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Obama ist der wahre Konservative

Mein überaus geschätzter Kollege Thomas Kleine-Brockhoff (unser ehemaliger Washington-Korrespondent), prophezeit auf Zeit online eine rosige politische Zukunft für Sarah Palin als neue Hoffnung der republikanischen Partei – unabhängig vom Wahlausgang.
Das kann durchaus so kommen.
Allerdings muss ich in einem Punkt meinen Dissens anmelden: Thomas Kleine-Brockhoff sieht Palin nämlich als Hoffnung des „Konservatismus“. Das verwundert mich: Durch die verantwortungslose Wahl Palins hat McCain den Anspruch auf den konservativen Wert „Erfahrung“ aufgegeben. Die katastrophalen Umfragen der letzten Wochen legen Zeugnis davon ab, die Absetzbewegung konservativer bannerträger aus der republikanischen Partei – über die ich hier viel geschrieben habe – ist ein weiteres Indiz.

Von Palin als konservativ zu sprechen hat für mich nur Sinn, wenn man diesen Begriff völlig inhaltsleer gebraucht – in dem Sinn, dass eben konservativ ist, was auch immer die Republikaner dafür halten.
Das war freilich schon das große Missverständnis über George W. Bush, an dessen Politik innen wie aussen bekanntlich nichts konservativ war (Geld ausgeben bis der Arzt kommt; revolutionäre Kriege zur bewussten Destabilisierung einer ganzen Region führen; den Nahen Osten demokratisieren).
Palin sei es nun gelungen, meint Thomas, die „konservativen“ kleinen Leute zu begeistern. Mag sein.
Aber wie sie das tut – indem sie die alten Kulturkampfaffekte bedient -, vergrößert doch bloß das Problem des Konservatismus heute: Er muss sich erst wieder als ernst zu nehmende Grösse rekonstituieren, die zu den (teilweise selbst geschaffenen) Problemen einer veränderten Welt (Finanzkrise, Amerikas Selbstfesselung durch 2 Kriege, Energieabhängigkeit vom Nahen Osten, Aufstieg Chinas) etwas zu sagen hat.
Palin suggeriert, die Rückkehr zur alten Größe sei mit small town values und amerikanischem Selbstbewußtsein zu schaffen, also im Grunde nichts weiter als eine Haltungsfrage.

Das wäre eine Falle für die Konservativen nach einem möglichen Machtverlust. Viel mehr Reflektion und Besinnung auf die eigenen Werte ist gefragt als Palin geben kann.
Diese Einsicht steckt hinter dem bemerkenswerten Abgang so vieler Konservativer zu Obama.
Niemand bringt es besser auf den Punkt als Jeffrey Hart, der Redenschreiber Ronald Reagans und Nixons (ist eigentlich noch irgendein Überlebender der Reagan-Regierung für McCain?):

There are common sense conservatives who are prudential, who try to match means with ends, and who calculate the probabilities of gains and risks. But there are philosophical (analytical) conservatives, the most useful being Edmund Burke, whose „Reflections on the Revolution in France“ (1790) understood the great dangers in trying to change society through abstract (republican) theory. My first book that dealt with these matters was „English Political writers: From Locke to Burke“ (Knopf, 1963).

Republican President George W. Bush has not been a conservative at all, either in domestic policy or in foreign policy. He invaded Iraq on the basis of abstract theory, the very thing Burke warned against. Bush aimed to turn Iraq into a democracy, „a beacon of liberty in the Middle East,“ as he explained in a radio address in April 2006.

I do not recall any „conservative“ publication mentioning those now memorable words „Sunni,“ „Shia,“ or „Kurds.“ Burke would have been appalled at the blindness to history and to social facts that characterized the writing of those so-called conservatives.

Obama did understand. In his now famous 2002 speech, while he was still a state senator in Illinois, he said: “I know that a successful war against Iraq will require a US occupation of undetermined length, of undetermined cost, with undetermined consequences. I know that an invasion of Iraq without a clear rationale and without international support will fan the flames of the Middle East, and encourage the worst, rather than the best, impulses of the Arab world, and strengthen the recruitment arm of al Qaeda. I’m not opposed to all wars. I’m opposed to dumb wars.”

Burke would have agreed entirely, and admired the cogency of so few words. And one thing I know is that both Nixon and Reagan would have agreed. Both were prudential and successful conservatives. But all the organs of the conservative movement followed Bush over the cliff—as did John McCain.

Obama was the true conservative, the Burkean. Like the French radicals of 1790, Bush wanted to democratize Iraq, turn it, as he said in a speech at Whitehall, into a „beacon of liberty in the Middle East.“ Now, Robespierre and the other radicals were criticized by Burke for wanting to turn France into a republic. Not a bad idea, but they tried to do it all at once, and according to republican theory.

Maxmillien Robespierre himself would have been horrified by the notion of democratizing Mesopotamia. That may—possibly—happen. But it will take a long time, an Enlightenment, and the muting of sectarian hatreds.

Social Security has long been considered one of the most successful New Deal programs, working well now for 70 years. Yet in 2005, the Bush plan to establish private accounts that could be invested in the Stock Market got nowhere. McCain, too, has embraced this idea. In 2008 it looks ridiculous. The Stock Market! Again, this is a radical proposal, not a conservative one.

(Mehr hier.)

 

Reagans Stabschef hält McCain für verantwortungslos

Ronald Reagans Stabschef Ken Duberstein sagt, McCain habe durch die Wahl Palins als Mit-Kandidtain seine eigene Urteilskraft in Frage gestellt: „Die meisten Amerikaner erkennen, dass man niemandem einen Job nach einem einzigen Interview gibt, ganz zu schweigen von der Vizepräsidentschaft. Selbst bei MacDonalds finden drei Interviews statt, bevor man einen Job bekommt.“
Ein Killer-Zitat.

 

Noch ein Neocon findet sich mit Obama ab

Diesmal ist es Bill Kristol, der in seinen New York Times-Kolumnen in den letzten Wochen immer wieder zur Hetze gegen Obama aufgerufen hat.
In diesem Interview macht der große Jon Stewart klar, dass das alles bloss taktisch war und Kristol natürlich nicht daran geglaubt hat, dass Obama ein Radikaler sei:

Mein Lieblingsspruch: Hey, it’s just an election…

 

Robert Kagan ist kein Republikaner

„Allerdings muß ich eine Sache klarstellen, ich bin kein Republikaner. Ich habe 1992 Clinton gewählt, und 2000 Gore. An mir hat’s also nicht gelegen, dass Bush Präsident wurde. ich möchte gerne Demokrat sein, finde mich dann aber doch auf der anderen Seite wieder.“

Ist ja Interessant!

Dinner mit Robert Kagan im Harvard Faculty Club, nur 5 Tage vor der Wahl. Kagan, einst einer der führenden Neocons, ist sichtlich um Abstand zum amtierenden Präsidenten bemüht. Und ein Neocon möchte er eigentlich auch nicht (mehr) sein.

Robert Kagan Foto: Carnegie Endowment

Vor einem kleinen Kreis von Historikern, Ökonomen und Gästen der Universität erläutert Kagan die Thesen seines neuen Buchs („The Return of History and the End of Dreams“), das ich hier schon länglich diskutiert habe.

Kagan ist ein pointierter und witziger Redner. Seine These, dass wir nach dem „unipolaren Moment“ – in dem die USA kurzzeitig konkurrenzlos schienen (nach dem Ende des Kommunismus) –  zum geopolitischen Normalzustand zurückgekehrt seien, in dem große Mächte (inkl. Rußland, China, Indien) wieder um Ressourcen, Respekt und Einfluß konkurrieren, wurde von vielen Seiten in Frage gestellt.

Er konnte sie gut verteidigen, allerdings bleiben einige wichtige Fragen offen.

Ein interessanter Aspekt von Kagans Weltsicht ist folgender: Der Konflikt mit dem islamischen Radikalismus tritt sehr weit in den Hintergrund. Interessant für einen Denker, der die USA nach dem 11. September mit dazu getrieben hat, zwei Kriege im Herzen der islamischen Welt zu beginnen, und der die Demokratisierung der islamischen Welt zum wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer Erneuerung der Region erklärte.

Heute sagte Kagan in Harvard: „Die Führer der radikalen Islamisten, ob es nun Chamenei im Iran oder die Sprecher der Qaida sind, gerieren sich vielleicht darum immer radikaler, weil ihre Bewegung sich auflöst und ihr historischer Kampf aussichtslos ist. Die amerikanische Aussenpolitik kann nicht um diesen Konflikt herum gebaut werden. Der radikale Islam sollte uns eher wenig Sorge bereiten (should be a rather low level concern). Nur die Möglichkeit eines weiteren fatalen Anschlags in den USA zwingt uns paradoxer Weise, die Sache ernster zu nehmen.“

Das ist für meinen Geschmack eine Kehrtwende. Kagan kritisierte in Harvard explizit Senator McCains Bezeichnung des Konflikts mit den Dschihadisten als „transzendentale Bedrohung“ unserer Zeit. (Kagan hat McCain beraten und eine Rede für ihn geschrieben.) Was ist bloss aus der Neocon-Idee geworden, den Modernisierungsstau der islamischen Welt, dessen Resultat der islamistische Terrorismus ist, mit einem Schlag zu lösen? Man möchte doch gerne wissen, wann genau diese Idee über Bord gegangen ist.

Ich hätte mir gewünscht, dass Robert Kagan ein wenig darauf eingegangen wäre, was ihn zum Umdenken bewegt hat. Aber das ist nun mal nicht seine Art.

Überhaupt scheint die Hauptlinie seiner Argumentation nun nicht mehr Amerikas Sonderrolle und Mission zu sein, sondern die Unvermeidlichkeit „normaler“ Staatenkonflikte, in denen sich die USA eben wie eine Großmacht unter anderen verhalten, während Europa immer noch in der Illusion lebt, diese Welt durch Kooperation und Souveränitätsverzicht hinter sich gelassen zu haben.

Darum seien die Europäer auch unfähig, sich mit einem Rußland auseinanderzusetzen, das ganz altmodisch Anspruch auf Macht und Einflußsphären erhebe. (Was Amerika Putin nach dem Georgien-Konflikt ausser ziemlich hohlen Drohungen entgegenzusetzen hatte, blieb Kagan allerdings schuldig.)

Ein starker Punkt Kagans ist die Warnung, dass wir uns nicht allzu harmoniesüchtig vorstellen sollten, dass Handel und Interdependenz im Zeichen der Globalisierung automatisch eine Ära des ewigen Friedens einläuten. Es gebe, sagte er, eine „fantastische Vielfalt von Ordnungen der Unfreiheit, die wir einfach nicht mehr zur Kenntnis nehmen, weil wir auf die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts eingepeilt sind“. Zweifellos seien die Menschen in China und Rußland heute freier denn je als Individuen. Aber die entscheidende Frage sei doch, ob es in beiden Ländern politische Freiheit im Sinne eines offenen Wettbewerbs um die Macht gebe. Die Antwort sei zweimal nein.

Mein Hauptproblem mit Kagans Perspektive ist dies: Seine „Wiederkehr der Geopolitik“ stellt Interessenskonflikte bis zum Krieg hin als das schlicht Unvermeidliche hin, in einem Ton des heroischen Realismus.

Manche Konflikte sind aber eben aus Realismus unbedingt zu vermeiden – und Kagan gibt keinerlei Kriterien an für eine kluge Politik in diesem Sinn. Im Gegenteil: Er stellt den „großen Mächten“ einen Freifahrtschein aus, ihre Interessen um jeden Preis zu verfolgen. (Seine Sicht ist offensichlich apologetisch: immer wieder läuft alles darauf hinaus, dass die USA genau so handeln mussten, wie sie handelten.)

In der Welt, in der wir heute leben, ist das Handeln nach dem nationalen Interesse als einzigem Kriterium aber eben nicht mehr realistisch. Die drei dringendsten Probleme – Finanzkrise (Wirtschaftskrise), Energiekrise und Umweltkrise – lassen sich so nicht lösen. Weder eine neue Weltfinanzarchitektur, noch die Sicherung des Weltenergiebedarfs, noch ein Übereinkommen zur Emmissionsbegrenzung lassen sich auf der Ebene einzelstaatlichen Handelns herbeibringen.

 

Sarah Palin lobt Jimmy Carter

Nein, tut sie natürlich nicht. Aber sie erhebt eine seiner zentralen Forderungen zur Top-Priorität (ohne es zu wissen, womöglich). Jimmy Carter war der Präsident, der das Thema „Energie-Unabhängigkeit“ erkannt hat, und die Republikaner haben ihn seither dafür denunziert. Heute sagte Palin in Ohio: “It’s been 30 years’ worth of failed energy policies in Washington, 30 years where we’ve had opportunities to become less reliant on foreign sources, and 30 years of failure in that area,” Ms. Palin said. “We must steer far clear of the errors and false assumptions that have marked the energy policies of nearly 20 Congresses and seven presidents.”

Jimmy Carter hat im Jahr 1979 eine Rede gehalten, mit der er sein politisches Todesurteil unterschrieb. Sie wurde als die „Malaise“-Rede denunziert, weil er darin die amerikanische „Krise des Selbstvertrauens“ analysierte.

Ronald Reagan gewann die folgende Wahl mit einem gute-Laune-Programm, das eigentlich ein Hohn auf alle konservativen Werte war. Reagan ermutigte Amerika, weiter auf Pump zu leben und zu konsumieren. Er fing damit an, die enormen Handelsdefizite zu verharmlosen, die zu Amerikas späterer Abhängigkeit von Asien und dem Nahen Osten geführt haben – während Carter eine klassisch konservative Wende zum Wesentlichen und zur uramerikanischen Tugend der „self-reliance“ vorgeschlagen hatte.

Der politische Kern von Carters Analyse war: Die Energie-Abhängigkeit der USA von den OPEC-Ländern ist geopolitisch ruinös und muss beendet werden – durch Einsparungen, neue Energiequellen und Effizienz. Wie recht er doch hatte! (Heute sagen es alle!)

Von den Republikanern wurde Carter damals denunziert, er wolle den american way of life aufgeben. Die Republikaner hatten sich auf die Seite der Konsumgesellschaft gestellt, in der sich die Menschen schlichtweg berechtigt fühlen, den Wohlstand zur Not auf Pump zu finanzieren. Das konservativ zu nennen, ist unhaltbar.

Heute ist es Konsens, dass „energy dependence“ eines der Kardinalprobleme der USA ist (und des ganzen Westens, bei uns bloß mehr mit Blick auf Rußland als Nahost).

Carters prophetische Rede ist eine traurige Lektüre: Jahrzehnte sind verplempert worden.

Hier Auszüge:

The symptoms of this crisis of the American spirit are all around us. For the first time in the history of our country a majority of our people believe that the next 5 years will be worse than the past 5 years. Two-thirds of our people do not even vote. The productivity of American workers is actually dropping, and the willingness of Americans to save for the future has fallen below that of all other people in the Western world.

As you know, there is a growing disrespect for government and for churches and for schools, the news media, and other institutions. This is not a message of happiness or reassurance, but it is the truth and it is a warning.

These changes did not happen overnight. …

We remember when the phrase „sound as a dollar“ was an expression of absolute dependability, until 10 years of inflation began to shrink our dollar and our savings. We believed that our Nation’s re sources were limitless until 1973, when we had to face a growing dependence on foreign oil.

These wounds are still very deep. They have never been healed.

First of all, we must face the truth, and then we can change our course. We simply must have faith in each other, faith in our ability to govern ourselves, and faith in the future of this Nation. Restoring that faith and that confidence to America is now the most important task we face. It is a true challenge of this generation of Americans.

We know the strength of America. We are strong. We can regain our unity. We can regain our confidence. We are the heirs of generations who survived threats much more powerful and awesome than those that challenge us now. Our fathers and mothers were strong men and women who shaped a new society during the Great Depression, who fought world wars, and who carved out a new charter of peace for the world.

We ourselves and the same Americans who just 10 years ago put a man on the Moon. We are the generation that dedicated our society to the pursuit of human rights and equality. And we are the generation that will win the war on the energy problem and in that process rebuild the unity and confidence of America.

Energy will be the immediate test of our ability to unite this Nation, and it can also be the standard around which we rally. On the battlefield of energy we can win for our Nation a new confidence, and we can seize control again of our common destiny.

In little more than two decades we’ve gone from a position of energy independence to one in which almost half the oil we use comes from foreign countries, at prices that are going through the roof. Our excessive dependence on OPEC has already taken a tremendous tool on our economy and our people. …

This intolerable dependence on foreign oil threatens our economic independence and the very security of our Nation.

The energy crisis is real. It is worldwide. It is a clear and present danger to our Nation. These are facts and we simply must face them.

Mehr hier.

 

Amerikanisches Krisentagebuch IV

Cambridge/ Massachusetts Klaus Scharioth, der deutsche Botschafter in Washington, ist eigentlich schwer zu verblüffen, seit er einst im Krisenstab die Tsunami-Hilfe koordiniert hat. Doch der Finanz-Tsunami der letzten Wochen hat Scharioth nach zwei Amtsjahren in Washington noch einmal ein völlig neues Amerika-Gefühl beschert.
Elf Tage vor der Wahl soll er an der Kennedy School of Government in Harvard vor künftigen Diplomaten, Managern und Politikern erläutern, welche Weltprobleme den neuen Präsidenten erwarten. Als die Einladung ausgesprochen wurde, war das ein Routinetermin. Doch inzwischen hat sich vieles gedreht: „Noch vor vier Wochen“, so Scharioth, „reagierten die Amerikaner auf den Begriff ‚Regulierung’, als hätte ich ein schmutziges Wort benutzt. Doch jetzt hat Washington selbst die Welt zu einem Gipfel eingeladen, bei dem es um die Regulierung der globalen Finanzmärkte gehen soll. Still und heimlich sind viele heilige Kühe geschlachtet worden in den letzten Wochen.“
Der Karrierediplomat Scharioth, der als Staatssekretär im Auswärigen Amt mit Schröder und Fischer für das Nein zum Irakkrieg verantwortlich war, ist alles andere als ein Rechthaber. Doch er kann sich das Wort von einer „ermutigenden Lernkurve der letzten Wochen“ nicht verkneifen. Das bezieht sich vor allem darauf, dass der US-Finanzminister Paulson mit seinem Rettunsgpaket dem europäischen Krisenmanagement gefolgt ist.
Doch damit nicht genug: Scharioth erntet auch keinen Widerspruch, wenn er nun eine neue Weltfinanzarchitektur, Klimaschutz und Energiewende zu den obersten Prioritäten des kommenden Präsidenten erklärt – und im Gegenzug Irak, Iran, Aghanistan, den islamistischen Terrorismus und den Nahostkonflikt fast schon wie Nebensachen behandelt. Daran hätte sich vormals der kleine transatlantische Unterschied festgemacht: Hier die softe europäische Venus, da der strenge amerikanische Mars. Setzt jetzt etwa Venus die Agenda? „Multilateralismus“ jedenfalls ist auf einmal keine europäische Marotte mehr, sondern eine schlichte Notwendigkeit der neuen weltpolitischen Situation.
Wie der Botschafter müssen sich viele Europäer dieser Tage daran gewöhnen, dass sie neuerdings in Amerika fast mit einer Art Demut behandelt werden. Auch hier in Harvard – weiß Gott ein unwahrscheinlicher Ort für intellektuelle Bescheidenheit… Weiter„Amerikanisches Krisentagebuch IV“

 

Amerikanisches Krisentagebuch III

Eine ältere Dame im Café in Rockport, Massachusetts, fängt unaufgefordert an, sich für den amerikanischen Präsidenten zu entschuldigen. Der Auslöser ihrer Rechtfertigungssuada ist die Tatsache, dass wir aus Europa kommen: „Sie wissen ja hoffentlich, dass wir ihn nicht gewählt haben. Hier in Massachusetts hat kein Mensch George Bush gewählt. Wir haben noch nie für die gestimmt.“ Sie arbeite als Bibliothekarin am MIT, gibt sie uns zu wissen. Mir dient diese Reaktion auch zur Erinnerung, dass Massachusetts mit seinem eingefleischten Demokraten-Stolz und Kennedy-Kult nicht für die USA im Ganzen steht. Aber andererseits wird gerade heute berichtet, dass Obama auch in Ohio vorne liege.

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Der deutsche Botschafter spricht in Harvard. Er nennt die Weltprobleme, die das transatlantische Verhältnis herausfordern werden. Nummer eines ist die Finanzkrise. Dann kommt die globale Erwärmung und die Abhängigkeit von fossiler Energie. Dann „nukleare Proliferation“ – das Wort Iran fällt nicht. Viertens radikalen Extremismus (auch islamistischer Art). Fünftens „failed states“. Sechstens Armut. Siebtens die transatlantischen Institutionen (NATO inklusive). Achtens Russland, China, Afghanistan und Iran – und die Zukunft der internationalen Strukturen im Licht dieser Konflikte. Die Reihenfolge ist einigermassen frappierend. Iran hätte vor kurzem noch ganz oben gestanden. Der Nahe Osten wird am Ende mehr pflichtschuldig erwähnt. Es gibt erstaunlicher Weise keine Einwände gegen diese Rangfolge von den amerikanischen Anwesenden. Vor Jahr und Tag noch hätte man an der jeweiligen Rangfolge der Probleme die transatlantischen Differenzen kenntlich machen können – hier Venus Europa, da Mars Amerika. Vorbei? In wenigen Wochen hat sich eine radikale Neuordnung der Prioritäten durchgesetzt. Vielleicht eine Rückkehr zum Wesentlichen?

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Meine Vermieterin Kim weiß aus Georgia zu berichten, dass die Menschen stundenlang anstehen, um jetzt schon am early voting teilzunehmen. Hunderttausende neue Wähler seien dabei, die vorher nie zur Wahl gegangen sind – vor allem unter den Schwarzen. Kim ist selber schwarz. Als ich behaupte, diesmal würde die Rassenfrage nicht so sehr ins Gewicht fallen, weil die realen Probleme zu stark seien, bleibt sie skeptisch: „Das Rassenthema ist tief eingegraben in unserer Gesellschaft.“ Ausserdem sei die Wirtschaftskrise nicht unbedingt ein starkes Argument für Obama: Der sei nicht viel besser qualifiziert als McCain, um die Finanz-Probleme zu lösen, sagt Kim. Für sie scheint die Aussenpolitik eine starke Rolle zu spielen: Amerikas Ansehen in der Welt, der Irakkrieg. Und im Innern die immer weiter wachsende Ungerechtigkeit der amerikanischen Gesellschaft. Mein Eindruck ist, dass sich bei Obamas Anhängern eine Art magisches Denken Bahn bricht: Nur ja nicht voreilig den Sieg beschreien, nur ja nicht zugeben, wieviel für einen daran hängt – es mag Unglück bringen. Klug ist das ja auch, denn: „it ain’t over until the fat lady sings“.

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Joseph Nye von der Harvard Universität – Erfinder des Konzepts soft power – hält es für möglich, dass Obama von Osama eine „October Surprise“ drohen könne. Der letztere könnte sich nämlich durch Herrn Obamas „soft skills“ gefährdet sehen, durch welche die Weltmeinung wieder für das verhasste Amerika eingenommen werden könnte. Und um dies zu verhindern könnte Osama versucht sein, etwas anzustellen, das McCain in die Hände spielt. Da ist etwas dran: Obama könnte in der Tat das Spiel der Qaida durchkreuzen, weil er Amerika (für den Anfang jedenfalls) das offensichtlich Feindliche nimmt. Er wäre – gerade wegen seines kenyanischen Vaters und seiner Jugend in Indonesien – schwerer als Feind und „Kreuzfahrer“ zu brandmarken. Aber die Vorstellung, dass die Qaida-Planung auf den amerikanischen Wahlkampf hin berechnet werden könnte, riecht mir dann doch zu sehr nach Verschwörungstheorie.