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Eine Muslimin will Miss Universe werden

Shanna Bukhari möchte gerne Großbritannien bei den „Miss Universe“-Wahlen vertreten. Sie stammt aus Blackburn, hat Literatur studiert und ist 24. Wie der Name schon verrät, ist sie Muslimin. Das nehmen die einen nun zum Anlass, sie eine Schande für diesen Glauben zu nennen (und sie zu bedrohen).
Und die anderen beschimpfen sie, weil sie „nicht hierher gehört“ und also die Briten nicht vertreten könne. Wieder andere werfen ihr vor, sich einer fragwürdigen Veranstaltung zu unterwerfen und damit die Frauen zu verraten.


Shanna Bukhari hat es derzeit mit einer ätzenden Kombination aus engstirnigen Islamisten, Feministinnen und Rassisten zu tun. Sie ist, wie sie dem Guardian sagte, ziemlich schockiert über die Reaktionen, die ihre Kandidatur bei der britischen Ausscheidung für das Miss-Universe-Finale ausgelöst hat.
Vielleicht – hoffentlich – wird gerade das ihr helfen und ihr die Sympathie des breiten Publikums zutragen.
Mit 9 Jahren wurde sie zum Opfer einer rassistischen Attacke, bei der sie schwer durch einen Steinwurf verletzt wurde. Jetzt haben es ressentimentgeladene muslimische Männer auf sie abgesehen, deren Obsession es ist, Frauen zu kontrollieren und einzuschränken. Sie hat Todesdrohungen erhalten.
Shanna Bukhari kennt solches Ressentiment gegen Frauen von zu Hause offenbar nicht. Es wäre ein Triumph der britischen Gesellschaft über ihre Dämonen, wenn sie nominiert würde.
(Und außerdem sieht sie ziemlich hübsch aus.)

Bukhari, born in Blackburn, grew up in Lancashire and is no stranger to intolerance. When she was nine, she ended up in hospital after a man screaming racist abuse had thrown a brick at her, causing so much damage to her stomach that she suffered a blood clot and had to undergo surgery.

But even she has been surprised by the furore that her participation in the British heats of Miss Universe has prompted. Rather than confirming her hopes that society had progressed since her childhood, the controversy has made her question the state of multiculturalism in modern Britain. „It has highlighted the divisions that exist, a lack of social integration, a lack of adhesion between white and coloured people, and this needs to be addressed,“ she said. „I thought my participation might be something that people did not agree with, but I never thought I’d get abused.“

The attacks on the Manchester-based English literature graduate began after a local newspaper ran an article 10 days ago revealing her ambition to become the first Muslim to represent Great Britain at the beauty contest. Since then, she has received around 300 messages a day on her Facebook page, a handful of which are abusive. Most of the negative comments have come from a minority of Muslim men. „I get people saying, ‚you’re not a Muslim‘ and ‚you’re using religion to get attention‘. I said they were the ones bringing religion into it. I’m not representing Islam; I just want to represent my country, and of that I am very proud. They are trying to control me, using religion as a tool to attack.“

 

Die Obama-Doktrin und das Totalversagen der deutschen Diplomatie

Obama hat gestern abend begründet, warum die USA in Libyen interveniert haben. Zugleich bietet diese Rede so etwas wie den Rahmen der Obama-Doktrin.

Mir hat es einen Stich versetzt, als er die engsten Alliierten der Vereinigten Staaten aufzählte, darunter Dänemark, Norwegen und Italien und die Türkei ! – und eben nicht Deutschland. Er sagte:

„To brush aside America’s responsibility as a leader and -– more profoundly -– our responsibilities to our fellow human beings under such circumstances would have been a betrayal of who we are.  Some nations may be able to turn a blind eye to atrocities in other countries.  The United States of America is different.  And as President, I refused to wait for the images of slaughter and mass graves before taking action.“

Die Deutschen waren bereit, auf diese Bilder zu warten. Turn a blind eye: das war Westerwelles Position trotz seines vorhergehenden Geredes über „wertegebundene Außenpolitik“. Merkel, die einmal als Transatlantikerin galt und in Amerika zig Preise für dieses unbestätigte Gerücht kassiert hat, unterstützt den isolationistisch-radikalpazifistischen Kurs ihres Vize.

Obama sprach parallel zu der Kommandoübernahme durch die Nato über die Operationen in Libyen. Deutschland hat sich letzte Woche aus der Durchsetzung eines Waffenembargos durch Nato-Kräfte zurückgezogen. Unfassliche Konsequenz der Enthaltung im Weltsicherheitsrat: Deutschland hat Schiffe aus Missionen abgezogen, die seit dem 11. September zwecks Antiterror-Kampf im Mittelmeer unterwegs waren. Warum? Weil es nun dazu kommen könnte, dass beim Aufbringen libyscher Schiffe Gewalt angewendet werden muss.

Um diese Schande auszuwetzen, schicken wir nun Awacs-Mannschaften nach Afghanistan (wogegen vor Monaten noch seitens der Regierung agitiert wurde). Ein Tiefpunkt deutscher Außenpolitik.

Obamas Rede zielt daheim gegen Isolationisten und regime-change-Advokaten zugleich. Er macht klar, warum es im Interesse der Vereinigten Staaten war, in Libyen nicht dem Sieg Gadhafis zuzuschauen: Die arabische Freiheitsbewegung darf nicht durch das Signal geschwächt werden, dass brutale Tyrannei nun doch wieder hingenommen wird. Ein Flüchtlingsdrama soll verhindert werden. Am stärksten aber ist der Appell an die amerikanischen Werte: Es wäre ein Betrug an ihnen, sagt Obama, wenn man hier, wo man eingreifen kann, davor zurückschreckt.

Daraus folgt nicht, dass demnächst überall eingegriffen werden müsse, wie die Gegner der Intervention argumentieren. Hier aber gibt es passende Voraussetzungen: Ein legitimer Ruf von innen, ein Beschluss des Sicherheitsrats, willige Alliierte (auch aus der Region), einen Notstand und die Chance, ohne massive eigene Verluste Schlimmes zu verhindern.

Eben um diese Legitimität nicht zu gefährden, folgt daraus nicht, dass man gleich „all the way“ gehen und Gadhafi militärisch stürzen muss. Das sollten die Libyer alleine erreichen, geschützt und gestützt durch die internationalen Truppen, die Gadhafis Chancen, ein Massaker anzurichten, reduzieren. Westliche Bodentruppen würden den legitimen Aufstand in eine weithin abgelehnte Besatzung verwandeln. Es ist falsch zu sagen, meint Obama, wer nicht bereit sei, bis zum Ende zu gehen (wie im Irak?), der solle gleich gar nichts tun.

Es ist klug und richtig, dass Obama die Rolle der Amerikaner darin sieht, eine möglichst breite Koalition zu ermöglichen und sich dann so weit wie möglich aus der militärischen Führung zurückzuziehen. Nordafrika ist vor allem eine Sache der Nachbarn und der Europäer. Einige Europäer scheinen das zu begreifen.
Sollte Gadhafi sich in Tripolis verschanzen, nachdem sein Militär die Möglichkeit eingebüßt hat, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren, beschränkt sich die Rolle der Koalition auf die Überwachung des Luftraums und der Bewegungen schweren Geräts am Boden. Durch eine Unterstützung der Rebellen, durch konsequente Embargos und die diplomatische Unterstützung des Wandels könnte dann ein Regimewechsel passieren, ohne dass Libyen besetzt und die Opposition diskreditiert wird – und ohne dass bei den Nachbarn den Argwohn genährt wird, es handele sich um ein neokoloniales Abenteuer.

Die Obama-Doktrin fasst Aaron David Miller in der New York Times so zusammen:

Aaron David Miller, a State Department Middle East peace negotiator during the Clinton administration, said Mr. Obama described a doctrine that, in essence, can be boiled to this: “If we can, if there’s a  moral case, if we have allies, and if we can transition out and not get stuck, we’ll move to help. The Obama doctrine is the ‘hedge your bets and make  sure you have a way out’ doctrine. He learned from  Afghanistan and Iraq.”

Ich halte es für ein Totalversagen der deutschen Diplomatie, dass wir diese begrüssenswerte Wende nicht unterstützen.

 

Die neue Stärke der Muslimbrüder

Wie weiter mit den Muslimbrüdern? Die Frage stellt sich heute anders und  dringender als noch vor Monaten. Nach einem Bericht der NYTimes gibt es Anzeichen für einen Deal der alten Regierungspartei NDP und des Militärs mit den MB in Ägypten. Bei dem erfolgreichen Referendum vor einigen Tagen konnte man diesen Deal in Kraft sehen. Statt einer grundlegenden Verfassungsreform haben die Menschen in Ägypten für eine Reparatur einiger Artikel gestimmt, die eine schnelle Parlamentswahl ermöglichen soll.

Alle diese Kräfte haben ein Interesse an einem schnellen Übergang zu Wahlen. Das Militär will raus aus der Verantwortung für das Land, ohne seine Pfründe zu verlieren. Die Mubarak-Leute wollen weiter in Verantwortung bleiben und ebenfalls ihre Pfründe retten. Und sie wollen die Demokratiebewegung in Schach halten. Die MB will die Weichen für einen Staat nach ihrem Geschmack stellen, und will ebenfalls die säkularen Kräfte der Demokratiebewegung auf die hinteren Plätze verweisen. Sehr irritierend ist die teilweise demagogische religiöse Propaganda für das Referendum, von der Michael Slackmann aus Ägypten berichtet:

The amendments essentially call for speeding up the election process so that parliamentary contests can be held before September, followed soon after by a presidential race. That expedited calendar is seen as giving an advantage to the Brotherhood and to the remnants of Mr. Mubarak’s National Democratic Party, which have established national networks. The next Parliament will oversee drafting a new constitution.Before the vote, Essam el-Erian, a Brotherhood leader and spokesman, appeared on a popular television show, “The Reality,” arguing for the government’s position in favor of the proposal. With a record turnout, the vote was hailed as a success. But the “yes” campaign was based largely on a religious appeal: voters were warned that if they did not approve the amendments, Egypt would become a secular state.

“The problem is that our country will be without a religion,” read a flier distributed in Cairo by a group calling itself the Egyptian Revolution Society. “This means that the call to the prayer will not be heard anymore like in the case of Switzerland, women will be banned from wearing the hijab like in the case of France,” it said, referring to the Muslim head scarf. “And there will be laws that allow men to get married to men and women to get married to women like in the case of America.”

A banner hung by the Muslim Brotherhood in a square in Alexandria instructed voters that it was their “religious duty” to vote “yes” on the amendments.

Die Säkularen sind noch sehr schwach organisiert. Sie können nur große Demos veranstalten, haben aber keine Organisation und vielleicht auch keinen ausreichenden Konsens für ein regelrechtes Parteiprogramm (oder gleich mehrere davon).

Sandmonkey, den ich auf Twitter angefleht hatte, endlich wieder regelrecht zu bloggen, hat dies dankenswerter Weise getan. Hat sicher nicht allein mit meinem Flehen  zu tun: Die Selbstverständigung der jungen Revolutionäre über die Zeit nach der Revolution lässt sehr zu wünschen übrig. Sandmonkey macht wichtige Vorschläge, wie die Bewegung sich in eine ernstzunehmende politische Kraft verwandeln kann.

Darunter dieser, nur scheinbar widersprüchliche:

I once suggested that we need to reach to Imams and Priests in order to get them on our side, and I was hissed at for wanting to mix Politics with Religion. Well, as much as I agree with that sentiment and truly wish we live in a country where people don’t vote based on religion, ehh..welcome to Egypt. We are religious people, and whether we like it or not, Imams and Priests are community leaders. We have to engage them, get them on our side and have them help us with the hearts and minds of their flock. An easy place to start are the individual churches and the Sufi festivals (Fun Fact of the Day: the Sufis are 16 million in Egypt. I KNOW!), get those two groups, and then focus on all the local imams that are in your area. If you manage to convince 1 Imam in every 5, you already caused them to lose a sizable part of their base.

Das ist richtig. In einem religiösen Land wie Ägypten darf die Moschee nicht der MB überlassen bleiben.

Aber wie soll der Westen nun mit der MB weiter vorgehen? Zurückhaltung oder Austausch? Ich habe in den letzten Tagen sehr unterschiedliche Signale von zwei Experten bekommen, die ich beide schätze und die ich beide nicht für verblendet oder ideologisch halte.

Ian Johnson, dessen Buch „Die Vierte Moschee“ ich in Leipzig vorgestellt habe, ist sehr skeptisch. Er rät ab, die MB durch offizielle Kontakte aufzuwerten. Er hält es für falsch zu glauben, man könne die MB politisch beeinflussen und gar für die Zwecke einer Politik im Dienste der Werte einer pluralistischen, säkularen Gesellschaft einspannen. In seiner Sicht ist die religiöse Agenda am Ende immer der Trumpf, der alles sticht. Und er hat gute Beispiele in seinem Buch.

Die MB zu Gast bei Präsident Eisenhower, 1953. Rechts außen mit Bart: Said Ramadan. Foto: Ian Johnson

Parag Khanna, den ich heute in der amerikanischen Botschaft zu einem Gespräch treffen konnte, hält die diplomatische Zurückhaltung gegenüber der MB für völlig falsch und für eine westliche Selbstüberschätzung. Gruppen, die man „isoliert“, werden dadurch nicht notwendiger Weise geschwächt. Und der Westen müsse sich schlichtweg fragen, ob man eines Tages einer neuen ägyptischen Elite gegenüber treten möchte, die man schlicht nicht kennt.

Und dann ist da noch die dritte Position von dem klugen Ray Takeyh, der einige der besten Bücher über Iran geschrieben hat. Er meint, Amerika und der Westen müssten sich eindeutig zugunsten der Säkularen positionieren:

Islamist parties can be counted on to similarly menace an inexperienced democratic order. Their deputies are extremely likely to press discriminatory legislation; their religious leaders will stimulate passions against women’s rights groups and nongovernmental organizations; and their militias will threaten secular politicians and civil society leaders who do not conform to their template. Such agitations may not garner absolute power but could still provide an opportunity for national militaries to end the region’s democratic interlude in the name of stability and order.

The answer, then, is not to exclude Islamist parties from political participation. A genuine democratic system will have to include all contending voices, however ill-intentioned and radical they may be. Washington’s challenge is to make certain that the region’s political transition does not culminate in the assumption of power by another military clique. So the United States and its allies must strengthen the political center and the democratic regimes that are coming to power in the midst of economic crisis and without the benefits of mature institutions.

A massive package of economic assistance to countries such as Egypt and Tunisia would tether these nations to the United States and would allow Washington to be clear that extremism in any guise will cause cessation of support. Even in an age of budgetary constraints, Washington may be able to generate substantial sums by channeling military aid to civilian pursuits and by collaborating with the European Union, the World Bank and the International Monetary Fund. The United States may not be able to determine the outcome of the Mideast uprisings, but it can still impose conditions and offer incentives that diminish the appeal and potency of militant actors.

Beyond such measures, Washington has the moral obligation of political partiality. During the Cold War, it did not remain passive as the forces of democracy battled the communist parties that sought to exploit post-World War II dislocation to advance sinister designs. The United States actively and at times covertly aided noncommunist forces throughout Europe, ensuring the defeat of powerful communist parties in France and Italy. In the context of the Middle East today, this means standing with emerging secular parties and youth activists as they seek to reinvent the region’s politics and finally push the Middle East into the 21st century.

The notion that America’s interventions in the Arab world have made it a toxic agent that should stand aside is a presumption of the Western intelligentsia — and one rejected by Arab protesters, the majority of whom have not uttered anti-American slogans. The springtime of the Arab world offers the United States an opportunity to reclaim its values and redeem its interests. America has a stake in the future of the Middle East and should not shy away from cultivating the nascent democratic movements sweeping the region.

 

Das deutsche Nein zum Libyen-Krieg

Mein Text aus der ZEIT von morgen, 24.3.2011, S.10:

Ein paar Wochen lang schien Deutschland am Mittelmeer zu liegen. Die deutsche Außenpolitik stand im Februar nach erstem Zögern plötzlich im Bann der arabischen Revolten. Es waren die Deutschen, nicht die Franzosen oder die Italiener, die zuerst die Chance im demokratischen Wandel der südlichen Nachbarschaft erkannten. Die Eskalation in Libyen und das deutsche Nein zum Flugverbot haben nun alles wieder gedreht. Und auf einmal ist das Mittelmeer wieder sehr breit.
Dabei war dem Außenminister, der lange mit dem Amt fremdelte, durch den Aufstand in Arabien unversehens ein Thema serviert worden: die Freiheitsliebe – welch ein Geschenk für einen Liberalen. Er trank demonstrativ Kaffee mit Bloggern in Tunis und badete in der Menge auf dem Kairoer Tahrir-Platz. Mehr als das: Deutschland preschte voran mit Hilfsangeboten für die Demokratiebewegungen und drängte auf Sanktionen gegen Despoten, während Frankreich beschämt beiseite stand wegen der Tyrannen-Kuschelei seiner Minister. Man werde die alte Arbeitsteilung in der EU – Deutschland ist für die östliche Nachbarschaft zuständig, Frankreich für den Süden – nicht mehr akzeptieren, verkündete Westerwelle auf der Höhe seiner Begeisterung. »Wir stehen an der Seite der Freiheitsbewegungen in der arabischen Welt«, deklamierte er in Kairo.
Doch vier Wochen später steht Deutschland an der Seite von Russland und China, Brasilien und Indien, mit denen es sich im Sicherheitsrat einer UN-Resolution zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung vor dem »Diktator Gadhafi« (Westerwelle) verweigert hat. Hat Deutschland sich damit in der EU, der Nato, den Vereinten Nationen und gegenüber den arabischen Staaten isoliert? Westerwelle und Merkel bestreiten es vehement, wenn auch wenig überzeugend. Ihre Bedenken gegen den Einsatz in Libyen würden von vielen Regierungen geteilt. Das mag sein. Doch noch nie hat Deutschland sich gegen alle seine wichtigen westlichen Partner gestellt. Wie ist es dahin gekommen?
Sehr früh hat Deutschland sich darauf festgelegt, eine Flugverbotszone in Libyen abzulehnen. Bei seinem Besuch in Kairo Ende Februar nannte Westerwelle sie immerhin noch eine »Option«. Aber damals schien sie nur eine sehr entfernte Möglichkeit. Skeptische Äußerungen des amerikanischen Verteidigungsministers ­Gates bestätigten die deutsche Diplomatie in ihrer Ablehnung: ein Flugverbot bedeute nichts anderes als Krieg. Man schraubte die Forderungen hoch: Die Arabische Liga müsse das Flugverbot unterstützen und sich aktiv daran beteiligen. Auch brauche es einen UN-Beschluss, um den Eindruck vom westlichen Imperialismus einer neuen Koalition der Willigen zu vermeiden. Man dürfe dem Aufstand nicht die Legitimation nehmen und dem Diktator keinen Vorwand für Propaganda liefern. Weil es unwahrscheinlich schien, dass sowohl die Araber sich einigen als auch Russen und Chinesen im Sicherheitsrat auf ihr Veto verzichten könnten, rechneten die Deutschen nicht damit, dass ihr Nein zum Flugverbot getestet würde.
Das hat sich als fatale Fehleinschätzung erwiesen: Es fing damit an, dass die Arabische Liga Anfang März erstmals einem Tyrannen aus ihren Reihen nicht mehr die Hand reichte, sondern Gadhafi zunächst ausschloss und dann ein Flugverbot forderte, um die Aufständischen zu schützen. Statt diese historische Wende zu würdigen und die Araber beim Wort zu nehmen, begann Berlin Zweifel an deren Entschlossenheit zu säen. Man verwies auf die Ambivalenz der arabischen Forderung: Flugverbot ja, Intervention nein. Das sahen die Deutschen als eine Falle: Wenn es schiefgeht, ist der Westen schuld. Unbegründet ist das nicht, wie die arabischen Absetzbewegungen nach den ersten zivilen Opfern der Luftschläge zeigen.
Doch die Forderung der Araber, wie zweideutig auch immer, setzte eine Dynamik in Gang, die Deutschlands Kalkül überrollte. Als schließlich Gadhafis Vernichtungsdrohungen gegen die Opposition in Bengasi die Weltgemeinschaft vor die Frage stellten, ob man nach Bosnien und Ruanda noch einmal einem Blutbad zusehen würde, kippte die Debatte. Hilary Clinton ließ sich von der libyschen Opposition überzeugen, und der irrlichternde Sarkozy sah plötzlich ein Chance, Frankreichs ramponiertes Ansehen bei den Arabern aufzubessern – zunächst durch Anerkennung der Opposition, dann durch diplomatischen Druck zu einer Resolution. Damit war Deutschland de facto in die unangenehme Lage gekommen, auf ein russisch-chinesisches Veto hoffen zu müssen, damit es nicht zum Schwur kommen würde. Doch so kam es am letzten Donnerstag. Die Enthaltung der beiden Vetomächte war de facto eine Zustimmung zur Intervention – ein historischer Schritt für die Gralshüter der Nichteinmischung. Deutschlands Enthaltung hingegen war in Wahrheit ein Nein.
Hätte Deutschland nicht aus Bündnissolidarität mit Ja stimmen und doch eine militärische Beteiligung ausschließen können? Westerwelle verneint diese Möglichkeit entschieden: Man wäre ohne Zweifel in die Verantwortung genommen worden. Da man aber auf keinen Fall deutsche Soldaten schicken wollte, sei nur die Enthaltung geblieben. Dies sei eine schwere Entscheidung gewesen, hart, aber richtig, und sie sei im vollen Bewusstsein der Konsequenzen gefällt worden, heißt es in Diplomatenkreisen. Wird aus einem diplomatischen Unfall jetzt auch noch eine neue Doktrin destilliert? Hätte Deutschland wirklich einem Blutbad in Bengasi zugeschaut? Oder glaubte man, sich im Zweifelsfall auf andere verlassen zu können – um nur ja eine unangenehme Kriegsdebatte im Wahlkampf vermeiden zu können? Dafür spricht, dass Angela Merkel die Unionsabgeordneten händeringend darum gebeten hat, jede öffentliche Äußerung im Hinblick auf den Wahltermin am Sonntag zu unterlassen. Schwarz-Gelb fällt damit zurück auf den Debattenstand vor der schmerzhaften rot-grünen Entscheidung, im Kosovo mitzutun.
Das Kompensationsgeschäft, das die Bundesregierung jetzt anbietet, zeigt die paradoxe Lage: Man wird deutsche Soldaten in Awacs-Flugzeugen zur Luftraumüberwachung nach Afghanistan schicken. Ende November letzten Jahres hat dieselbe Bundesregierung ebenjene Mission noch hintertrieben, die sie nun Hals über Kopf durch Kabinett und Parlament peitschen will. In Afghanistan mehr tun, weil man gegen Ga­dha­fi nicht mitmachen will? Der offizielle Grund lautet, man wolle die Nato entlasten. Mindestens so sehr aber will die Regierung sich selbst entlasten. Der Awacs-Einsatz ist ein verteidigungspolitischer Ablasshandel. Aber das ist nur ein kleines diplomatisches Desaster im Großen.
Die Regierung, sagt Heiner Geißler, »hat mit der Weigerung, sich an der Luftüberwachung Libyens zu beteiligen, unser Land in die Kumpanei mit Russland und China und in die Isolation gegenüber den arabischen Staaten und unseren westlichen Verbündeten geführt. Kein Außenminister vor Westerwelle hat es so weit kommen lassen. Selbst bei der Ablehnung des Irakkrieges durch Gerhard Schröder hatte Deutschland Frankreich an seiner Seite.«
Westerwelle beruft sich auf große Vorbilder: Schröder und Fischer
Ironischerweise sieht Westerwelle das deutsche Nein von heute in der Linie der bis heute populären rot-grünen Kriegsverweigerung von 2003. Er sieht aufseiten der heutigen Koalitionäre die gleiche Leichtfertigkeit bei der Entscheidung zum militärischen Eingreifen am Werk wie damals im Lager der Bushisten. Und er wird nicht müde zu betonen, dass sich auf eine »schiefe Ebene« begebe, wer heute in Libyen mit Luftschlägen eingreife. Soll heißen: Am Ende werden auch hier Bodentruppen in einem blutigen Bürgerkrieg stehen.
Doch der Irak-Vergleich ist eine Mogelpackung: Bushs Irakkrieg war ein mutwilliges, ideologisch gesteuertes Unternehmen, gestützt auf fabrizierte Beweise, ohne Resolution des Sicherheitsrats. Es geht heute aber nicht um regime change von außen à la Bush, sosehr auch alle Welt Gadhafis Abgang ersehnt. Ziel der Resolution ist Schutz eines Aufstands von innen, dessen blutige Niederschlagung unmittelbar bevorstand.
Die spezielle Ironie bei Westerwelles Irak-Analogie liegt darin, dass er seinerzeit selber Schröder und Fischer vorgeworfen hatte, »schäbig und unseriös« einen »Kriegsangst-Wahlkampf« zu  führen. Damals klagte Westerwelle, Schröder und Fischer seien dabei, »Deutschland zu isolieren« und forderte »zügige Neuwahlen«.  Vielleicht erklärt das, warum Joschka Fischer  jetzt mit der traditionellen Zurückhaltung eines Amtsvorgängers bricht: Westerwelle starre bei seinen Entscheidungen auf »Provinzwahlen« und  setze deutsche Interessen aufs Spiel.
Aber was heißt hier Provinz? Die Landtagswahlen am kommenden Wochenende sind unversehens nicht nur zum Referendum über eine neue Atompolitik, sondern auch über eine neue Außenpolitik geworden.

 

Warum Deutschland die Flugverbotszone unterstützen sollte

Der „Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokraten“ kritisiert die Haltung der Bundesregierung in der Libyen-Krise und lotet die Chancen des arabischen Aufstands aus:

„Mit Entsetzen nimmt der Arbeitskreis Jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten das deutsche Abstimmungsverhalten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu Kenntnis. Die Entscheidung Deutschlands sich bei der Frage der Einrichtung und Überwachung der Flugverbotszone über Libyen zu enthalten, ist skandalös genug. Noch skandalöser ist die Tatsache, dass der deutsche Außenminister nach Presseberichten versucht haben soll, weitere Mitglieder des höchsten Gremiums zur Verhinderung der Resolution zu bewegen.

Durch ihre Weigerung, die arabische Demokratiebewegung auch militärisch zu schützen, verweigert die Bundesregierung verzweifelten Menschen den Schutz vor Folter und Mord. Neben humanitären Folgen hat die Entscheidung auch Konsequenzen für die gesamte Lage im Nahen Osten, denn sie stärkt einen grausamen Gewaltherrscher, der seit Jahren aggressiv den Nahostkonflikt anheizt, Feindbilder schürt und Terroristen unterstützt.
Die Risiken eines Einsatzes über Libyen sind allen Beteiligten bewusst. Doch es gibt keinen Schutz für Menschenleben und keine Verteidigung von Menschenrechten, die ohne Risiken auskommen. Gerade im Lichte der ausgesprochenen Unterstützung seitens der arabischen Liga und weil die Entscheidung durch den multilateralen Rahmen der Vereinten Nationen legitimiert ist, bleibt das Vorgehen der Bundesregierung in dieser Frage kaum nachvollziehbar.
Erst vor kurzem ließ sich der deutsche Außenminister von der Menge auf dem Kairoer Tahiri Platz feiern. Nun kehrt er den Freiheitsaspirationen im Nachbarland Libyen den Rücken zu. Indes sind Freiheitsbestrebungen der Menschen in arabischen Staaten für sie selbst ein Anspruch und für uns alle – eine Chance. Ihren Freiheitsanspruch müssen wir begrüßen, unsere Chance müssen wir nutzen.
Weil diese Menschen einen Anspruch auf Freiheit haben, dürfen wir nicht aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen einen Schulterschluss mit Diktatoren suchen oder rechtfertigen. Einer Stabilität der Mubaraks und Ben Alis dürfen wir nicht nachweinen, stattdessen müssen wir Demokratie als natürlichen Zustand aller Völker, auch derer im Nahen und Mittleren Osten, anerkennen. Wir teilen nicht das Unbehagen unter einigen Vertretern der jüdischen Organisationen oder unter israelischen politischen Eliten angesichts der Volksaufstände in arabischen Staaten.
Wir sind der Meinung, dass die Freiheit von Menschen nicht zugunsten der regionalen Stabilität oder der Sicherheit für Nachbarstaaten geopfert werden darf. Mehr noch: Wir sehen durch die arabischen Demokratiebewegungen eine große politische und menschliche Chance: endlich könnte es möglich sein, die festverankerte Stabilität der Feindbilder und der Hetze, die seit Jahrzehnten zu Krieg und Terror im Nahen Osten führen, aufzubrechen. Gerade die Despoten der arabischen Welt haben den Frieden mit Israel durch Hetze und Unterstützung von Terrorgruppen schwerer gemacht, als er ohnehin ist. Der Konflikt mit Israel diente allen Despoten als zusätzliche Legitimation ihrer Machtansprüche. Es ist kein Zufall, dass die Hamas nach den ersten westlichen Angriffen auf die Gaddafi-Truppen aus Solidarität mit Gaddafi über Raketen auf Israel abgeschossen hat.

Wir hingegen hoffen, dass es durch demokratische Staaten mit Verfassungen, die die Menschenrechte ernst nehmen, in Israel zu einem anderen Bild von arabischen Staaten und in der arabischen Welt zu einem Umdenken gegenüber dem Westen und Israel kommt. Despoten brauchen Feindbilder zur Manipulation des Volkes. Demokratien sind zwar nicht an sich friedfertig, aber nur in einer Demokratie, wo es Meinungsfreiheit, freien Zugang zu Informationen und freie Meinungsbildung gibt, besteht die Chance, Feindbilder zu hinterfragen. So hat der Frieden eine Chance, wenn die Demokratie, bei allen Schwierigkeiten politischer und militärischer Art, eine reale Chance erhält.
Keiner kann mit Sicherheit voraussehen, ob diese Entwicklung gelingen wird, aber kaum jemand kann rechtfertigen, wenn wir aus Mutlosigkeit eine solche Entwicklung im Stich lassen. Deutschland hat die einzigartige Chance verpasst, sich als verantwortungsbewusste internationale Macht zu positionieren. (…)“

 

Deutsche Risikoreligion und Zukunftsneid

Ich halte mich gerade in London auf, um über das Thema „Beyond Multiculturalism“ zu debattieren, was im Moment einigermaßen bizarr anmutet. Die Briten haben bekanntlich, im Unterschied zu den Deutschen, Multikulti wirklich versucht – als offizielle Politik. Bei uns ist das ja nur eine billige Hassfigur, auf die man alles projizieren kann. Multikulturelle Politik hat es in Wahrheit nie gegeben in Deutschland. Immer ging es um Segregation, Assmilation, Integration, Leitkultur: das politische Ideal war Homogenität, die Parallelgesellschaft ist bis heute ein Unwort (total dumm, Parallelgesellschaft ist ein wichtiges Funktionselement jeder Einwanderungsgesellschaft; das Problem ist eher gesellschaftliche Anomie als funktionierende Parallelität). Aber ich schweife ab, darum geht es erst morgen. Ich dachte, es könnte aus aktuellem Anlass interessant sein, noch einmal auf einen Aufsatz über verschiedene Risikokulturen und -religionen zurückzukommen, den ich vor 3 Jahren im Merkur veröffentlich habe. UK hat eine sehr andere Risikokultur als Deutschland: hier ist die Boulevardpresse voller Geschichten über Tsunami-Opfer. Das Atom-Thema steht im Hintergrund. Bei uns ist es umgekehrt.

Wenn ich die Selbstauskunft der britischen Zeitschrift The Economist lese, packt mich jedes Mal der Neid: „Diese Zeitung“, steht da, wird seit dem Jahr 1843 veröffentlicht, „um teilzunehmen an dem harten Wettstreit zwischen der Intelligenz, die vorwärts drängt, und einer unwerten, ängstlichen Ignoranz, die unseren Fortschritt verhindert“. Das altliberale Bekenntnis des Economist mit seiner in 165 Jahren ungebrochen kämpferischen Fortschrittsidee, die sich in großer Selbstverständlichkeit gegen „ängstliche Ignoranz“ stellt, macht mich eifersüchtig.

Warum es solche progressiv-liberale Selbstgewissheit hierzulande – jedenfalls als bedeutsame politische Strömung – nie gegeben hat und vielleicht auch niemals geben kann, muss an dieser Stelle nicht erklärt werden. Nur so viel: Im selben Jahr 1843, in dem der schottische Hutmacher und spätere Parlamentsabgeordnete James Wilson den Economist gründete, um Freihandel und gesellschaftlichen Liberalismus zu propagieren, reiste Heinrich Heine durchs winterliche Deutschland, dessen Rückständigkeit er im darauf folgenden Jahr sein sarkastisches Denkmal setzte. Der erste Economist und Deutschland. Ein Wintermärchen sind Gründungsdokumente zweier Gestalten des Liberalismus: offener Kampf für den Fortschritt dort, elegisch-bittere Klage über seine Verhinderung hier.

Wer in den ängstlichen und am Ende zunehmend verbitterten siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgewachsen ist, für den wird das Wort „Fortschritt“ wohl für immer einen verbotenen und leicht frivolen Klang behalten. Merkwürdig ist das allerdings: Denn man legte damals ja eigentlich großen Wert darauf, als „progressiv“ zu gelten. Doch zu den „Progressiven“ zu gehören bedeutete, auf den Fortschritt in Wissenschaft und Technik herabzuschauen und sich über den „Fortschrittsglauben“ der Zeit zu mokieren.

Das war nicht immer so gewesen. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten glaubte man eine Weile lang an die Unteilbarkeit der Moderne als ästhetisches, gesellschaftliches und technisch-industrielles Projekt. Irgendwo in der Mitte der siebziger Jahre war dieser Glaube abhanden gekommen. Das war mehr als eine Zeitgeistwendung. Denn auf eine unheimliche Weise haben wir diese siebziger Jahre nie mehr verlassen. Die verschiedenen Stränge der Moderne konnten, einmal aufgedröselt, nicht wieder zusammengeführt werden. Und was als Fortschrittsskepsis einer kleinen Avantgarde begann, ist zum gesellschaftlichen Mainstream geworden. Es geht dabei nicht nur um deutsche Mentalitätsgeschichte, auch wenn sich in dem Land, das mit der Geschichtsphilosophie auch den Kulturpessimismus hervorgebracht hat, die Dinge zweifellos besonders verdichten… (Mehr lesen.)

 

Die „Zäsur“ von Fukushima

Es ist lustig, dass nun überall – angesichts der Situation in Japan – von einer „Zäsur“ die Rede ist. Vor allem von seiten derjenigen, die eben noch die Laufzeit der Atomkraftwerke verlängert haben und eigentlich den Ausstieg aus dem Ausstieg einläuten wollten.

Mit den Ereignissen von Fukushima soll nun alles anders sein. Warum eigentlich? So ein Erdbeben werden wir hier nicht erleben, und einen Tsunami wohl auch nicht.

Was also ist geeignet, an den japanischen Ereignissen auch Deutsche zu beeindrucken? Die Tatsache, dass auch doppelte und dreifache Kühlsysteme durch eine Verkettung von Umständen ausfallen können?

Das konnte man auch vorher wissen. Vor ein paar Jahren war ich im schwedischen Forsmark, als dort die Notsysteme versagt hatten. Man hatte nur kurz vor einem schweren Unfall gestanden. Forsmark – betrieben von Vattenfall – war übrigens der Reaktor, dessen Crew als erstes die Strahlung von Tschernobyl gemessen hatte.
Die Folgen dieses Beinahe-Unglücks mitten in Europa für die deutsche Debatte: Null.

Die schwarzgelbe Regierung hat stattdessen den Atomausstieg vertagt, um gegen Rotgrün ein Zeichen zu setzen. Man wollte signalisieren, dass Deutschland keine „Dagegen-Republik“ wird, was die Atomkraft angeht. Westerwelle hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die ganze Welt das nicht so eng sieht mit dem Restrisiko und auf Atomstrom setzt. Atomkraftwerke in Hochtechnologieländern sind sicher, das war die Botschaft. Wir wollen mitverdienen an der „Renaissance“ der Kernernergie. Tschernobyl war über die Jahre zu einem Freak-Ereignis herabgestuft worden, das bedauernswerte Stolpern eines todgeweihten Systems – letztlich irrelevant für uns.

Das Spiel ist mit Fukushima vorbei, und insofern gibt es tatsächlich eine Zäsur. Aber die Rede von der Zeitenwende hat für die regierende Koalition die durchsichtige Funktion, diejenigen ins Unrecht zu setzen, die schon seit Jahrzehnten sagen, dass die Atomenergie keine Zukunft hat, weil sie nicht beherrschbar ist. Alles soll sich nun erst durch die Ereignisse in Japan gewendet haben. Dieselben Politiker, die eben noch stolz auf die Verlängerung waren, die sie im „Herbst der Entscheidungen“ durchgeboxt hatten, sind nun im Wettkampf darum, wer am schnellsten ausschaltet: Neckarwestheim ist schon geopfert, Biblis wird folgen, und ich kann schon vor meinem geistigen Auge  sehen, wie Horst Seehofer Isar abschaltet.

Geschieht ihnen recht. Ich finde es bizarr, wenn nun gesagt wird, dies sei keine Zeit für Parteipolitik. Wann denn, bitte schön, wenn nicht jetzt?

Es ist richtig, dass den Politikern, die jahrzehntelange informierte Bedenken als dumpfes Dagegen-Sein abtun wollten, ihre eigenen Entscheidungen auf die Füße fallen. Wir leben in einer Demokratie, in der nicht durchsetzungsfähige Technologien mit so hohen (politischen) Kosten verbunden sind, dass sie dann eben nicht weiter durchgedrückt werden können.

Rotgrün musste unter Schmerzen und gegen die Instinkte seiner Wähler zwei Dinge tun: Einen Krieg führen und den Sozialstaat reformieren.

Schwarzgelb hat noch nicht eine einzige Sache gemacht, die bei den eigenen Leuten etwas kostet (nicht einmal die Abschaffung der Wehrpflicht ist ein kontroverses Thema). Der Atomausstieg und die entschlossene Förderung der Erneuerbaren könnte diese Herausforderung werden.

p.s. Sicher hat sich schon mancher gefragt, ob das hier nicht völlig o T ist. Nein. Alexander Dobrindt, der Vordenker der Christsozialen, hat auf geniale Weise den Zusammenhang von Integration- und Atomdebatte aufgezeigt:

 

Das Massaker von Itamar

Wegen anderer Nachrichten wird eine Tat nicht genügend wahrgenommen, die womöglich gravierende Folgen haben wird: Das abscheuliche Massaker an einer Familie israelischer Siedler im Westjordanland. Das Ehepaar Fogel und drei ihrer Kinder wurden  vor wenigen Tagen in der Siedlung Itamar auf grausame Weise ermordet. Einem drei Monate alten Baby wurde die Kehle durchgeschnitten.

Es gibt unbestätigte Angaben, dass sich die Al-Aksa-Märtyerbrigaden zu den Morden bekannt hätten. In Rafah (Gaza) wurden Süßigkeiten verteilt, um die Tat zu feiern. Der Palästinensische Premierminister Salam Fajad hingegen verurteilte die Tat.

Die israelische Regierung hat sich entschlossen, die grausigen Bilder der Opfer zu veröffentlichen – um zu zeigen, mit welcher Art von Feind es Israel zu tun hat. Kurz nach dem Bekanntwerden der Tat verkündete die Regierung, man werde 400 neue Wohnungen im Westjordanland genehmigen. Damit wird der Siedlungsbau regierungsamtlich zu einer Art Vergeltungsaktion deklariert  – eine verhängnisvolle Eskalation als Antwort auf eine Eskalation der anderen Seite. Denn die Siedler rücken so noch mehr in den Fokus des Krieges.

Die Täter verfolgen, sie stellen und sie einer gerechten Strafe zuführen – das wäre die richtige Reaktion. Warum aber deren Hasspropaganda – dass Siedler keine Zivilisten sind und selbst Kinder darum getötet werden dürfen – entgegenkommen, indem man Siedlungsbau als Antwort auf ein Massaker weitertreibt? Unterminiert man damit nicht die eigene Position?

Aber jenseits jeder Debatte über die israelische Politik muss man sich diese Tat vor Augen halten: Sie ist in ihrer Bestialität in der Tat so erschreckend, dass sich ein Abgrund öffnet. Ein Familie, im Schlaf abgeschlachtet. Das hat etwas von Ritualmord. Die Kombination der Bilder von den in ihrem Blut liegenden Fogels mit denen von den Süßigkeitenverteilern in Rafah wird nicht ohne Wirkung auf die israelische Psyche bleiben.

Palästinenserpräsident Abbas scheint das zu sehen, wenn er heute den Mord von Itamar „ekelhaft, unmoralisch und unmenschlich“ nennt. Aber ob er mit seinen Worten noch jemand erreicht? Die Bilder könnten stärker sein. Es hat erst mehrere Tage mit Aufforderungen aus Israel gebraucht, bis Abbas diese Worte fand.

 

Was tun gegen den Barbaren von Tripoli?

Es ist wenig bekannt, dass der erste unkonventionelle internationale Krieg der Vereinigten Staaten gegen jene (Räuber-)Staaten geführt wurde, die man damals als die „Barbarenküste“ zusammenfasste: die Piratenherrschaftstümer von Algier, Marokko und Tripoli. Thomas Jefferson führte als Präsident einen jahrelangen Krieg gegen den Herrscher von Tripoli, weil er nicht bereit war, wie die europäischen Mächte eine regelmäßige Tribut- und Lösegeldzahlung zu erbringen. Immer wieder wurden Schiffe im Mittelmeer von den Korsaren der Barbaren (i.e. „Berber“) aufgebracht. Der Handel der westlichen Mächte litt unter dieser Piraterie.
Jefferson wollte bereits als Außenminister eine internationale Koalition gegen die Piraten zusammenbringen, scheiterte aber an den Europäern, die kühl die Kosten kalkulierten und Tributzahlungen günstiger als Krieg fanden. Doch als Präsident der jungen amerikanischen Nation zog er dann mit der Navy in den Krieg:

When Jefferson became president in 1801 he refused to accede to Tripoli’s demands for an immediate payment of $225,000 and an annual payment of $25,000. The pasha of Tripoli then declared war on the United States. Although as secretary of state and vice president he had opposed developing an American navy capable of anything more than coastal defense, President Jefferson dispatched a squadron of naval vessels to the Mediterranean. As he declared in his first annual message to Congress: „To this state of general peace with which we have been blessed, one only exception exists. Tripoli, the least considerable of the Barbary States, had come forward with demands unfounded either in right or in compact, and had permitted itself to denounce war, on our failure to comply before a given day. The style of the demand admitted but one answer. I sent a small squadron of frigates into the Mediterranean. . . .“

The American show of force quickly awed Tunis and Algiers into breaking their alliance with Tripoli.

Es hat eine besondere Resonanz in den USA, wenn die Welt auch heute wieder einem Räuber von Tripoli gegenübersteht – und sich über die Frage zerstreitet, ob man gegen ihn in den Krieg ziehen soll.

 

Seehofer: Bis zur letzten Patrone gegen Zuwanderung

Nein, Horst Seehofer hat bei seiner Aschermittwochsrede nicht damit gedroht, auf „Zuwanderer in die Sozialsysteme“ zu schießen.
Er hat lediglich gesagt, er werde sich in der Berliner Koalition „bis zur letzten Patrone“ dagegen wehren, dass „wir eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme bekommen“. Schießen wird Horst Seehofer also, wenn man ihn beim Wort nimmt, vorerst nur auf den Koalitionspartner, wie es ja übrigens auch seit Jahrzehnten gute Sitte unter den Unionsparteien und vor allem zwischen FDP und CSU ist.
Trotzdem ist diese Äußerung des Parteivorsitzenden eine ungeheuerliche Entgleisung der politischen Rede in diesem Land. Die Metaphorik des bewaffneten Kampfes gegen Einwanderung in Stellung zu bringen, bedeutet eine unverantwortliche Eskalation des Diskurses.
Es war einmal ein Grundsatz des aufgeklärten Konservatismus, dass „Ideen Konsequenzen haben“. Dass es auf einen verantwortlichen Umgang mit Worten und Parolen ankommt.
Als die Linke in den sechziger und siebziger Jahren begann, mit dem radical chic der Gewalt zu flirten, haben Konservative zu Recht vor den Konsequenzen gewarnt: Redet nur lange genug von „Bullenschweinen“, vom „System“ und seinen „Charaktermasken“ und dem legitimen „Widerstand“ dagegen – und bald wird irgendwer schießen. So ist es dann ja auch gekommen: Die Enthemmung der Gedanken ging dem politischen Morden voraus.
Horst Seehofer hat nun die Metaphorik bewaffneten Widerstands gegen Einwanderung bierhallenfähig gemacht. Was wird er sagen, wenn demnächst irgendjemand schießt und sich auf ihn beruft?

Es ist ein Skandal. Man stelle sich mal vor, der viel kritisierte Erdogan hätte in seiner Rede in Düsseldorf gesagt, er werde bis zur letzten Patrone für die türkische Identität kämpfen? Es hätte zu Recht einen Aufruhr gegeben.
Die rechte Mitte ist auf einer abschüssigen Bahn. Sie ist dabei, ihre Funktion aufzugeben, rechtsextreme Tendenzen zu neutralisieren und zu bekämpfen. Sie füttert sie jetzt munter mit an.
Wo ist der Aufschrei der Kirchen gegen die inhumane Rhetorik des christsozialen großen Vorsitzenden? Es ist ein Skandal, dass sich kaum jemand darüber aufregt.