert, sowohl was die Sicherheit angeht – Israels Hauptsorge –, als auch die Lebensumstände der palästinensischen Bevölkerung. Avi Gil, der nur wenige Jahre zuvor Spezialkräfte geleitet hatte, die Terroristen in der Westbank jagten, hatte am Ende seiner Zeit als Kommandeur der Ephraim Brigade nahezu freundschaftliche Verhältnisse zu Offizieren der PA. Am Ende konnte er Städte in den besetzten Gebieten sogar ohne schutzsichere Weste besuchen: „Mein Konzept lautet: Du darfst die Realität nicht nur durch das Visier deines Gewehrs wahrnehmen.“

Ein sonniger Tag an der Grenze zu Gaza, in der Pufferzone vor der Sperrmauer. Von dem höher gelegenen Terrain gegenüber haben palästinenische Sniper immer wieder auf einen nahen Kibbutz geschossen.

 

Trotzdem ist er der Meinung, dass es noch nicht an der Zeit ist, sich aus der Westbank zurückzuziehen. Die PA bemühe sich, und sie unterstütze den Terror nicht mehr, „aber wir sind noch nicht an dem Punkt, an dem wir die Sicherheit Israels in deren Hände legen können“.
Der Oberst erwähnt hier den Mord an der Familie Fogel in der Siedlung Itamar, der sich bald jähren wird. Die gesamte Familie, inklusive eines schlafenden Babys, war im März letzten Jahres von palästinensischen Terroristen ausgelöscht worden. Im Westen hat dieser Vorfall nicht viel Aufsehen erregt wegen des Arabischen Frühlings und Fukushima. In Israel wird es immer wieder erwähnt, wenn man über die Brüchigkeit der klage spricht. Gil erinnert sich noch mit Grauen an der Anruf, der ihm um halb Eins nachts aus dem Bett holte.
Und dann jedoch benutzt er ein erstaunliches Bild: „Wir müssen uns langsam vorwärts bewegen. Wir sind wie ein Paar nach einer schlimmen Krise. Wir müssen erst einmal wieder Vertrauen aufbauen.“
Ein Paar? Von Regierungspolitikern würde man diese Sprache nicht hören. Wie so oft, sind Soldaten pragmatischer und unideologischer als die Lautsprecher der großen Politik.
Gil ist dennoch sehr vorsichtig, trotz der Wandlungen, die er in seinem eigenen (Soldaten-)Leben mitgemacht hat. Und damit ist der Oberst, wie mir scheint, nicht weit entfernt von der Einstellung des Durchschnittsisraelis: Man will den Friedensprozess gerne vorwärts gehen sehen. Aber zur Zeit überwiegt (wieder) das Gefühl, in einer absolut unberechenbaren und hoch entflammbaren Lage zu sein. Nicht nur wegen der Eskalation mit Iran. Das gilt auch für die Lage in Israels Süden, dessen Sicherheit in den Händen von Avi Gil ist.
„Unsere Nachbarschaft ist mitten in einem perfekten Sturm. Die erste Böe dieses Sturms haben wir 2006 in Gaza erlebt, als Hamas in einem Coup die Macht übernahm.“ Hamas, sagt Gil, sei in einer Identitätskrise, die sich in einem Machtkampf zwischen der politischen Führung außerhalb Gazas und dem Kern der militärischen und politischen Führung in Gaza ausdrücke. Hamas müsse sich entscheiden, ob sie auf Erfolg bei Wahlen setze wie die Muslimbrüder in Ägypten und Tunesien, oder weiter auf Dschihad. Zur Zeit sei die Führung unter Khaled Meschal außerhalb Gazas eindeutig geschwächt, auch durch den Verlust der syrischen Basis in Damaskus. Ismail Hanije, der politische Führer aus Gaza, sympathisiere mit der Idee, der neue große Repräsentant nach Außen zu werden, wobei ihm seine neuen Reisemöglichkeiten helfen. Dass Hamas sich wegen des Erfolgs des Muslimbrüder nach Ägypten orientiere, sei im Prinzip nicht schlecht für Israel, es könne auch zu einer größeren Berechenbarkeit führen.
Die militärische Führung unter Leuten wie Ahmad Jabari setze aber naturgemäß auch den Dschihad zur „Befreiung ganz Palästinas“ (worunter das heutige Israel inklusive Westbank verstanden wird). Aber man halte sich derzeit zurück, um in Ruhe die militärischen Kapazitäten wiederaufzubauen, die Israel in „Cast Lead“ vernichtet hat. Die florierende Tunnelwirtschaft mache das möglich. Unterdessen halten mit Duldung der Hamas konkurrierende Gruppen den militärischen Dschihad auf kleiner Flamme am Leben.
Ich frage den Oberst, ob Hamas denn tatsächlich die Kontrolle über alle militanten Gruppen habe: „Zu achtzig Prozent ist es direkte Kontrolle, zu zehn Prozent der Unwille zur Kontrolle und bei weiteren zehn Prozent keine Kontrolle durch Hamas.“ In jedem Fall sei Terror auf niedrigem Niveau – gerade so, dass eine israelische Gegenoperation zur Zeit unverhältnismäßig wirken würde – im Moment ideal für Hamas. Und für ihn bleibe Hamas als absolute Regierungsmacht die verantwortliche Adresse, ganz egal wer gerade die Raketen abschieße.
Der Oberst macht sich große Sorgen um den Sinai, der zum gesetzlosen Niemandsland wurde, seit Ägypten mit sich selbst beschäftigt ist. Fünf Beduinenstämme kontrollieren das gesamte Gebiet mit ungeheurer Brutalität (vor allem gegen afrikanische Migranten, die von dort nach Israel einwandern wollen.) Der Sinai sei heute ein ideales Aufmarschgebiet für Terrorgruppen, wie sich im letzten August bei den Attacken nahe Eilat gezeigt habe.
Israel werde alles tun, um den Friedensvertrag mit Ägypten am Leben zu erhalten. Aber die Herausforderung für Israel liege darin, dass „wir uns von der Situation einer Friedensgrenze hin bewegen zu einer Grenze mit einem Friedensarrangement zwischen zwei Staaten und Terroraktivitäten“. Die Lage derzeit sei paradox: „Es ist sehr viel friedlicher als vor wenigen Jahren, aber wenn nur eine Rakete einen Kindergarten trifft, dann halte ich es für undenkbar, dass wir hier einfach nur sitzen bleiben. Auch die permanente Aufrüstung in Gaza könne dazu führen, dass man handeln müsse, um eine ‚breakout capability‘ zu verhindern – eine Aufrüstung mit Waffen, die den Status Quo verändern, wie etwa Langstreckenraketen, die weite Teile Israels erreichen können. „So könnten wir uns – ohne den Willen zu einer weiteren militärischen Operation – in einer Lage vorfinden, die sie unvermeidlich macht.“ Ein amerikanischer Journalist hat ihn vor einiger Zeit gefragt, was er bevorzugen würde: Den Status Quo erhalten, militärisch eingreifen oder sich zurückziehen? Na was wohl, habe er geantwortet. „Ich habe Zwillinge, und ich hätte gerne, dass meine Jungs nach der Schule einfach ein Studium anfangen können wie junge Leute überall auf der Welt – dass sie nicht mit 18 gleich zum Militärdienst müssten. Aber danach sieht es leider nicht aus.“

 

Abbas: „Nie wieder bewaffneter Kampf!“

Am letzten Donnerstag konnte ich (zusammen mit meiner Kollegin Alice Bota) in Berlin den Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, interviewen. Abbas drängte auf eine Fortsetzung der Sondierungsgespräche mit Israel. Heute sieht es so aus, als seien diese gescheitert.

Das war, offen gestanden, zu erwarten gewesen. Unser Interview konzentriert sich denn auch auf Abbas‘ Einschätzung der Wirkung des arabischen Frühlings auf die Palästinenser, die Chancen des politischen Islams, auf seine UN-Initiative, seine Bilanz des „bewaffenten Kampfes“ und die Frage von Heimatgefühlen und Rückkehrrecht. Abbas wirkt aufgeräumt an diesem Donnerstag, aber auch ein wenig melancholisch.

Aus der ZEIT von heute, Nr. 5, S. 8

DIE ZEIT: Herr Präsident, wir haben 2011 ein Umbruchjahr für die arabischen Länder erlebt. Verstehen Sie, dass Ihr israelischer Nachbar mit Angst auf die neue Lage blickt?
Mahmud Abbas: Ich verstehe die Angst der Israelis sehr gut, es ist eine sehr schwierige Situation für ihr Land. Aber was heute in den arabischen Ländern passiert, sollte Israel zur Eile drängen, mit uns Frieden zu schließen. Keiner weiß, was später kommt. Keiner weiß, was der Arabische Frühling bringen wird.
ZEIT: Für die Palästinenser hat der Arabische Frühling zunächst nur Hoffnung gebracht. Was ist daraus geworden?
Abbas: Was die palästinensische Sache angeht, hat das revolutionäre Jahr keine Veränderung gebracht. Aber bitte verstehen Sie, dass ich mich nicht in die inneren Angelegenheiten unserer Nachbarländer einmischen kann, weil dort viele palästinensische Flüchtlinge leben. Ich will deren Wohl nicht gefährden.
ZEIT: Sind die Palästinenser am Ende die großen Verlierer des Arabischen Frühlings?
Abbas: Wenn die Menschen auch bei uns einen Regimewechsel wollen, können sie den jederzeit haben, denn wir glauben an Demokratie. Ich würde mich mit Vergnügen dem Volkswillen beugen. Bei den Demonstrationen im Westjordanland und in Gaza gab es aber nur drei Slogans: »Nieder mit der Besatzung«, »Nein zur nationalen Teilung« und »Ja zur Versöhnung zwischen den palästinensischen Fraktionen Fatah und Hamas«.
ZEIT: Im Mai soll es Wahlen geben. Sie stehen nicht für eine weitere Amtszeit zur Verfügung?
Abbas: So habe ich es gesagt, und ich stehe dazu. Ich hoffe sehr, dass wir am 4. Mai unsere Wahlen abhalten können. Dann werde ich abtreten.
ZEIT: Voraussetzung dafür ist die Versöhnung zwischen Ihrer Fatah und Hamas in Gaza, und die kommt nicht voran.
Abbas: Die Versöhnung kommt sehr wohl voran. Es gibt zwischen dem Westjordanland und Gaza keine Auseinandersetzungen mehr. In Gaza sind noch militante Gruppen jenseits von Hamas aktiv, die manchmal Raketen auf Israel schießen. Hamas versucht, sie unter Kontrolle zu bringen. Wir alle wollen Wahlen als Abschluss der Versöhnung. Wer danach regiert, das ist allein Sache des palästinensischen Volkes.
ZEIT: In der arabischen Welt erleben wir Wahlsiege des politischen Islams. Droht das auch Palästina?
Abbas: Hamas ist wichtig, aber ich glaube nicht, dass die Palästinenser mehrheitlich für islamische Parteien stimmen werden. Wir sind sehr viel säkularer als unsere Nachbarn.
ZEIT: Das ist die Weltsicht Ihrer Generation, der säkularen Nationalisten, die jetzt bald abtreten wird.
Abbas: Die Gesprächsbereitschaft der Palästinenser hängt nicht an meiner Person. Der Friedensprozess ist nicht die private Politik von Mahmud Abbas. Er ist in der Fatah tief verwurzelt. Unsere gesamte Führung ist moderat und säkular.
ZEIT: In der Hamas sind die Moderaten auf dem Rückzug. Der eher pragmatische Chef Chaled Meschal, Ihr Partner bei den Versöhnungsgesprächen, will nicht wieder antreten. Sie befürchten nicht, dass auch in Palästina eine neue, radikalere Generation die Macht übernimmt?
Abbas: Ich hoffe, dass es nicht so kommt.
ZEIT: Im Herbst haben Sie bei den Vereinten Nationen die Aufnahme Palästinas als Vollmitglied beantragt. Warum dieser Schritt?
Abbas: Ein Jahr zuvor hatten wir versucht, die Verhandlungen wiederzubeleben. Das scheiterte trotz der Bemühungen des Quartetts, bestehend aus den USA, der EU, Russland und den Vereinten Nationen. Wir hatten angekündigt, uns in diesem Fall an die UN zu wenden. An wen auch sonst? Aber das bedeutet doch nicht, dass wir nicht mehr verhandeln wollen! Alle Kernprobleme eines Friedensschlusses – Grenzverlauf, Sicherheitsfragen, der Status Jerusalems und die Flüchtlingsfrage – müssen natürlich zwischen uns und den Israelis direkt besprochen werden. Nur so wird es Frieden geben. Aber wir mussten Bewegung in den Prozess bringen, denn der war seit dem Amtsantritt von Benjamin Netanjahu blockiert.
ZEIT: Die Israelis betrachten Ihren Gang zu den UN als einseitigen Schritt.
Abbas: Wieso? Israel verletzt durch seine Siedlungspolitik internationale Verpflichtungen, die es selbst unterschrieben hat. Israel stellt sich damit gegen die gesamte internationale Gemeinschaft. Wir aber suchen internationale Unterstützung für unsere Anerkennung.
ZEIT: Die israelischen Behörden haben Ihnen kürzlich ein Visum ausgestellt, mit dem Sie das Westjordanland verlassen können und das nur noch zwei Monate gültig ist. Ist das die Strafe für den Gang zu den UN?
Abbas: Ich sehe darin eine Demütigung. Ich hatte früher einen VIP-Pass. Jetzt bekomme ich einen vorläufigen Erlaubnisschein mit dem Vermerk, er sei »trotz Sicherheitsbedenken« ausgestellt worden. Man sagt, ich führe einen »terroristischen, diplomatischen und juristischen Krieg« gegen ­Israel. Was soll ich machen? Ich lebe unter der Besatzung. Ich hoffe, dass die Israelis ihre Einstellung ändern, denn ein Scheitern unserer Gespräche wäre ein Desaster für die ganze Region.
ZEIT: Ist ihr UN-Projekt gescheitert? Ihr Antrag hatte im Sicherheitsrat keinen Erfolg, und das Verhältnis zu Israel ist noch schwieriger ­geworden.
Abbas: Das ist noch nicht vom Tisch. Wir forcieren unser Anliegen derzeit nur deshalb nicht, weil wir neuen Gesprächen eine Chance geben wollen. Aber wir werden bei den UN weiter­machen, wenn es keine ernsthafte Gespräche mit Israel gibt.
ZEIT: Was sind Ihre Forderungen?
Abbas: Die Israelis müssen endlich Vorschläge bezüglich der Grenzen und der Sicherheit auf den Tisch legen, und sie müssen während der Verhandlungen den Siedlungsbau beenden. Das sind keine einseitigen Forderungen der Palästinenser. Das Nahostquartett verlangt das Gleiche. Wenn es dazu nicht kommt, werden sich am 29. Januar unter der Führung von Katar die Außenminister von 18 arabischen Staaten treffen, um die nächsten Schritte zu besprechen.
ZEIT: Hat die Zweistaatenlösung überhaupt noch eine Chance?
Abbas: Ich fürchte, sie wird seit Netanjahus Amts­antritt vor zwei Jahren zu­sehends unwahrschein­licher. Wir haben den historischen Fehler gemacht, dem Teilungsplan von 1947 nicht zuzustimmen. Darauf folgten Krieg und Vertreibung, und das paläs­tinensische Gebiet schrumpf­te weiter. Der Krieg 1967 brachte die Besatzung. Seither wachsen die Siedlungen und machen einen funktio­nierenden, zusammenhän­gen­den Staat zunehmend unmöglich. Es wird immer schwerer, zu unterscheiden, was unser Land ist und was ihres. Wenn es so weitergeht, werden sie eines Tages in meinem Büro in Ramallah einen Vorposten errichten.
ZEIT: Was spricht für Sie gegen die Einstaaten­lösung, also ein Israel, in dem die Palästinenser eines Tages die Mehrheit stellen würden?
Abbas: Wir wollen das nicht. Wir streben zwei Staaten an, Seite an Seite, in Stabilität und ­Sicherheit. Und wir beanspruchen nicht mehr als 22 Prozent des historischen Palästinas. In dem Moment, wo wir eine Einigung mit den Israelis verkünden, werden 57 islamische und arabische Staaten Israel anerkennen. So steht es in der arabischen Friedensinitiative. Israel kann dabei so viel gewinnen! Aber die Führung in Jerusalem sieht das nicht. Wir sind sogar bereit, die Nato auf unserem Territorium stationieren zu lassen! Ich bin mir bewusst, dass die Sicherheit in der Region für Israel eine hoch sensible Frage ist, und ich wollte mit dem Nato-Vorschlag ein Zeichen setzen. Ehud Olmert, der frühere israelische Premier, hat diesen Vorschlag akzeptiert. Netanjahu hat Nein dazu gesagt. Ich habe ihm ent­gegengehalten, dass die Nato seine Alliierte ist, nicht unsere.
ZEIT: Die Israelis sind skeptisch, weil aus Gaza immer noch Raketen auf Israel fliegen.
Abbas: Wenn wir die Versöhnung mit Hamas abschließen, wird es an dieser Front ruhig werden.
ZEIT: Können Sie das garantieren?
Abbas: Ich garantiere dafür. Ich habe in meiner Amtszeit bewiesen, dass ich Wort halte. In den letzten fünf Jahren hat es im Westjordanland keinen einzigen Vorfall gegeben, der Israels Sicherheit betrifft. Die israelischen Politiker verleugnen das. Aber die israelischen Generäle und Geheimdienstler werden Ihnen sagen: Hut ab vor Abu Masen, er macht einen exzellenten Job!
ZEIT: Vor drei Jahren hatten Sie mit Ehud ­Olmert alles bis ins Kleinste verhandelt. War es ein Fehler, dass kein Friedensvertrag abgeschlossen wurde?
Abbas: Ich stimme Ihnen zu: Wir hatten alle Kernprobleme besprochen. Wir gingen sogar weiter: Ein Vertrag hätte das Ende des Konflikts bedeutet. Wir waren einem Abschluss sehr nahe, doch dann musste Olmert aus innenpolitischen Gründen zurücktreten. Es folgten Wahlen, und Netanjahu kam ins Amt. So haben beide Seiten eine große Chance verpasst. Wir haben uns geschworen, nie wieder eine Gelegenheit verstreichen zu lassen.
ZEIT: Sie sagen, die Regierung Netanjahu zeige kein Interesse an Gesprächen. Warum dann überhaupt weiterverhandeln?
Abbas: Wir haben keine andere Wahl. Wir werden nie wieder zum bewaffneten Kampf zurückkehren! Niemals, niemals! Es wird nur fried­lichen Widerstand gegen die Besatzung geben.
ZEIT: Ist das Ihre Folgerung aus der blutigen »zweiten Intifada« mit etlichen Selbstmordattentaten zwischen 2000 und 2005?
Abbas: Das darf sich nie wiederholen. Wir wollen Frieden. Wir übernehmen deshalb Ver­antwortung für die Sicherheit Israels: Fünf Jahre ohne jeden Zwischenfall! Warum versteht die andere Seite nicht, was es bedeutet, dass wir ­Palästinenser de facto die israelischen Grenzen bewachen?
ZEIT: Sie schließen also eine neue Welle der Gewalt aus?
Abbas: Ich sehe sie derzeit nicht, aber wenn die Menschen verzweifelt sind, kann die Lage sehr schwierig werden.
ZEIT: Es scheint, als beendeten Sie Ihre politische Karriere mit einem pessimistischen Gefühl.
Abbas: Unglücklicherweise ist das wohl so. Ich habe fünfzig Jahre diesem Kampf um eine Heimat gewidmet. Nun bin ich ein alter Mann.
ZEIT: Wo ist für Sie Heimat?
Abbas: Heute ist Ramallah meine Heimat. Aber ich habe noch Erinnerungen an Safed, die Stadt im Norden Israels, aus der wir wegen des Krieges 1948 fliehen mussten. Danach war ich nur einmal wieder da. Das war 1995. Ich hatte zehn Minuten, es war sehr emotional. Schließlich war es meine Stadt, dort stand das Haus meiner Familie. Ich habe gelernt, die Geschichte zu akzeptieren, aber es ist schwierig. Ich war 13, als wir weggingen. Ich kann mich an alles erinnern, Häuser, Geräusche, Gerüche, an jeden Stein.
ZEIT: Werden die palästinensischen Flüchtlinge in den Lagern Ihre Sicht teilen und verzichten?
Abbas: Ich spreche nur für mich, nicht für die fünf Millionen Flüchtlinge. Aber ich weiß, dass viele von ihnen auf ihr Rückkehrrecht verzichten würden. In dem arabischen Friedensplan haben wir festgeschrieben, dass wir eine einvernehmliche Lösung des Flüchtlingsproblems wol­len. Kann ich den Israelis denn etwas aufzwingen? Natürlich nicht! Wir hatten mit Olmert ein Übereinkommen erzielt. Mancher fürchtet immer noch, die Palästinenser würden nach einem Friedensabkommen weitere Ansprüche stellen. Darum habe ich das Ende des Konflikts und damit das Ende jeglicher Forderungen in die Verhandlungen aufgenommen. Niemand hat dann noch das Recht, weitere Ansprüche zu stellen. Ich will nicht zurück nach Safed!

Die Fragen stellten Alice Bota und Jörg Lau

 

Begegnung mit einem israelischen General

Letzte Woche Donnerstag hatte ich Gelegenheit, Mahmud Abbas in Berlin zu interviewen (mehr dazu morgen in der ZEIT). Am Abend desselben Tages konnte ich auf Einladung der israelischen Botschaft den Minister und ehemaligen Generalmajor Yossi Peled kennenlernen. Peled war nach Deutschland gekommen, um für die israelische Regierung am Gedenken an die Wannseekonferenz teilzunehmen. An einem Tag konnte ich so unmittelbar jeweils die palästinensische und die israelische Sicht auf den Nahostkonflikt erleben.

Peled ist auch mit 71 Jahren ein beeindruckender Mann, ein kluger, humorvoller und charismatischer Politiker, der den  Mainstream im Likud auf eine sehr sympathische und einnehmende Weise vertritt. So einen Außenminister könnte Israel brauchen (und vielleicht war Peled ja auch deshalb in Berlin).

Aber mich hat er nicht nur als Politiker beeindruckt, sondern mehr noch durch seinen Umgang mit einer Vita voller dramatischer und tragischer Wenden. Beim Essen erzählt er davon, manchmal geschützt durch eine Ironie und einen Sarkasmus, der einen zucken ließ. Peleds Eltern trugen den Namen Mendelevitch und lebten in Warschau. Was genau der Vater beruflich machte, hat Yossi, eigentlich Jefke (ein Kosename für polnisch Jozef) nie erfahren – womöglich Diamantenhandel.

Jedenfalls gelang es den Mendelevitchs, vor der deutschen Besatzung nach Antwerpen in Belgien zu fliehen. 1941, als die Mordmaschine des Nationalsozialismus näherrückte, gab man die drei Kinder, darunter den 6 Monate alten Jefke, zu einer belgischen Familie. Kurz darauf wurden die Eltern Mendelevitch nach Auschwitz deportiert. Der Vater wurde ermordet, die Mutter schaffte es irgendwie zu überleben.

Unterdessen wuchs Peled im Glauben auf, er sei katholisch. Er lernte, vor dem Schlafen zu beten, er ging sonntags in die Messe. „Ich hatte eine schöne Kindheit, viele Freunde und genug Spielzeug“, erzählte er, „bis die Juden in mein Leben kamen und alles ruinierten.“ Eines Tages rief der Mann, den er bis dahin für seinen Vater hielt, ihn herbei und eröffnete ihm ohne Vorwarnung, dass seine wahre Mutter vor ihm stehe – „eine graue, alte Frau“, und er übrigens Jude sei. Peleds Mutter, gezeichnet vom Lager, war nicht in der Lage, sich um ihn zu kümmern und brachte ihn in ein Waisenhaus für jüdische Kinder in Belgien. „Da lag ich abends im Bett und betete heimlich zu Jesus, dass er mich hier heraus holen sollte.“ 1949 wurde Peled über Frankreich nach Israel gebracht. Ein Onkel brachte ihn zu einem Kibbutz im Süden Israels, wo er aufwuchs. Der Kibbutz lag in einer umkämpften Zone und wurde im Unabhängigkeitskrieg oft von Ägypten aus angegriffen.

Yosef, wie er jetzt hieß, wurde dort von den anderen Kindern wegen seines belgischen Akzents gehänselt. Er erzählte nicht, dass sein Vater in Auschwitz ermordet worden war – weil er sich dafür schämte. Er behauptete statt dessen, der Vater sei beim Warschauer Aufstand umgekommen. Er blieb zunächst widerwillig nach seinem Grundwehrdienst in der israelischen Armee, fand dort aber schließlich eine Heimat und Kameraden und nannte sich bald  Yossi Peled (hebräisch: Stahl).

Im Sechstagekrieg 1967 war er Yitzhak Rabin sehr nahe, dem Stabschef der Armee; er heiratete eine Frau, die er in der Armee kennengelernt hatte und stieg im Offizierskorps auf. 1987, da war Rabin Verteidgungsminister, wurde General Peled gebeten, Minister Rabin auf einer Deutschlandreise zu begleiten. Er wollte nicht mitkommen. Erst als Rabin ihm darlegte, die Anwesenheit eines Überlebenden und Sohnes von Ermordeten in israelischer Uniform auf deutschem Boden sei der beste Beweis dafür, dass „wir gewonnen haben“, sagte er zu. Dennoch war es ein Schock, die deutschen Uniformen zu sehen und die Nationalhymne zu hören. „Ich habe mich gefragt, was mein Vater wohl dazu sagen würde, dass sein Sohn in Deutschland die Fahne grüßt“, sagte Peled. Als Rabin in Dachau eine Rede hielt und dabei sagte: ‚Ich möchte Ihnen sagen, dass wir gewonnen haben‘, mußte General Peled weinen.

Er wurde Kommandeur der nördlichen Region – zuständig für die Grenzen zum Libanon und zu Syrien, bevor er seine militärische Karriere aufgab und erst in die Wirtschaft, dann in die Politik ging. Benjamin Netanjahu hat ihn als Minister ohne Geschäftsbereich in sein Kabinett geholt. Er koordiniert derzeit das weltweite Gedenken an den Eichmann-Prozess.

Peled ist mit seiner Vita, für die er sich anfangs geschämt hat, zu einem Symbol in Israel geworden. Der Historiker Tom Segev erzählt davon in seinem Buch „The Seventh Million“.

In Berlin sagte Peled, für ihn sei die Konsequenz aus der Geschichte seiner Familie das „Nie wieder“. Seine Söhne sollten nicht erleben, was ihm geschehen sei. Israels erste Pflicht sei nicht Frieden, sondern das Fortbestehen in einer feindlichen Welt. „Ich habe in viel zu vielen Kriegen gestanden. Und 1973 waren wir sehr nahe daran, alles wieder zu verlieren. Die Geschichte hat den Juden nach zwei Jahrtausenden das Geschenk eines Staates gemacht. Es wird nie wieder kommen, wenn wir es verspielen.“

Peled zieht daraus eine Lehre der Härte und Verteidigungsbereitschaft. Anders als manche in seinem politischen Lager sieht er zum Friedensschluss mit den Palästinensern und zu einer Zweistaatenlösung keine Alternative. Wann die Zeit so weit sei, ließ er offen. Dass er derzeit keine günstigen Vorzeichen sieht, konnte man ahnen. Die Unsicherheit in der Region treibt ihn um, der mögliche Verlust aller Konstanten, die Israels brüchigen Frieden garantieren.

Minister Peled sagte, es würde ein besonderer Moment für ihn werden, als Vertreter der Regierung Israels an dem Gedenken der Wannseekonferenz teilzunehmen – „in der Stadt, in der diese Männer vor siebzig Jahren die Entscheidung getroffen haben, meine Familie auszurotten“.

Ich hätte gerne erfahren, wie es Minister Peled am Tag darauf ergangen ist, in dieser Villa am Wannsee.

 

 

 

Antisemitismus bei einer Feier der Fatah

Dieser Mufti muss entlassen werden.
Er predigt seinen Hass bei einer offiziellen Feier zum 47. Jahrestag der Gründung der Fatah (der Partei von Arafat und Abbas, die auch die Palestinian Authority führt). Und darüber hinaus muss der religiös begründete Antisemitismus von den Fatah-Verantwortlichen bekämpft werden. Unfasslich auch der Moderator, der von den Juden als den Nachkommen von Affen und Schweinen spricht:

 

Deutschland braucht eine andere Nahostpolitik

Mein Stück aus der ZEIT von heute, S.4:

Eigentlich ist es ein überraschend trockener Satz für ein Herzstück der deutschen Nachkriegspolitik. Vielleicht muss das so sein, weil dieses Thema so schnell überwältigt. Der ganze Horror, die Millionen Toten, der Hass – alles transformiert und aufgehoben in einer ziemlich bürokratischen Formel: Die Sicherheit des jüdischen Staates sei »Teil der deutschen Staatsräson«. Der Satz war einmal ein Wall gegen den israelkritischen Mainstream hierzulande. Angela Merkel sagt ihn immer wieder, und die Opposition nickt dazu, mittlerweile bis hinein in die Partei Die Linke. Die Koppelung von Deutschlands Staatsräson und Israels Sicherheit als Konsequenz des Holocaust ist mittlerweile selbst Mainstream geworden – eine der wenigen unstrittigen Maximen der deutschen Außenpolitik.

Doch was so evident klingt, ist in Wahrheit so offensichtlich nicht. Was die Pflicht zur Solidarität mit Israel heute gebietet, ist fraglich geworden. Noch in dieser Woche kann es im Sicherheitsrat zur Abstimmung über die Frage kommen, ob Palästina in die Vereinten Nationen aufgenommen werden soll. Zugleich kocht der Atomkonflikt mit Iran hoch, und selbst der besonnene israelische Präsident Schimon Peres sagt, ein Krieg mit Teheran sei »wahrscheinlicher geworden« als eine diplomatische Lösung.
Zwei Prioritäten prägen die deutsche Politik gegenüber Israel. Der jüdische Staat muss gegen das antisemitische Regime in Iran geschützt werden, das nach dem neuesten IAEO-Bericht ein klandestines Atomwaffenprogramm verfolgt. Und die Zweistaatenlösung bleibt die einzige Hoffnung auf einen gerechten und dauerhaften Frieden im Nahen Osten. Folgt aus dem Ersten nun, dass man die Jerusalemer Gedankenspiele über einen Krieg gegen Iran unterstützen sollte? Und aus dem Zweiten, dass Deutschland gegen die Aufnahme Palästinas in die Vereinten Nationen votieren muss?

Die deutsche Politik gegenüber Iran und Palästina muss sich auf einen neuen Stand bringen. Es gibt eine verborgene Parallele zwischen beiden Konflikten: Sie eskalieren, weil je eine Seite das Vertrauen in die diplomatische Lösung verloren hat. Israel schlägt ja gerade darum Lärm, weil es angesichts der neuen Berichte nicht glaubt, dass Sanktionen und Verhandlungen Irans atomare Bewaffnung verhindern. Die Palästinenser wiederum glauben nicht mehr, dass die hergebrachte Nahostdiplomatie ihnen die Staatlichkeit bringt, die man ihnen schon so lange versprochen hat.
Die israelische Sorge, dass das Teheraner Regime sich mit der Bombe als Hegemonialmacht unangreifbar machen will, ist berechtigt. In dieser Sorge liegt aber auch das Zugeständnis einer gewissen Rationalität. Denn einem Regime, dem an Selbsterhaltung und Machtentfaltung liegt, kann man durch Eindämmung, Isolation und Abschreckung seine Grenzen aufzeigen.

Iran steht schon jetzt nicht gut da. Seine Wirtschaft ächzt unter den Sanktionen. Die Führung ist gespalten, die Jugend entfremdet. Das Land ist mit der Türkei über Kreuz, mit den Saudis sowieso. Demnächst könnte es Assads Syrien verlieren und damit auch einigen Einfluss auf die radikalislamischen Milizen Hamas und Hisbollah. Die Welle des Freiheitswillens in der Region hat den tyrannischen Charakter des Regimes abermals offengelegt.
Iran ist isoliert und verwundbar. Konsequentere Sanktionen wären für das angeschlagene Regime gefährlicher als ein Militärschlag, der alle – auch die Opposition – in die Solidarität mit den Herrschenden zwingt. Gerade Deutschland hat noch viel Spielraum bei weiteren Sanktionen. Im letzten Jahr aber stieg das Handelvolumen mit Iran sogar um 11,6 Prozent auf über 2,6 Milliarden Euro. Deutsche Firmen sind im Energiesektor aktiv, der Lebensader des Regimes. Die Bundesregierung kann das einschränken, es würde Iran schmerzen. Sind wir bereit, die Kosten zu schultern? Sie wären gewiss geringer als die eines regionalen Krieges.

Man kann die Zweifel der Israelis am Ernst der bisherigen Irandiplomatie verstehen. Sie werden von ihren Kriegsplänen nicht lassen, solange diese fortdauern. Säbelrasseln kann der Diplomatie sogar helfen. Die iranische Bedrohung darf aber kein Anlass sein, Verhandlungen mit den Palästinensern zu meiden. Im Gegenteil, sie ist ein Grund mehr, den Konflikt zu beenden, mit dem der iranische Präsident so gern zündelt.

Die israelische Regierung erwartet Solidarität von Deutschland. Doch in Berlin machen sich Zweifel breit – bis hinauf in die siebte Etage des Kanzleramts, wo Angela Merkel residiert –, ob Solidarität mit dieser Regierung nicht immer öfter in Widerspruch gerät zur Solidarität mit Israel. In der letzten Woche ist – überdeckt von der Euro-Krise – etwas Bemerkenswertes geschehen: Angela Merkel hat durch ihren Sprecher Steffen Seibert einen sofortigen Stopp der israelischen Siedlungsaktivitäten gefordert. Der Siedlungsbau in Jerusalem und dem Westjordanland sei »völkerrechtswidrig« und »durch nichts zu rechtfertigen«. Noch keine deutsche Regierung hat gegenüber Israel derart drastische Worte gewählt. Die Öffentlichkeit sieht nur einen Bruchteil der Verbitterung. Merkel kann gar nicht zeigen, wie enttäuscht sie wirklich von den israelischen Freunden ist. Das ganze Jahr hat sie gedrängt, den Arabischen Frühling als Chance für den Friedensprozess zu begreifen. Im April bereits hat sie sich gegen die palästinensische UN-Initiative festgelegt, um Israel den Rücken zu stärken für neue Verhandlungen. Heraus kam: nichts.

Seiberts Äußerungen zeigen, dass die Regierung in der Klemme steckt. Die Palästinenser hatten kurz zuvor die Abstimmung zur Aufnahme in die Unesco gewonnen, die Kulturinstitution der Vereinten Nationen. Eine überwältigende Mehrheit hatte dafür gestimmt, trotz der Drohung der Obama-Regierung, die Beitragszahlungen an die Unesco einzustellen. Sehenden Auges stimmten 107 Nationen trotzdem für Palästinas Aufnahme. Deutschland stand mit den USA, Kanada und zehn kleineren Nationen zu Israel. Die Briten enthielten sich, Frankreich stimmte mit der Mehrheit. Die deutsche Treue zur israelischen Regierung wurde durch Netanjahu düpiert, der umgehend Strafmaßnahmen verkündete: die Einbehaltung palästinensischer Steuereinnahmen und 2000 neue Wohneinheiten in Siedlungen. Damit war es amtlich: Der Siedlungsbau richtet sich gegen die palästinensische Selbstbestimmung, sein Ziel ist die Frustration des Wunsches nach einem unabhängigen Staat Palästina. Die deutsche Regierung aber steht da als Geisel einer Politik, die sie für falsch und selbstzerstörerisch hält. Nun hat sie dies erstmals in aller Deutlichkeit zu Protokoll gegeben.

Angela Merkel hat immer wieder gesagt, ihr vertrauensvolles Verhältnis zu Israel ermögliche das offene Wort im Stillen. Weil sie in Israel gehört werde, sei sie für beide Seiten eine Partnerin, auf die es ankommt. Jetzt steht die Glaubwürdigkeit dieser Politik der Zurückhaltung infrage. Und es sind die israelischen Partner, die sie untergraben.
Es ist möglich, dass die jüngste Iran-Krise bald schon all dies wieder überdecken wird. In ihr steckt für Deutschland wie für Israel neben aller Gefahr nämlich auch die Verlockung, die unangenehmen Differenzen hintanzustellen und angesichts der Iran-Krise die Palästina-Diplomatie auf Stand-by zu schalten. So hat man es schließlich schon öfter gemacht. Seit dem Oslo-Abkommen von 1993 sind immer wieder Terror, Krisen und Kriege dazwischengekommen, die allen Seiten gute Gründe lieferten, jetzt gerade wieder einmal nichts zu tun.
Die Welt, in der man sich das leisten konnte, ist allerdings untergegangen. In diesen Tagen stirbt die gefährliche Illusion, dass die drei Konflikte, die die Zukunft der Region bestimmen, gegeneinander ausgespielt werden können.

Das Ringen um die Zweistaatenlösung zwischen Palästinensern und Israelis, die Konfrontation Irans mit der Weltgemeinschaft und der Kampf der Araber gegen ihre Autokraten – nun kommt alles auf einmal auf den Tisch: Palästina drängt auf Anerkennung in den UN. Der arabische Freiheitskampf fokussiert sich auf Israels Nachbarn Syrien. Israel wiederum debattiert über einen Präventivschlag gegen Irans Atomprogramm.

Die simultane Zuspitzung der drei Konflikte ist kein Zufall. Es gibt zahlreiche Rückkopplungseffekte: Die Palästinenser sind beflügelt durch den demokratischen Aufbruch und frustriert durch die obstruktive Haltung Israels im Friedensprozess. Israel wiederum ist durch den Verlust an Stabilität in der Nachbarschaft wie gelähmt, fürchtet seine völlige Isolation und treibt sie dabei doch selbst voran. Das iranische Regime sieht mit Schrecken, dass die arabischen Revolutionen seine Einflusssphäre in Syrien bedrohen.
Es ist ein Fehler, in dieser Lage die Energie Hunderter westlicher Diplomaten auf die Verhinderung der UN-Aufnahme Palästinas zu verschwenden. Am Ende wird wenigstens in der Generalversammlung eine überwältigende Mehrheit für Abbas stimmen. Die Unesco-Abstimmung war die Generalprobe dafür. Statt sich dagegenzustemmen, sollte man den historischen Moment nutzen. Die Palästinenser haben sich unter Abbas vom Steinewerfen und von Selbstmordattentaten verabschiedet und setzen auf Diplomatie. Haben sie nicht recht damit, aus dem festgefahrenen Muster der Friedensverhandlungen ausbrechen zu wollen? Ihre »Autonomiebehörde« droht zum Vollstrecker einer endlosen Besatzung zu verkommen.

Die konventionelle Nahostpolitik mit ihren »Quartett-Erklärungen«, Annäherungstreffen und Friedensplänen ist gescheitert, auch wenn die Beteiligten sich weigern, das anzuerkennen. Mit dem Antrag bei den UN hat Abbas das Schema hinter sich gelassen, in dem ein paternalistisches »Quartett« aus USA, EU, UN und Russland zwischen einer Besatzungsmacht und einer Autonomiebehörde zu vermitteln suchte. Ab jetzt spricht ein Fast-schon-Staat mit einem Nachbarstaat. Die UN-Aufwertung soll Verhandlungen nicht ersetzen, sondern eine neue Balance ermöglichen.

Abbas hat begonnen, die Lebenslügen der eigenen Seite abzuräumen. Im israelischen Fernsehen hat er kürzlich gesagt, die Ablehnung des Teilungsplans von 1947 sei ein Riesenfehler gewesen und ebenso die Gewaltorgie der »Zweiten Intifada«. Es sei klar, dass Israel keine riesigen Mengen palästinensischer Flüchtlinge aufnehmen könne. Jedes Verhandlungsergebnis mit Israel bedeute »das Ende des Konflikts«. Abbas hat das Interview auch in den palästinensischen Gebieten ausgestrahlen lassen – »zu erzieherischen Zwecken«. Die Palästinenser verlassen die Opferrolle. Sie übernehmen Verantwortung für ihre Geschichte.

Es ist falsch, Abbas durch Zurückweisung seiner UN-Initiative zu isolieren. Er muss im Gegenteil gestärkt werden gegen die Extremisten der Hamas, die in einem spektakulären Deal mit der Regierung Netanjahu 1027 Gefangene freipressen konnten. Mit Hamas reden, Abbas bestrafen? Hamas triumphiert im innerpalästinensischen Kampf. Seht ihr, Gewaltverzicht lohnt nicht, hält sie Abbas entgegen: Sie werden euch nie akzeptieren. Eure UN-Aktion wird ein Schuss in den Ofen und damit ein Beweis für unsere Philosophie der Gewalt. Hamas recht zu geben ist gewiss nicht gut für die Sicherheits Israels.

Was tun? Deutschland hat sich früh festgelegt. Nach Merkels Vorpreschen im April kann man jetzt nicht für die Aufnahme Palästinas stimmen. Ein solcher Politikwechsel wäre nicht zu erklären. Aber gilt das auch für eine Enthaltung?

Eine deutsche Enthaltung bei der UN-Abstimmung über Palästina, koordiniert mit den anderen Europäern, wäre kein Ausdruck der Unentschiedenheit, sondern könnte der erste Schritt zu einer glaubwürdigeren und gerechteren Nahostpolitik sein. Ohne ein Ende der Besatzung und einen unabhängigen Palästinenserstaat als Ergebnis neuer Verhandlungen beider Seiten kann niemand dauerhaft Israels Sicherheit garantieren – auch die deutsche Staatsräson nicht. Solidarität mit Israel bedeutet darum nicht, dieser Regierung zu folgen, was auch immer sie tut, sondern zu fördern, was einer Konfliktlösung hilft.

Eine neue Nahostpolitik muss härter gegen Iran vorgehen, um Israel zu schützen; sie muss kritischer gegenüber der israelischen Regierung sein; und sie muss die arabischen Freiheitsbewegungen entschiedener und mutiger unterstützen, die palästinensische Variante eingeschlossen.

 

Palästinas Freunde

Eine Karte der Länder, die Palästinas Aufnahme in die Vereinten Nationen unterstützen:

Das Ganze findet sich hier auch interaktiv.

Nicht markiert sind merkwürdigerweise die Franzosen, die ja immerhin der „Vatikanlösung“ zustimmen würden.

 

Warum Deutschland gegen Palästina stimmt

Heute morgen habe ich den bevorstehenden Showdown im Sicherheitsrat im Deutschlandradio kommentiert. Auszug:

Und damit droht, was Diplomaten fürchten wie der Teufel das Weihwasser: eine Stunde der Wahrheit. Wenn die Palästinenser es in New York zum Schwur kommen lassen, werden die Deutschen sie abblitzen lassen müssen, obwohl es das erklärte Ziel ihrer Politik ist, dass der Staat Palästina Wirklichkeit wird. Deutschland wird also gegen das Ziel seiner eigenen Nahostpolitik abstimmen, und seine Diplomaten werden Schwierigkeiten haben, dies der Welt zu erklären.

Dabei sind die Motive nicht so geheimnisvoll: Man will zum einen Amerika nicht alleine lassen auf der Bank der Neinsager – nicht so kurz nach der Libyen-Entscheidung schon wieder ein deutscher Sonderweg! Vor allem aber will Deutschland sich vor Israel stellen, das derzeit in völliger Isolation zu vereinsamen droht.

Deutschland kann in dieser Lage nur mit Israel stimmen, und das heißt hier: gegen eine Aufnahme Palästinas als Vollmitglied der UNO. Auch die danach wahrscheinliche Kompromisslösung wird Deutschland verwerfen: eine Aufwertung des palästinensischen Status bei der Uno zum „Nichtmitgliedsstaat“. Israel akzeptiert auch dies nicht, erstens weil auch in dieser Formel das Wort Staat enthalten ist. Und zweitens weil es die Palästinenser in die Lage versetzen würde, vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Israels Besatzung zu klagen.

Heimlich werden aber sowohl die Amerikaner wie die Deutschen denken: Was wir hier machen, ist nicht richtig. Niemand versteht das. Es waren doch die Israelis, die im letzten Jahr die Verhandlungen torpediert und die andere Seite damit erst auf diese Schiene gesetzt haben. Benjamin Netanjahu hatte Präsident Obama vor aller Welt gedemütigt, als er den Siedlungsbau wieder aufnehmen ließ. Und nun ist Obama gezwungen, Netanjahu zu stützen, obwohl er dessen Politik für schädlich hält. Merkel geht es nicht anders: Sie hat die Israelis angefleht und gedrängt, im eigenen Interesse mutige Schritte zum Frieden zu tun. Sonst würde man vom Arabischen Frühling überrollt. Vergebens.

Der Westen ist in Gefahr, den Rest an Glaubwürdigkeit zu verspielen, den er in der Region noch hat: Wenn Freiheit und Selbstbestimmung in Tunis, Tripolis und Kairo möglich sind, warum dann eigentlich nicht in Ramallah? …

Zum Nachhören klickst Du hier:

Palästina-Diplomatie

 

Der diplomatische Kampf um Palästina

In der ZEIT von heute (Nr. 38, S. 10) erkläre ich die Paradoxien, vor die Palästinas UN-Initiative den Westen stellt:

Kann man ein Veto gegen das Ziel seiner eigenen Politik einlegen? Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird die Welt nächste Woche erleben, dass die Vereinigten Staaten und Deutschland – die entschiedensten Förderer einer Zweistaatenlösung – Palästina die Anerkennung verweigern, und zwar auf der Hauptbühne der internationalen Politik. Die Palästinenser wollen beim Sicherheitsrat die Vollmitgliedschaft in der Uno beantragen. Amerika hat bereits die Blockade angekündigt, und auch die Deutschen sind festgelegt, seit die Kanzlerin im April „einseitige Schritte“ in der Nahostfrage zurückgewiesen hat. Man kann den Palästinensern zwar die vollgültige Aufnahme verweigern, nicht aber die Anerkennung zweiter Klasse, die sie dann anstreben würden. Sie haben eine Zweidrittelmehrheit der Generalversammlung sicher, die nötig ist, um analog zum Heiligen Stuhl (»Vatikanlösung«) als »Nichtmitgliedsstaat« aufgenommen zu werden. Auf die letzte Silbe kommt es ihnen dabei an: Staat.

150 Staaten für Palästina, und wir dagegen? Es droht der Offenbarungseid westlicher Nahostpolitik: Hat man nicht Freiheitswillen und Selbstbestimmungsstreben in Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien gepriesen? Und nun ein schnödes Njet gegen einen Staat, dessen Aufbau wir uns paradoxer Weise eine Milliarde Euro pro Jahr kosten lassen?
Nahostpolitik nach dem Arabischen Frühling steht vor der nahezu unmöglichen Aufgabe, die Glaubwürdigkeit des Westens in der arabischen Welt wiederherzustellen – und zugleich Israels Isolation zu verhindern. Sonst droht die Freiheitsbewegung der Araber von der giftigen Freund-Feind-Logik des Nahostkonflikt aufgezehrt zu werden, von der sie sich zunächst erfolgreich frei gemacht hatte.
Der israelische Verteidigungsminister Barak sieht schon einen „Tsunami“ auf sein Land zukommen, wenn es die Selbstisolation weiter vorantreibt. Der Sturm auf die israelische Botschaft in Kairo, antiisraelische Demos in Jordanien und der Dauerstreit mit der Türkei führen vor Augen, dass Israel in diesen Wochen zu zerbrechen droht, was es sich über Jahrzehnte mühsam aufgebaut hat: diplomatische Beziehungen und verhaltene Freundschaft mit wichtigen Staaten des Nahen Ostens. Das ist auch eine Folge der Demokratisierung der Region: Außenpolitik kann im innenpolitischen Machtkampf ein Trumpf werden. Über Jahrzehnte hatte Israel in Ägypten ziemlich genau zwei Freunde – den Präsidenten und den Geheimdienstchef. Das reichte in autoritären Verhältnissen. Seit dem Sturz des Herrschers Hosni Mubarak im Februar aber ist Außenpolitik plötzlich Teil der Innenpolitik – und umgekehrt. Die ägyptische Regierung kann und will die Volksmeinung nicht mehr ignorieren. Das Verhältnis zu Israel ist die Sache aller Ägypter geworden.
Niemand weiß das besser als der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan, der Anfang der Woche in Kairo wie ein populärer arabischer Führer empfangen wurde. Erdogan versteht sich prächtig auf das Wechselspiel von Innen- und Außenpolitik. Daheim hält er mit Attacken gegen Israels Gazablockade und Siedlungspolitik die türkische Opposition in Schach. In der arabischen Welt wirbt er um die Herzen der Empörten und mehrt das Ansehen der Türkei.
Für Israel bedeutet die Verschränkung von Innen- und Außenpolitik in Nahost, dass der alte Deal nicht mehr gilt: Hier der Kleinkrieg mit den Palästinensern, dort entspannte Beziehungen zu großen muslimischen Staaten wie Ägypten und der Türkei.
Damit bekommt die Initiative des Präsidenten Abbas – die man sträflicher Weise als einen Akt der Symbolpolitik unterschätzt hat – eine ungeheure Wucht. Der saudische Ex-Geheimdienstchef Turki Al-Faisal hat den Amerikanern soeben gedroht, wenn sie die Palästinenser im Stich ließen, würde sich das Königreich von der Allianz mit Amerika abwenden. Selbst die absolutistisch regierenden Saudis können sich nach den arabischen Revolten nicht mehr leisten, das Volk zu ignorieren.

Während ihn die arabischen Partner zum Handeln drängen, ist Obama allerdings schon im Wahlkampfmodus und damit ohne Spielraum. Die Republikaner warten nur auf die Gelegenheit, ihm Verrat an Israel vorwerfen zu können. Die israelische Regierung hat seinen Versuch, im vergangenen Jahr Verhandlungen zu initiieren, durch Sturheit in der Siedlungsfrage torpediert – und den Präsidenten damit vor aller Welt gedemütigt. Trotzdem muss er nun Netanjahu bei der Abwehr der palästinensischen Initiative unterstützen.
Dadurch rückt, wie schon bei der Libyen-Entscheidung, auch jetzt wieder Europa ins Ramnpenlicht. Nur zu gern würden die Außenpolitiker der EU den Nachweis erbringen, dass sie in der Lage sind, auch bei heiklen Fragen eine gemeinsame Position zu beziehen. Anders als zuletzt in Libyen, anders als bei den ersten Reaktionen auf die Umbrüche in Tunesien und Ägypten Anfang dieses Jahres.

Es gibt aber wenig Hoffnung, den Showdown noch zu verhindern. Außenminister Westerwelle und die EU-Außenbeauftragte Ashton haben in Kairo, Amman und Jerusalem vergebens versucht, die Palästinenser zum Verzicht auf die Konfrontation im Sicherheitsrat zu drängen. In gewisser Weise wird die Sache für Europa sogar noch heikler, wenn Abbas doch noch einlenkt und nur eine »Mitgliedschaft light« anstrebt. Dann kann nämlich nicht der große Bruder Amerika mit seinem Veto die Sache regeln, sondern jeder Staat muß sich einzeln bekennen. Israel lehnt jede Form der Aufwertung Palästinas in New York ab. Es weiß dabei Amerikaner, Deutsche, Niederländer und Tschechen an seiner Seite. Aber Spanien, Frankreich, Polen, Portugal, Belgien, Schweden, Finnland und Luxemburg wären sogar bereit für eine vollständige Anerkennung Palästinas. Die Briten halten sich alles offen.
Damit droht, nur sechs Monate nach der Libyen-Entscheidung, die nächste außenpolitische Spaltung Europas. Nur die Deutschen könnten theoretisch die Europäer hinter einem Kompromißangebot vereinen – eine Art »Vatikanlösung« mit Abstrichen, die israelische Bedenken aufnimmt. Allerdings ist Deutschland erstens durch Merkels frühe Festlegung bei Israel im Wort. Und zweitens kann es sich nicht schon wieder gegen die Amerikaner positionieren. Der deutsche Sonderweg hat sich im libyschen Fall als Holzweg erwiesen. Jetzt also bloß nicht noch ein Signal, dass die Verlässlichkeit deutscher Außenpolitik nicht mehr gilt! Dabei gilt die Verstocktheit der israelischen Regierung amerikanischen wie deutschen Diplomaten als gefährlich und selbstzerstörerisch. Man hält dennoch grummelnd zu Israel, nicht wegen, sondern trotz Netanjahu und Außenminister Lieberman – um den Schaden nicht größer zu machen. Doch die Gewißheit, dass es so nicht weiter gehen kann, wächst von Tag zu Tag.

An der Schwäche der Argumente gegen die palästinensische Initiative ist die heimliche Ambivalenz der Freunde Israels zu erkennen. Erstens die angebliche „Einseitigkeit“: Gibt es etwas Multilateraleres als eine Abstimmung der UN-Generalversammlung? Und sind umgekehrt israelische Siedlungen etwa keine „einseitige Maßnahmen“? Zweitens der Einwand, der Gang zur Uno könne »kein Ersatz« für direkte Verhandlungen sein. Er wäre überzeugend, wenn es noch einen Friedensprozeß gäbe. Gerade weil der klinisch tot ist und alle Wiederbelebungsversuche scheitern, geht Abbas diesen Weg. Drittens die drohende „Delegitimierung Israels“, wie die Regierung in Jerusalem seit Monaten warnt: Ein Palästina in den Grenzen von 1967 impliziert im Gegenteil logischer Weise den Staat Israel als Nachbarn.

Ein einziges Argument gegen die New Yorker Mutprobe der Palästinenser sticht wirklich: Den Tag danach kann niemand kontrollieren. Was, wenn die Menschen merken, dass die Anerkennung nichts in ihrem Leben verbessert? Was, wenn sie dann Abbas mitsamt der Autonomiebehörde hinwegfegen? Was, wenn sich ihre Lage sogar verschlechtert, weil der amerikanische Kongress Abbas die Mittel kürzt? Und was, wenn Israel sich weiter einigelt und Strafmaßnahmen ergreift? Und dann das Volk zu den Checkpoints marschiert?
Die Gefahr einer Intifada Nummer drei ist ernstzunehmen. Allerdings droht sie auch jetzt schon, unabhängig von der Abstimmung in der Uno, wie wir seit dem letzten Wochenende in Kairo wissen. Sie wäre wohl heute nicht auf Westjordanland und Gaza beschränkt. Nur Verhandlungen können sie verhindern.
Die Palästinenser haben den überkommenen Rahmen der Nahostverhandlungen seit Oslo und Madrid hinter sich gelassen, in dem ein paternalistisches „Quartett“ aus USA, EU, Uno und Rußland zwischen einer Besatzungsmacht und einer Autonomiebehörde zu vermitteln suchte – zuletzt ohne Erfolg. Wer den Glauben an eine Zweistaatenlösung noch nicht aufgegeben haben, muß sich darauf einstellen.
Künftig wird ein (fast schon) Staat mit einem Staat verhandeln. Niemand kann den Palästinensern – nach so vielen Niederlagen – einen moralischen Sieg vor der Uno verwehren.Wie man es anstellt, dass er nicht in Gewalt und Chaos mündet, ist die große Frage. Es gibt Siege, die von Niederlagen kaum zu unterscheiden sind, und dies könnte ein solcher werden.

Mitarbeit: Martin Klingst, Matthias Krupa,
Michael Thumann