Amerika braucht eine neue Politik im Mittleren Osten

Auf Andrew Bacevich bin ich 2008 aufmerksam geworden, als ich für einige Monate in Boston lebte. Der Wahlkampf McCain gegen Obama nahm Fahrt auf, die Immobilienkrise stürzte die USA in große Selbstzweifel, die Kriege im Mittleren Osten entwickelten sich zu einem einzigen, riesigen Treibsand.

Bacevich, damals Professor an der Bostin University, ist eine einmalige Erscheinung in der amerikanischen Debatte. Ex-Marine, West-Point-Absolvent, Konservativer (geprägt vom „christlichen Realisten“ Reinhold Niebuhr) – und dabei der schärfste und scharfsinnigste Kritiker der amerikanischen Außenpolitik. Sein Buch über die „Grenzen der amerikanischen Macht“ aus dem Jahr 2008 liest sich heute geradezu prophetisch. Ich sprach mit Bacevich Ende Dezember im Rahmen einer Recherche. Hier folgt das Interview in ganzer Länge.

ZEIT: Professor Bacevich, Sie haben in einem Buch die „Grenzen der amerikanischen Macht“ beschrieben. Es erschien schon vor acht Jahren, heute liest es sich prophetisch, denn diese Grenzen werden dieser Tage überall evident: im Umgang mit Russland und China, im Syrienkonflikt, in der Chaotisierung des Mittleren Ostens.

Andrew Bacevich: Drei Argumente dafür, dass wir heute eine Krise der amerikanischen Macht erleben, gelten heute sogar mehr noch als damals. Erstens gibt es eine Krise durch Verschwendung. Amerika lebt seit Jahrzehnten über seine Verhältnisse. Das wirkt sich kulturell, ökonomisch und geopolitisch aus. Der Kern ist ein falsches, konsumistisches Verständnis von Freiheit, das Amerika abhängig gemacht hat von billigem Öl und billigem Geld. Die zweite Krise ist politischer Art. Der Kongress ist dysfunktional geworden durch die politische Spaltung des Landes und durch den geradezu grotesken Einfluss der Sonderinteressen und Lobbies. Der Präsident hat im Zuge dessen immer weitgehendere Vollmachten erhalten und ist eine nahezu messianische Figur geworden, die unmöglich die auf sie gerichteten Erwartungen erfüllen kann. Wir haben eine „imperiale Präsidentschaft“. Die dritte Krise schließlich ist militärischen Charakters. Das amerikanische Militär ist zu einem Instrument geworden, mit dem wir überall unsere Interessen durchzusetzen versuchen und die Welt nach unserem Bilde formen. Die militärische Krise hängt mit den anderen beiden zusammen: Man erwartet von militärischer Macht Lösungen für Probleme, die aus den ersten beiden Krisen entstehen.

ZEIT: Barack Obama ist aber doch gerade für das Versprechen gewählt worden, die Kriege im Mittleren Osten zu beenden. Wie passt das zu ihrer Diagnose einer imperialen Präsidentschaft?

Bacevich: Ich glaube nicht, dass ihr Bild von Obama korrekt ist. Obama hat 2008 gewonnen, weil er zwischen dem ’notwendigen‘ Krieg in Afghanistan und dem ‚dummen‘ Krieg im Irak unterschied. Er war kein Antikriegskandidat, er war nur gegen den Irakkrieg. Jetzt, da wir das Ende seiner Amtszeit erreichen, muss man feststellen, dass er entgegen der allgemeinen Wahrnehmung den großen amerikanischen Krieg im Mittleren Osten ausgeweitet hat. Weiter„Amerika braucht eine neue Politik im Mittleren Osten“

 

Warum sich Israels Lage im postamerikanischen Nahen Osten verbessert hat

Am Dienstag hatte ich Gelegenheit, mit Generalmajor a.D. Amos Yadlin zu sprechen. Er leitet Israels bedeutendsten Thinktank INSS. Yadlin war Kampfpilot in der israelischen Luftwaffe. Er gehörte zu dem Team, das 1981 den irakischen Atomreaktor Osirak zerstörte. Später diente Yadlin unter anderem als Chef des Militärgeheimdienstes. Im letzten Wahlkampf trat er als Schatten-Verteidigungsminister im (unterlegenen) Lager des Labour-Kandidaten Isaac Herzog an.

DIE ZEIT: General Yadlin, es tobt seit Jahren Bürgerkrieg in Syrien, nun zunehmend unter globaler Beteiligung, es gibt eine russische Intervention, türkisch-russische Spannungen, und der Islamische Staat macht sich in zwei zerfallenen Staaten ihrer Nachbarschaft breit. Erleben wir heute in Israels Region die ersten Momente eines postamerikanischen Nahen Ostens? Weiter„Warum sich Israels Lage im postamerikanischen Nahen Osten verbessert hat“

 

„Wertegebundene Außenpolitik ist abwegig“ (Helmut Schmidt)

Zunächst mal: Ich vermisse das hier.

Das Bloggen war jahrelang ein gutes Mittel, den Phantomschmerz des Tageszeitungsredakteurs zu betäuben, den es in ein Wochenmedium verschlagen hatte. Zunächst musste ich es fast ein bisschen undercover betreiben, weil es in unserem Hause als Ablenkung von der eigentlichen Arbeit galt (was ja auch sein kann). Inzwischen hat sich die Haltung des Hauses zum Digitalen deutlich verändert. Chefredakteure twittern und erfreuen sich ihrer Follower. ZEIT Online ist ein respektierter eigener Zweig der Publikation, Print-Redakteure machen sogar Hospitanzen bei den Onlinern und kommen beeindruckt von deren Professionalität und Arbeitsrythmus zurück, dessen Schlagzahl für Angehörige des Dead-Tree-Zweigs unseres Hauses furchterregend ist.

Weiter„„Wertegebundene Außenpolitik ist abwegig“ (Helmut Schmidt)“

 

Putins Kalter Krieg um Syrien

Während die Zerstörer im Mittelmeer schon auf Syrien ausgerichtet werden und der Kongress in Washington sich noch auf ein Votum über Krieg und Frieden vorbereitet, haben sich dieser Tage Präsidenten, Kanzler und Premierminister der 20 größten Industrienationen und Schwellenländer in St. Petersburg getroffen. Über Korruption und Finanzregeln wollte man eigentlich reden, doch in Wahrheit gab es diesmal nur ein Thema: Syrien.

Weiter„Putins Kalter Krieg um Syrien“

 

Warum gegenüber Ägypten eine klare Sprache gefordert ist

Diesen Text haben mein Kollege Michael Thumann und ich zusammen für die letzte Ausgabe der ZEIT verfasst, wo er am Donnerstag auf Seite 3 erschienen ist:

Als am letzten Donnerstag die Bulldozer, die Panzer und die Sniper in Kairo zuschlugen, waren die beiden Diplomaten schon abgezogen. Voll finsterer Vorahnungen hatten die Vertreter des Westens Ägypten verlassen. William Burns, der amerikanische Vizeaußenminister, und Bernardino Léon, der europäische Sondergesandte, hatten wochenlang hinter den Kulissen versucht, zwischen der Putsch-Regierung des Generals Abdel-Fattah al-Sissi und den Muslimbrüdern zu vermitteln, um ein drohendes Blutbad zu verhindern. Sie hatten die Islamisten für ihren Vermittlungsplan gewonnen – freiwillige Verkleinerung der Protestlager und Verurteilung von Gewalt gegen politische Beteiligung und Freilas-sung von Gefangenen. Auch die Regierung signa-lisierte Einverständnis. Doch dann erklärte sie über Nacht die Diplomatie für gescheitert und kündigte an, für alles Kommende trügen die Muslimbrüder die Verantwortung.

Weiter„Warum gegenüber Ägypten eine klare Sprache gefordert ist“

 

Syrien als Schlachtfeld eines Stellvertreterkriegs

Mein Wochenkommentar im Deutschlandradio vom vergangenen Samstag (Audio hier):

Mark Sykes hieß der britische Soldat und Diplomat, der den Nahen Osten schuf, so wie wir ihn kennen. Von ihm ist der Satz überliefert: „Ich möchte eine Linie ziehen vom O in Akko bis zum letzten K in Kirkuk.“ Akko, das liegt am Mittelmeer bei Haifa, Kirkuk im Norden Iraks.

Weiter„Syrien als Schlachtfeld eines Stellvertreterkriegs“

 

Wie deutsch-russische Gasgeschäfte den Neoimperialismus Putins befördern

Andreas Umland, Experte für den postsowjetischen Raum und besonders die Ukraine, schickt mir diesen interessanten Aufsatz über die Hintergründe und Gefahren der deutsch-russischen Energiegeschäfte. 

In der bisherigen Diskussion um die deutsche Russlandpolitik spielte die ethische Vertretbarkeit und politische Sinnhaftigkeit der deutsch-russischen Modernisierungspartnerschaft eine zentrale Rolle. Unberührt blieb die Frage nach den geostrategischen Unwägbarkeiten der deutschen Wirtschaftskooperation mit einer postimperialen Präsidialdiktatur. Hier soll kurz auf die sicherheitspolitischen Risiken der zunehmenden Beteiligung deutscher Unternehmen und öffentlicher Figuren an der Geoökonomie Osteuropas – insbesondere an russischen Pipelinevorhaben – eingegangen werden. Diese Projekte erscheinen oberflächlich betrachtet als westeuropäisch-russische Unternehmungen. Ihre geopolitischen Rückwirkungen sind jedoch eng mit der künftigen Integrität und Souveränität einiger nichtrussischer ehemaligen Sowjetrepubliken – allen voran der Ukraine – verbunden. Während für die deutsche Öffentlichkeit dieser Nexus im Hintergrund bleibt, stellt sich für Ukrainer der enge Zusammenhang zwischen den deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen einerseits und der Zukunft des ukrainischen Staates andererseits als offensichtlicher Fakt dar.

Die an der geoökonomischen Kooperation mit dem Kreml beteiligten deutschen Politiker und Manager würden sich zwar dagegen verwahren, mit russischen neoimperialen Schemata in Verbindung gebracht zu werden. Wer immer mit der Funktionsweise der Innen- und Außenpolitik der gegenwärtigen Kremlführung vertraut ist, weiß jedoch, dass die Aktivitäten staatlicher russischer Großkonzerne nicht nur ökonomischen Richtlinien folgen. Dies gilt vor allem für den größten derartigen Akteur, den Gazprom-Konzern, welcher in diverse politisch als auch geoökonomisch bedeutsame Projekte inner- und außerhalb Russland involviert ist. Hierbei – wie nicht zuletzt der gegenwärtige Streit um den Gaspreis für die Ukraine illustriert – stehen Profitstreben und geopolitisches Kalkül nicht notwendigerweise im Widerspruch zueinander.

Jeder mit dem russischen außenpolitischen Denken vertraute wird ebenfalls bestätigen, dass eine, wenn nicht die Priorität Russlands im sog. „Nahen Ausland“ die Ukraine ist. Der Wegfall Kiews als Wiege aller drei ostslawischer Titularnationen – der „Groß-“, „Klein-“ und „Weißrussen“ – erzeugt bis heute Phantomschmerzen in der russischen Volksseele. Ein besonderes russisches Ärgernis am Zerfall der Sowjetunion ist, dass die von ethnischen Russen dominierte sowie nationalmythologisch, militärstrategisch sowie touristisch bedeutsame Schwarzmeerhalbinsel Krim durch einen historischen Zufall an die Ukraine und nicht an Russland fiel. Ein außenpolitisches Hauptziel des Kremls ist heute eine möglichst enge neue Anbindung der Ukraine an die Russische Föderation und im Idealfall die Schaffung einer neuen Union der drei ostslawischen (mit einigen weiteren ehemaligen sowjetischen) Republiken – unter, versteht sich, Moskauer Führung.

In diesem Kontext führt die Kombination des erheblichen – wenn auch weitgehend rohstoffbasierten – wirtschaftlichen Potentials Russlands mit den privatwirtschaftlichen Interessen bestimmter deutscher Politiker und Unternehmer zu einer ungesunden Gemengelage. Der Kreml nutzt geschickt deutsche Unwissenheit, Unbekümmertheit oder Selbsttäuschung betreffs der Motive und des geostrategischen Kontexts russischer Außenwirtschaftspolitik in Osteuropa. Die Ostseegaspipeline Nord Stream ist als längste Unterwassergasleitung der Welt und eines der größten Infrastrukturprojekte der Geschichte Europas bislang das prominenteste Beispiel: Sie transportiert auf dem Meeresgrund direkt nach Deutschland russisches Gas, welches ansonsten größtenteils durch die Ukraine fließen würde. Diese Umleitung an der Ukraine vorbei ist auch primärer Sinn und Zweck der kostspieligen Pipeline. Dabei kommt Russland gelegen, dass in der Sowjetunion zunächst die ukrainischen Gasfelder (mit Ausnahme der Schiefergasvorkommen) ausgefördert wurden, während ein erheblicher Teil der konventionellen sibirischen Lagerstätten lange unberührt blieb.

Womöglich wird auch das, aufgrund der größeren Tiefe des Schwarzen Meeres, noch teurere russische Parallelprojekt South Stream verwirklicht werden. Die Schaffung einer zweiten Unterwasserleitung auf dem Schwarzmeergrund hätte nachhaltige Folgen für die russisch-ukrainischen Beziehungen. In Kombination mit Nord Stream und Beltransgaz, die bereits vollständig von Gazprom kontrollierte belarussische Gasleitung, würde South Stream den größten strategischen Aktivposten der Ukraine, ihr Pipelinеnetzwerk, in – so Gazpromchef Alexej Miller – „Schrott“ verwandeln. Dies hätte eine stärkere Kräfteverschiebung in Osteuropa zur Folge, als sie ohnehin durch die schrittweise Inbetriebnahme der Nord Stream-Stränge 2011-2012 geschehen ist. Eine solch tiefgreifende Veränderung der Machtkonstellationen in Osteuropa birgt Risiken für die transeuropäische Sicherheitsarchitektur.

Verschiedene deutsche Firmen und öffentliche Figuren haben sich auf eine unverhältnismäßig enge Kooperation mit staatlichen oder regierungsnahen russischen Akteuren eingelassen. So wundert die prominente Rolle ehemaliger SPD-Politiker im Gazprom-Firmenimperium: Exbundeskanzler Gerhard Schröder ist seit 2005 Vorsitzender des Aufsichtsrates der Betreibergesellschaft von Nord Stream, während der ehemalige Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau seit April 2012 die gleiche Funktion in der South Stream Transport AG ausübt. Es verblüfft, wie ungeniert sich hohe Vertreter der deutschen Sozialdemokratie für einen Staatskonzern von Putins autoritärem Regime sowie dessen dubiose geoökomische Projekte einsetzen. Die ukrainische nationaldemokratische Opposition verbindet diese Erscheinung zudem mit der merkwürdigen Kooperationsbeziehung, welche die sozialdemokratische Fraktion des Europäischen Parlaments mit Janukowytschs Partei der Regionen unterhält. Bezeichnenderweise treten neben den europäischen Sozialdemokraten die Putins „Einiges Russland“ sowie die Kommunistische Partei Chinas als Partner dieser Partei auf.

In Deutschland ist die Anrüchigkeit des politökonomischen Sonderverhältnisses eines Teils der deutschen Elite zu Russland zwar gelegentliches Thema bissiger journalistischer Kommentare. Doch fanden Diskussionen um etwaige Kollateralschäden, geostrategische Implikationen und langfristige Folgen lange nur hinter vorgehaltener Hand statt. In der Ukraine sowie ukrainischen Diaspora ist die deutsch-russische politische Freundschaft und wachsende wirtschaftliche Verflechtung in den letzten Monaten ein medialer Dauerbrenner geworden. Grund dafür ist die ukrainische Perzeption, dass Deutschland osteuropäische Energiepolitik auf Kosten ukrainischer Souveränität betreibt. Diese Schuldzuweisung ist zwar als solche irreführend.

Zum einen muss jedoch in Rechnung gestellt werden, dass der ukrainische Staat noch jung und daher objektiv fragil ist. Was auch immer den Anschein einer Gefahr für die gerade erst errungene Unabhängigkeit erweckt, wird von der nervösen ukrainischen Intelligenzija mit Argusaugen beobachtet. Die sichtliche Ungehaltenheit und gelegentlichen Übertreibungen in ukrainischen Bewertungen deutscher Russlandpolitik sind von Misstrauen weniger gegenüber Berlin, als den Absichten des Kremls bezüglich der Ukraine geprägt.

Zum anderen ist die ökonomische – und womöglich auch ökologische – Rechtfertigung für die aufwändigen Unterwassergasleitungen angesichts der hohen, wenn auch renovierungsbedürftigen Transportkapazitäten der Ukraine löchrig. Die Gesamtkosten für Nord und South Stream könnten bis zu 40 Mrd. € ausmachen. Es gäbe alternative, günstigere Strategien zur Sicherung der europäischen Gasversorgung als die kostspieligen Offshore-Pipelines. Mit der vollen Inbetriebnahme von Nord Stream Ende 2012 liegen die russischen Gastransportkapazitäten Richtung EU bereits bei ca. 250 Mrd. Kubikmetern, obwohl die tatsächlichen Gasexporte beispielsweise für das Jahr 2011 lediglich 112 Mrd. Kubikmeter betrugen.

Die Umleitungen werden manchmal damit begründet, dass Russland der für den Westen historisch präferierte Partner in Energiefragen sei. Moskau habe selbst während des Kalten Krieges und trotz wiederholter politischer Eskalation nie die Energieversorgung für Westeuropa in Frage stellte. Unklar bleibt dabei allerdings, warum die frühere Lieferzuverlässigkeit der UdSSR heute lediglich Russland gutgerechnet, aber nicht auf die ebenfalls zur damaligen Sowjetunion gehörenden Ukraine und Belarus bezogen wird. Auch die Gegenüberstellung der ukrainischen pluralistischen Instabilität einerseits und der russischen autoritären Stabilität andererseits hat seit den Moskauer Dezemberprotesten von 2011 an Überzeugungskraft verloren. Dass die Russische Föderation in den vergangenen 20 Jahren sowohl im In- als auch Ausland in diverse kriegerische Aktionen verwickelt war, während die unabhängige Ukraine sich – trotz aller Handgreiflichkeiten im Parlament – seit 1991 erstaunlich friedvoll entwickelte, wird in solchen Argumentationen ohnedies meist unterschlagen.

Darüber hinaus ist das Verhalten Russlands in der europäischen Energiepolitik wenig vertrauenserweckend. So stieg der Kreml 2009 aus der – von der Ukraine bereits ratifizierten – Europäischen Energiecharta wieder aus. Die Betreibergesellschaften sowohl von Nord als auch South Stream sind, obwohl vor allem mit der Gasversorgung von EU-Mitgliedsstaaten betraut, in dem unter Beobachtern postsowjetischer Oligarchen gut bekannten Schweizer Kanton Zug registriert. Während der Kältewelle vom Februar 2012 zeigte sich die „selektive Verlässlichkeit“ von Gazprom als Energielieferant, der den gestiegenen Bedarf an Gas sowohl inner- als auch außerhalb Russlands nicht befriedigen konnte und seine Vertragserfüllung von politischen Präferenzen des Kremls abhängig machte.

Häufig werden die Gasstreits zwischen der Ukraine und Russland der letzten Jahre sowie ihre Auswirkungen auf die EU und das Risiko weiterer derartiger Auseinandersetzungen als Argument für die Umgehungsleitungen in der Ostsee und im Schwarzen Meer ins Feld geführt. Auch ist unbestritten, dass die heutigen Energieprobleme der Ukraine zu einem erheblichen Maße hausgemacht sind und viel mit grassierender Korruption sowie mangelndem Reformwillen in Kiew zu tun haben. Die ukrainische Führung allein ist dafür verantwortlich, dass der sich verschlechternde Zustand des ukrainischen Pipelinenetzes das westliche Interesse an den russischen Pipelineprojekten steigen lässt.

Zum einen ist jedoch die Frage nach dem Maß an ukrainischer versus russischer Verantwortung für die Lieferstopps Anfang 2006 und 2009 bislang ungeklärt. Unter Druck aus etlichen europäischen Hauptstädten schloss die damalige Premierministerin der Ukraine, Julia Tymoschenko, im Januar 2009 einen Gasvertrag mit dem russischen Premierminister Wladimir Putin ab. Dass die ukrainische Führung damals offenbar keine Möglichkeit hatte, einen für die Ukraine akzeptablen Deal auszuhandeln, indiziert z.B. die dubiose „Take-or-pay“-Bedingung des ursprünglichen Vertrages, welche den Käufer mit hohen Strafen belegen, wenn er die vertraglich festgelegte Liefermenge nicht abnimmt. Bezeichnenderweise wurde diese Klausel bereits im November 2009 wieder zeitweise ausgesetzt.

Der Gasvertrag von 2009 führt heute zu einem höheren Gaspreis für die Ukraine als für das reiche Deutschland. Und dies obwohl die Ukraine durch das Charkiwer Abkommen von 2010 ein $100/1000m³-Discount im Austausch für eine Verlängerung des Mietvertrages für den 18.240 Hektar umfassenden Stützpunkt der russische Schwarzmeerflotte in und um Sewastopol bis 2042 bzw. 2047 erhält. Der trotz des Abschlages auch weiterhin stolze ukrainische Preis für russisches Gas droht den ohnehin fragilen Staatshaushalt der Ukraine zu strangulieren. Dieser Umstand und die Unnachgiebigkeit der russischen Seite bei den Verhandlungen um eine Neufestlegung des ukrainischen Gaspreises lassen Moskau heute als klaren Gewinner des – wie auch immer entstandenen – Gasstreits von Anfang 2009 erscheinen. Bezeichnend ist, dass Moskau über Jahre lautstark beklagte, die Ukraine bezöge russisches Gas zu Preisen unter Weltmarktniveau, nun jedoch mit Hilfe des Knebelvertrages von 2009 nicht von einem ukrainischen Gaspreis abgehen mag, der deutlich über demjenigen seiner finanzstärkeren westeuropäischen Partner liegt.

Zum anderen verbinden sich mit den Unterwasserleitungen nicht nur fragwürdige politische Praktiken des Kremls, sondern auch Folgekosten und neue Risiken für Europa. Die mit Baukosten von mindestens USD18 Mrd. veranschlagte South Stream-Pipeline etwa könnte ebenso oder noch mehr von politischer Instabilität in der Schwarzmeerregion bedroht werden, als es der ukrainische Landweg für russisches bzw. zentralasiatisches Gas derzeit ist. Bereits Nord Stream wird nicht nur die Transportinfrastruktur der Ukraine, sondern auch diejenige der Slowakei und Tschechischen Republik sowie Österreichs ungenutzt lassen sowie Investitionen zur Umleitung von Gas von Westen nach Osten nötig machen.

Unklar ist auch, welche künftige Rolle die großen ukrainischen Gasspeicher spielen werden, deren Nützlichkeit sich in klimatischen Extremsituationen gezeigt hat. Sollten diese Speicher aufgrund von Umleitungen des bislang die Ukraine durchquerenden Gases in Zukunft leer bleiben, könnte sich die EU ins eigene Fleisch schneiden. Jonas Grätz verwies darauf, dass bei der Gesamteinschätzung des Ostseeprojektes „zusätzliche Kosten für den Bau von neuen Lagerkapazitäten einberechnet werden müssen, da die Ukraine über hohe Lagerkapazitäten verfügt, die substituiert werden müssten in dem Fall, dass Nord Stream den ukrainischen Korridor ersetzen soll.“

Wie auch immer man die Sinnhaftigkeit und Zuverlässigkeit der neuen Unterwassergasröhren für den Westen einschätzt: Je weniger Russland ukrainische Pipelines für seine Gasexporte in die EU benötigt, desto schwächer wird die gegenseitige Angewiesenheit der beiden Länder aufeinander. Selbst wenn – wonach es derzeit nicht aussieht – die Ukraine demnächst forciert seine Schiefergasvorkommen erschließen sollte, wird für Kiew russisches Gas bis auf weiteres alternativlos bleiben. Sollten die russischen Off-shore-Gasleitungsprojekte vollständig umgesetzt werden, würde sich dagegen Moskau schrittweise von seiner lähmenden Abhängigkeit vom ukrainischen Transportsystem befreien. Bislang drohte jeder Spannungszuwachs in den Beziehungen Russlands zur Ukraine und Belarus damit, die umfangreichen Energietransfers von Sibirien und Zentralasien nach Mittel- bzw. Westeuropa und damit auch die Integrität des russischen Staatshaushaltes sowie Reputation des Kremls als Energielieferant in Mitleidenschaft zu ziehen. Wäre Russland in der Lage, den Großteil seiner westlichen Lieferverpflichtungen auch ohne die beiden „Brudervölker“ zu erfüllen, gäbe es solche Schranken nicht mehr. Dies könnte den Kreml im schlimmsten Fall dazu veranlassen, künftig im ostslawischen Raum ähnlich unbekümmert um die Souveränität seiner Nachbarländer aufzutreten, wie er dies derzeit in Transnistrien, Abchasien oder Südossetien tut.

(Eine ausführlichere Darlegung in dem Aufsatz: Berlin, Kiew, Moskau und die Röhre. Die deutsche Ostpolitik im Spannungsfeld der russisch-ukrainischen Beziehungen. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, H. 3, 2013.)

Andreas Umland studierte Politikwissenschaft in Leipzig, Berlin, Oxford, Stanford sowie Cambridge und ist seit 2010 DAAD-Fachlektor für Deutschland- und Europastudien an der Kiewer Mohyla-Akademie. Er ist Mitglied des Valdai Clubs sowie Deutsch-Ukrainischen Forums und Herausgeber der Buchreihe „Soviet and Post-Soviet Politics and Society“ des ibidem-Verlags. Seine Beiträge erschienen u.a. in der FAZ, Welt, Zeit, Washington Post, Wall Street Journal, Le Monde diplomatique, The National Interest, World Affairs Journal und Harvard International Review.

 

Menschenrechte nur für Westler?

Ein großer Essay von Heinrich August Winkler, der unserer Debatte über Menschenrechte und Außenp0litik die nötige historische Tiefe gibt:

Die ZEIT hat einen Streit vom Zaun gebrochen: einen Streit um Werte und Interessen in der deutschen Außenpolitik. Diese Debatte ist überfällig. Sie zielt auf ein grundlegendes Dilemma aller westlichen Demokratien: das Spannungsverhältnis zwischen ihrem normativen Projekt und der politischen Praxis dieser Staaten auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen. Deutschland ist eine westliche Demokratie, aber es hatte einen langen Weg zurückzulegen, bis es zu einer solchen wurde. Die heutige Kontroverse betrifft also nichts Geringeres als das politische Selbstverständnis einer, historisch gesehen, immer noch jungen westlichen Demokratie.

Im Kern geht es in der aktuellen Debatte um die Frage, ob eine „zu starke Orientierung an historischer Kontinuität und einem überfrachteten Wertediskurs“ die deutsche Außenpolitik daran hindert, „schnell und effizient auf neue Herausforderungen zu reagieren“ (so Eberhard Sandschneider, Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik), oder ob die Absage an ein vermeintliches Übermaß an Moral in der Außenpolitik auf eine unwürdige und zudem zwecklose „Diktatorenknutscherei“ gegenüber Russland und China hinausläuft (so der ZEIT-Redakteur Jörg Lau).

Wenn es um das Russland Wladimir Putins geht, wird aus dem Umfeld des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft immer wieder scharfe Kritik an westlichen und vor allem deutschen Mahnungen in Sachen Menschenrechte geübt. Im Hinblick auf China ist der entschiedenste Wortführer jener Richtung, die westliche Nichteinmischung in Wertefragen für ein Gebot politischer Klugheit hält, der Mitherausgeber der ZEIT, Helmut Schmidt. „Die Menschenrechte sind ein Erzeugnis der westlichen Kultur“, so erklärte der Altbundeskanzler am 2. Mai in der Sendung Beckmann im Ersten Programm des Deutschen Fernsehens. Das Beharren auf der universellen Geltung der Menschenrechte sei eine amerikanische, nicht seine Meinung. „Ich finde, dieser Drang nach Bekehrung und nach Mission ist eine sehr westliche Eigenart[…]. Ich bin dagegen, sich einzumischen in die Angelegenheiten Chinas oder Indiens oder des Irans. Ich bin dagegen, dass die westliche Kultur sich zum Fürsprecher macht […] für die ganze Menschheit und in Wirklichkeit noch nicht einmal im Auftrag von einem Bruchteil der Menschheit redet.“ Weiterlesen? Hier!

 

 

Was der Herbst bringt

Den treuen regelmäßigen Besuchern dieses Blogs schulde ich eine Erklärung.

Ich habe wenig posten und auch selten auf Kommentare reagieren können, weil ich zur Zeit viel unterwegs bin. Die letzten Tage zum Beispiel habe ich auf einer sehr interessanten Tagung in Tel Aviv verbracht (bin noch dort), mit deutschen und israelischen Experten der Region. Weil die Gespräche nicht öffentlich sind, kann ich daraus leider nicht berichten. Die Einsichten der Gesprächspartner werden aber in die Meinungsbildung für künftige Berichte und Kommentare eingehen.

IMG_0109

Tel Aviv, landeinwärts

Die Woche zuvor war ich in Warschau, auch dort bei einer Tagung mit Thinktankern und Diplomaten. Es ging um Deutschland, Russland, Europa und die „sicherheitspolitische Kakophonie“ des Kontinents.

Außerdem – und auch das hat meine Aufmerksamkeit in den letzten Wochen vom Bloggen abgezogen – wird sich für mich beruflich Entscheidendes verändern. Ab dem kommenden Winter werde ich in Hamburg die Koordination der außenpolitischen Berichterstattung der ZEIT übernehmen.

Die meisten Korrespondentenstellen werden neu besetzt, und ich werde die Freude haben, das neue Team zu koordinieren.

Das ist eine herausfordernde neue Aufgabe, von der ich noch nicht weiß, wie sehr sie meine Präsenz hier betreffen wird. Ich habe aber vor, das Blog weiterzuführen, wenn es irgend geht.

Jetzt aber werde ich mich erst einmal für drei Wochen in den Urlaub verabschieden, denn das erste Halbjahr war schön und anstrengend, und ich brauche neue Ideen und Kraft. Dann kommt die Wahl, und danach geht es auf zu neuen Ufern.

Ich wünsche allen einen schönen Sommer, eine frische Brise, springende Fische und krachende Wellen!

IMG_0112

Sonnenuntergang auf der Terasse des Herod’s Hotel, Tel Aviv

 

Warum es keine Intervention in Syrien gibt (und wohl auch so schnell nicht geben wird)

Letzte Woche habe ich in Zürich an einem „NZZ Podium“ bei der Neuen Zürcher Zeitung teilgenommen. Die Debatte wurde eingeleitet vom Reporter und ehemaligen NZZ-Korrespondenten Kurt Pelda, der oft in Syrien und anderen Teilen der arabischen Welt unterwegs war.

Auf sein leidenschaftliches Plädoyer für eine Einmischung in Syrien antworteten die ägyptische Theaterautorin und Dramaturgin Laila Soliman – und ich. Moderiert wurde das Gespräch von dem Leiter des Feuilletons der NZZ, Martin Meyer.

Ich konnte meine vorgefassten Überlegungen nicht alle unterbringen, daher stelle ich sie hier zur Debatte. Den Text von Kurt Pelda kann man hier als Podcast hören.

Es folgen meine Notizen:

Das Plädoyer von Kurt Pelda bringt mich in eine schwierige Position. Ich stimme nämlich weitgehend mit ihm überein.

Da spiele ich lieber den Advocatus Diaboli und versuche zu erklären, warum der Westen nicht interveniert. Ich will erklären, was – jedenfalls aus deutscher Sicht, zu der Haltung führt, die Kurt Pelda beklagt.

Das Wichtigste an seinem Vortrag scheint mir die Pointe: Nichtstun ist nicht kostenfrei.

Nichtintervention ist auch eine Art der Intervention. Sie hat Folgen, die unter Umständen die Folgen einer Intervention in den Schatten stellen können.

Die deutsche Haltung im Libyen-Krieg haben wir in der ZEIT harsch kritisiert. Wir haben auch im Fall Syrien für eine Einmischung plädiert.

Die Regierung und die deutsche Öffentlichkeit hat das allerdings nicht beeindruckt.
Sie lehnen eine Intervention in Syrien mit breiter Mehrheit ab. Und sie sind auch skeptisch gegenüber allem, was unterhalb dieser Schwelle getan werden kann – Bewaffnung von Oppositionellen etwa. Warum?

Ich glaube, dass man die deutsche Positionierung in einem größeren Zusammenhang sehen muss – und das ist die Desillusionierung über den Interventionismus.
Diese Entwicklung überschneidet sich mit dem amerikanischen Rückzug nach der Überdehnung unter George W. Bush.
Und mit der Enttäuschung im gesamten Westen über den Arabischen Frühling. Man hat die Sache eigentlich abgeschrieben: man sieht, wie gesagt, nur neue Formen der autoritären Herrschaft heraufziehen, diesmal islamisch begründet, statt eines erhofften Völkerfrühlings.

Das sind alles gewissermaßen interne Gründe: Revisionen eigener Positionen. Mit einer geostrategischen Abwägung hat das alles noch nichts zu tun. Aber die Wendung nach Innen, die Positionierung aufgrund von Desillusionierung und Erschöpfung im Zeichen der ökonomischen Krise und der außenpolitischen Überdehnung: das ist das Symptom einer Selbstbewußtseinskrise des Westens. Obama ist ihr Repräsentant. (Nicht ihre Ursache, wie manche glauben.)

Sehen Sie sich die amerikanische Haltung im Syrienkrieg an. Obama hattte offenbar gehofft, seine Formulierung von den chemischen Waffen als „game changer“ würde schon per se so viel Druck entfalten, dass eine Eskalation verhindert würde. Aber das war offensichtlich eine Fehlanalyse. Das syrische Regime ist zu der Einschätzung gekommen, dass die Amerikaner nicht handeln werden – es verschiebt die Grenzen darum immer weiter in Richtung Massenvernichtungsmittel. Es setzt sogar Giftgas ein. Es bombardiert ganze Flächen. Die Botschaft an die Aufständischen: Ihr seid ohne Schutz.
Hat Assad vielleicht die richtige Folgerung aus dem Libyen-Einsatz gezogen? Dass dies die letzte Grenze war für den westlichen Interventionismus – von Amerika schon nur noch zögerlich – leading from behind – angeführt?
Dass er also mit keiner Intervention würde rechnen müssen? Obamas Reaktion auf das Überschreiten der „Roten Linie“ legt das nahe: wie ein Anwalt begann er zu relativieren, was er mit dem Wort „game changer“ gemeint habe: nicht Giftgas per se, hieß es jetzt, sondern erst seinen systematischen und massenhaften Einsatz.
Und dass auf die Giftgasnachrichten sofort eine diplomatische Initiative mit Russland folgte, kann man auch in diesem Zusammenhang verstehen: Amerika und der Westen brauchen jetzt die Hoffnung auf eine Verhandlungslösung, um den Druck zur Intervention herauszunehmen.
Das ist der wahre Grund für diese Initiative, glaube ich. Wer kann im Ernst an einen russischen Willen zum Frieden glauben – nachdem Putin ganz offen bekennt, Assad mit Waffen zu beliefern?
Ich verstehe die israelische Bombardierung mitten in Damaskus auch als Versuch, diese syrische Einschätzung zu durchkreuzen: Fühlt Euch nicht allzu sicher. Amerika und Europa mögen kriegsmüde sein, doch unser Kalkül beeinflusst das nicht, wir werden auch alleine für unsere Sicherheit sorgen. Das Signal geht natürlich auch an Teheran und die Hisbollah, beides Parteien im syrischen Krieg.

Das sind die innerwestlichen Gründe für die Nichtintervention. Andere, in der regionalen und globalen geostrategischen Lage verankerten Gründe, kommen hinzu:
Libyen war geradezu ideal für eine Bombenkampagne – wenig besiedelt, alle Siedlungsräume konzentriert an der Küste, Rebellen- und Regime-Gebiete gut geschieden. Syrien aber ist dichtbesiedelt und grenzt an Libanon, die Türkei, Israel, Irak und Jordanien.
Und anders als im libyschen Fall stehen hier Russland, China und Iran auf der einen Seite, Katar und Saudi-Arabien und die Arabische Liga auf der anderen. Eine Intervention unter UN-Mandat (wie auch in Mali) mit der Begründung der Schutzverantwortung (R2P) wird es also nicht geben. Und das, obwohl es hier noch dringender wäre. Man bräuchte also einen politischen Willen wie seinerzeit im Kosovo, und den gibt es derzeit nicht.
Die ganze Geschichte der Interventionen seit dem Kosovo-Krieg ist mittlerweile als Schlag ins Wasser abgespeichert. Was Kosovo betrifft, ist das ungerecht. Aber es fällt der Schatten der späteren Interventionen darauf – Afghanistan und Irak –, die heute beide als Beispiele westlicher Hybris gelten. Regime stürzen ist schnell gemacht, aber dann beginnen erst die Probleme. Aus dem Kalten Krieg und dessen Ende in Osteuropa hatte man die Vorstellung mitgebracht, wenn die „schlechte Herrschaft“ erst weg ist, komme die „gute Gesellschaft“ darunter zum Vorschein. Doch in Irak und Afghanistan zeigte sich, dass Stammesverbände und religiös-ethnische Konfliktlinien stärker sind als die importierten neuen demokratischen Strukturen.
Hat man das in diesen beiden Fällen erst schmerzhaft lernen müssen, so scheint es im syrischen Fall von vornherein auf der Hand zu liegen. Niemand traut sich zu, für eine Nachkriegsordnung in diesem komplizierten Land Verantwortung zu übernehmen. Die Konsequenz davon ist, dass man dieses Land in einem ganz wörtlichen Sinn ausbluten lässt. Ob die jüngsten Gräuel das ändern werden, da habe ich meine Zweifel.

Was die Kämpfer der Nusra-Front betrifft, kann ich nur hoffen, dass Sie, lieber Herr Pelda, mit Ihren Beobachtungen Recht behalten.
Ich bin allerdings skeptisch ob man daraus, dass Ihnen zum Glück nichts angetan wurde, auf die wahre Natur dieser Gruppe schließen kann. Vielleicht sind diese Leute ja auch einfach klug genug zu wissen, wann sie eine gute Presse im Westen brauchen – oder jedenfalls keine schlechte brauchen können, damit Geld und Waffen weiter fließen?

Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass diese Kräfte nach einem Sturz des Regimes die Oberhand behalten werden. Das passt nicht zur Mehrheit in Syrien, auch nicht unter den Sunniten. Aber ich kann mir ebenfalls nicht vorstellen, dass diese Leute nach getaner Arbeit nicht die Dividende einstreichen wollen in Form einer Herrschaft nach ihrem islamischen Vorstellungen.
Und sie werden eine hohe Legitimität haben, durch ihre Opfer im Kampf gegen Assad. Ihre Idee einer Wiedererrichtung des Kalifats wird sie zu Feinden jeder moderaten, inklusiven neuen Regierung machen. Das heißt, der wahre Bürgerkrieg könnte noch kommen. Er wird einer sein zwischen Vertretern eines moderaten, inklusiven Islams und den Kalifatskämpfern.

Und das ist vielleicht eine der interessantesten Folgerungen des „Arabischen Frühlings“: Er hat einen Kampf um die Vormacht innerhalb des politischen Islams entfacht. Nicht zwischen Säkularen und Religiösen, sondern zwischen Muslimbrüdern und Salafisten, zwischen Salafisten und Dschihadisten, zwischen Schiiten und Sunniten, zwischen national-islamischen Befreiungsbewegungen wie Hamas und globalen Terrorgruppen wie Al-Kaida, zwischen staatsbasiertem Islamismus mit Öl und Gas wie in Saudi Arabien und Katar und mittelständischen Bewegungen wie Nahda, Muslimbrüdern und der türkischen AKP.
Es hängt auch für uns einiges davon ab, wer gewinnt. Darum plädiere ich nicht fürs Raushalten. Aber Einmischung ist auch eine verdammt komplizierte Sache geworden.